Wir kennen ihn nun schon seit über einem Jahr. Er ist nicht sehr groß für einen Mann. Wenn er spricht, halten seine Hände einander fest. Sein Blick sucht nach Zuspruch – für das, was er sagt, und noch mehr dafür, dass wir ihn überhaupt erst sprechen lassen, dass er hier sein darf.
Zuletzt, es war Anfang Dezember an einem der Tage, an dem der gefrorene Raureif auch am Mittag noch Bäume und Gärten bedeckt; zuletzt rief er an und sagte, er wolle nicht stören, es sei ihm wirklich sehr unangenehm, aber ob jemand kommen könne. Es gebe da eine Sache in der Wohnung, eigentlich schon länger, aber jetzt gehe es nicht mehr. Es tue ihm leid, diese Umstände zu bereiten – aber ob wir mal schauen könnten.
Ich fahre hin. Er wohnt gemeinsam mit seiner Mutter auf 55 Quadratmetern, er ein Zimmer, sie ein Zimmer sie, dazu eine kleine Küche. Die Wohnung ist zu klein für zwei Personen, noch dazu für einen jungen Mann Anfang 20, der seinen eigenen Weg gehen möchte. Aber die Umstände sind, wie sie sind.
Wir begrüßen uns. Die Mutter trägt heute kein Kopftuch; ich bin eine Frau, da braucht sie keins. Ich sehe sofort den Schimmel in den gegenüberliegenden Zimmern, jeweils die Außenwände, flächig in den Ecken. Das ist nicht schön, gar nicht schön.
„Gut, dass Sie angerufen haben“, sage ich zu ihm.
„Ich möchte nicht … keine Umstände“, sagt er, von einem Fuß auf den anderen tretend. Das Wort „Umstände“ kennt er, außerdem Wörter wie „Genehmigungsverfahren“, „Gesamtgeltungsdauer“ und „Ermessensentscheidung“. Ich selbst schaffe es kaum, mir „Danke“ und „Guten Tag“ auf Arabisch zu merken.
Wir besprechen die Lage. Er hat vorher Vokabeln gelernt: „Schimmel“ und „Tapete“, „Fensterscheibe“ und „Luftzug“; man merkt, dass er die Wörter zum ersten Mal ausspricht. Doch wir verstehen uns. Er spricht überhaupt gut Deutsch, jetzt, nach nur einem Jahr schon; und ich merke: Er lernt auch in diesem Gespräch. Sein Körper richtet sich mit jedem Nicken, dass ich ihm gebe, auf. Sein Blick wird wach und wacher. Wir klamüsern das aus, und ich telefoniere nochmal kurz mit einer Freundin. Sie macht Wasserschadenssanierung. Ich schicke ihr Fotos und schildere die Lage.
„Na sowas“, sagt sie. „Genau dein Problem war letztens erst Thema auf den Schimmelpilztagen!“
Ich denke: Schimmelpilztage. Was bitte ist das für ein Name für einen Kongress? Mein Name ist Lohse, ich besuche die Schimmelpilztage. Möchten Sie meine Pilzkollektion sehen? Ich habe hier 28 Schimmelpilze in jeder Qualität, da ist bestimmt auch einer für Sie dabei.
„Die haben“, sagt meine Freundin, „da unten ja ’ne ganz andere Bausubstanz. Das ist alles nicht so gedämmt. Und dann das andere Klima. Ist jetzt ganz viel Thema unter den Kollegen. Viel Schimmel. Auch in den Heimen. Ich schick Dir mal so’n Infoblatt. Sind die Wände denn trocken, hast du gemessen?“
Die Wände sind trocken. Wir checken noch ein paar andere Kriterien ab, gehen Maßnahmen durch. Nachdem wir aufgelegt haben, bespreche ich alles mit ihm. „Ich helfe!“, sagt er entschlossen. „Natürlich! Ich helfe! Was machen?“ Ich erkläre es ihm.
Als ich gehen möchte, steht seine Mutter plötzlich mit einem Kaffeetablett im Wohnzimmer. Ich weiß: Ihr ging es sehr schlecht, als sie nach Deutschland kam. Ihr Mann ist gestorben, totgebombt im eigenen Haus. Ihre Gesundheit ist angeschlagen. Sie hat oft Schmerzen. Nur der Bruder und der Sohn sind ihr geblieben. Der Sohn, der seit einem Jahr lernt und lernt, Deutsch und den Alltag im fremden Land, weil er sich sein eigenes Leben aufbauen möchte, weil er fort möchte aus der Enge mit ihr, seiner Mutter, die ihn am liebsten niemals mehr loslassen möchte. Es ist nicht einfach.
Ich lehne die Kaffee-Einladung ab, doch ich sehe sofort die Enttäuschung in ihrem Gesicht. Also bleibe ich noch. Wir setzen uns ins Wohnzimmer.
„Sehr gut“, sage ich und deute auf den Kaffee. Ich sage es nicht aus Höflichkeit. Der Kaffee ist wirklich außerordentlich lecker: ein Geschmack, rund und voll, aber nicht bitter.
„Arabischer Kaffee“, übersetzt der Sohn die Erklärung seiner Mutter. „Ist besser als deutsche.“ Sogleich zuckt er zusammen, hebt die Hände. „Deutsche Kaffee auch gut!“, sagt er hastig. „Sehr gut, deutsche Kaffee!“
„Nein“, sage ich. „Filterkaffee schmeckt nicht. Da habt ihr Recht. Aber der hier“, ich hebe die Tasse an, „ist sehr lecker.“ Seine Hände sinken erleichtert herab. Ich lasse mir weiter den Unterschied zwischen Kaffees erklären, dann schweift das Gespräch ab zu anderen Dingen, zum Wetter, zur Lage in Damaskus; darüber, wie gerne er mehr Kontakt zu Deutschen hätte; über die Schwierigkeiten, Arbeit zu finden – oder eine Lehrstelle oder ein Praktikum als Installateur. Als ich gehe, nimmt die Mutter meine Hand und drückt sie mit ihren beiden, warmen Händen.
Seither ließ sie mir schon zweimal ausrichten, wie toll doch der Nachmittag gewesen sei. Wir haben jetzt beschlossen, dass wir mal gemeinsam kochen, deutsch-syrisch. Damit ich nicht nur den Kaffee kennenlerne.
Der Schimmel ist übrigens weg, und neu tapeziert ist auch. In Gemeinschaftsarbeit, mit kleiner Lerneinheit zu Lüftung und Dämmung. Bis jetzt ist alles prima.