Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Archiv der Kategorie »Expeditionen«

Ein Ausflug nach Den Haag: Kunst in Öl, Stahl und Silikon – dazu Appeltaart

21. 10. 2024  •  4 Kommentare

Menschen und Meister | Womit beginnen? Vielleicht mit den Menschen aus Fieberglas und Silikon. Oder mit den furchtbar hässlichen Bauten am Strand. Oder mit der Kreuzung vor dem Haus im Statenkwartier, an der sich alles von selbst regelte.

Ach, lassen Sie mich mit den Alten Meistern beginnen. Die hingen im Mauritshuis, dem Adelspalais mit der Königlichen Gemäldegalerie.

Vor den Alten Meistern standen Jungs in der Zentralpubertät: Buzzcut, Sneaker, Goldkettchen, übergroße Sweatshirts. Vor ihnen hingen nicht nur Rembrandt und Vermeer, vor ihnen stand auch der Museumführer, ein Mann in den Dreißigern mit Vokuhila, Schnurrbart, knallbuntem Pulli, volltätowierten Armen und Tunneln in den Ohrläppchen – ein Mann mit Street Credibility bei der Jugend. Er gestikulierte und dirigierte die Gruppe: Die Jungs sollten sich umdrehen und an Teile des Bildes erinnern, sie mussten raten und wurden hineingezogen in die Geschichte einer Leichenschau. Es war nicht weniger als ein kleines Wunder: Die Jungs hörten zu und stellten Fragen. Und der Museumführer erzählte mit dem Tonfall eines Gangsta Rappers und der Leidenschaft eines Kunsthistorikers. The kids are alright, wenn wir uns ein bisschen bemühen.

Tags zuvor waren wir in einem anderen Museum, dem Museum Voorlinden in Wassenaar. Wir fuhren mit dem Fahrrad dorthin: Waassenaar liegt etwa zehn Kilometer von Den Haag entfernt. Der Reiseleiter fuhr mit dem eigenen Rad. Er war mit ihm bis nach Den Haag geradelt – in zwei Tagen, 250 Kilometer. Ob ich auch radlen wolle, hatte er mich Wochen zuvor gefragt. 120 Kilometer radfahren, schön und gut, sagte ich, aber doch nicht zwei Tage hintereinander und nicht im Oktober bei neun Grad. Nein, antwortete ich, das könne er gerne alleine tun. Ich fuhr mit dem Zug.

Weil ich kein eigenes Fahrrad vor Ort hatte, musste ich mir eins mieten. Das mache ich immer ungern, weil ich diesen Körper habe, der lang und unproportional ist, mit viel Bein und einem kurzen Oberkörper. Ich ging zu einem Fahrradverleih, der mir sein größtes, aber dennoch winzig kleines Fahrrad lieh. „Ich komme mir vor wie auf einem dieser Pucky-Kinderräder“, sagte ich, während ich mit Knien an den Ohren hinter dem Reiseleiter durch die Dünen eierte. „So siehst du auch aus“, meinte er aufmunternd und schaltete auf seinem neuen fancy Gravel-Bike einen Gang runter, damit ich hinterherkam.

Das Museum Voorlinden stellt aktuell Ron Mueck aus, dessen Plastiken ich aus Aarhus kannte. Deshalb wollte ich unbedingt nach Voorlinden; die Figuren sind ein einmaliges Erlebnis. Man denkt, sie wollten jederzeit aufstehen und zu leben beginnen; erst würden sie einem zuzwinkern, dann sanft die Finger bewegen, dann sich stöhnend strecken, verspannt vom langen Stillhalten. Alles ist fesselnd an diesen Figuren: die Hände, die Füße, Hautfalten, Muttermale, Alterswarzen und Narben, winzige Haare auf dem Körper, dazu der Blick, die Banalität der Körper, die profanen Erscheinungen jenseits von Schönheitsnormen. Dazu erzählt jede Plastik eine Geschichte. Das Paar unter dem Sonnenschirm zum Beispiel: Warum trägt sie einen Ehering, der sich schon in die Haut eingegraben hat – und er keinen? Geht sie fremd mit ihm? Oder trägt sie den Ring als Andenken an ihren verstorbenen Mann und hat ein schlechtes Gewissen gegenüber dem Toten – jetzt, wo sie sich sachte auf etwas Neues einlässt? Vielleicht sind es auch nur zwei Freunde, die unter dem Schirm sitzen, innig, aber platonisch. Oder gar Bruder und Schwester. Aber warum greift er dann so fest ihren Arm?

Beeindruckend auch Richard Serras Skulptur Open Ended: vier Meter hoch, 18 Meter lang, 216 Tonnen schwer. Man geht hinein und denkt, nach einer Kurve gehe es wieder hinaus. Aber die Skultur windet sich, man wendet sich, ein diffuses Gefühl von Angst kommt auf – und gleichzeitig eine kribbelige Faszination. Wunderbar.

Eine Frau vor eine sehr grißen Skultur von ineinander geschachtelten Eisenwänden

Immer dort: der Swimmig Pool von Leandro Erlich, exklusiv desgint für Voorlinden. Der meist ge-instragrammte Ort des Museums.

Vanessa in einem künstlichen Pool. Es  sieht aus wie unter Wasser

Museum Voorlinden – meine uneingeschränkte Empfehlung (und die Appeltaart im Café ist auch gut).

Von bemerkenswerter Hässlichkeit ist Scheveningen, direkt westlich von Wassenaar. Fragt man ChatGPT, warum das so ist, bekommt man die Antwort:

Es gibt auch viele, die die Strandpromenade und die Aktivitäten dort schätzen. Schönheit liegt oft im Auge des Betrachters! 

Eine KI mit tadelndem Blick, soso. Verhungern tut man dort jedenfalls nicht: Imbisse reihen sich an Restaurants, an Büdchen und an Bars. Wenn man ein Appartment in einem dieser Hochhäuser hat, im zehnten oder zwölften Stock, ist das bestimmt schön: Man hat eine tolle Aussicht aufs Meer – und sieht außerdem man den Betonklotz nicht.

Wir wohnten im Statenkwartier, in komfortabler Radelentfernung zwischen Zentrum und Scheveningen in einem Appartment, in dem ich mich fühlte wie bei Downton Abbey. Genau genommen war es auch kein Appartment, sondern es waren zwei Zimmer in einem Stadthaus. Wir fragten uns, wie hier wohl einst gewohnt wurde: Oben das Personal, darunter die Kinder, im Erdgeschoss die Küche? Wo waren Salon und Bibliothek? Ich muss das gar nicht unbedingt wissen; es war ausreichend, gedanklich die Möglichkeiten durchzuspielen und wie in einem Puppenhaus Möbel und Figuren zu schieben.

Wohnung im Statenkwartier: Wohnraum mit Fensterfron, einem Ledersofa, einem Esstisch und einer Kommode. Es sieht alles sehr nach Anfang des 20. Jahrhunderts aus.

Vor dem Haus befand sich eine Kreuzung: eine Spur Richtung Norden, eine Spur Richtung Süden, dazwischen ein breiter Gründstreifen mit Bäumen, die Straße gepflastert. Von West nach Ost verläuft die Frederik Hendrikslaan, eine Einkaufsstraße mit viel Fahrrad- und etwas Autoverkehr. Auf der Kreuzung war ein munteres Miteinander verschiedener Verkehrsmittel: Autos, Busse und Fahrräder, Lastenräder und Transporter, Fußgänger und Rollerfahrer. Die Grundregel war Rechts vor Links – auf dieser Basis einigte man sich, nickte sich zu, winkte sich durch und achtete einander. In Deutschland hätte man sofort und reflexhaft eine Ampel installiert, eine ordnende Lichtsignalanlage, die das Durcheinander organisiert, zur Sicherheit aller, vorsichtshalber, in jedem Fall regelkonform.

Was auf der Kreuzung vor dem Haus funktionierte, war das Gefühl überall auf den Straßen: Alle sind gleichberechtigt, man achtet sich, ist nachsichtig.

Zum Abschluss noch etwas Herbst.

Allee aus Bäumen, es stehen Bänke am Rand. Der Boden ist voller Laub.

Kaufrausch | In den Niederlanden bin ich zuverlässig Opfer von Buchläden und ihrem hervorragend kuratierten englischsprachigen Sortiment.

Fünf Bücher: Tell Me Everything (Elizabeth Strout), Less is Lost (Andrea Sean Greer), Same as is ever was (Claire Lombardo), The Trouble with Goats and Sheep (Joanna Cannon) und Eligible (Curtis Sittenfeld)

Außerdem mitgebracht: Vanilleskyr. Nicht der von Arla, sondern der isländische.


Gelesen | Adriana Altaras: Besser allein als in schlechter Gesellschaft. Die Geschichte von Tante Jele, die das Konzentrationslager überlebte und später ihren Mann, die ihre norditalienische Schwiegermutter überdauerte, die kein Gehör mehr hat, aber immer einen guten Ratschlag, die in Zagreb aufwuchs und in Mantua lebte. Eine historisches Leben, allerdings etwas verworren erzählt, mit einigen Redundanzen.

Gelesen | Gina Mayer: Die Schwimmerin. Es ist 1962, Betty zieht mit ihrem Mann Martin in eine eigene, kleine Wohnung. Sie gibt die Arbeit auf, Familiengründung steht an. Parallel wird die Bettys Jugend erzählt: der Zweite Weltkrieg, die Flucht aufs Land, das Dasein als Außenseiterin, die erste Liebe. Gerne gelesen.

Gelesen | Jane Campbell: Bei aller Liebe, aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Eine kleine Geschichte über Agnes, ihren Onkel Malcolm und ihren Therapeuten Joseph. Malcolm nimmt sich vor, ein Geheimnis zu lüften. Agnes erholt sich gerade von einer Affäre. Und Joseph freut sich, seine Klientin Agnes wiederzusehen, die ihm einst viel bedeutet hat. Sehr gern gelesen.

Buch "Bei aller Liebe" mit einem eingerollte Igel auf dem Cover neben einem Glas Wein, einer Kerze, Knabberzeug und einem Lesezeichen.

Gesehen | Lee, im Kino in Den Haag. Der Film erzählt das Leben der Fotografin Lee Miller (Kate Winslet), die bei der Befreiung Frankreichs von den Nazis dabei war und die Befreiung der Konzentrationslager Dachau und Buchenwald dokumentierte. Ich kannte Lee Miller vorher nicht. Erhellend und beeindruckend.

Gelesen | Frau Herzbruch wollte ihre Heizung klimafreundlich sanieren und außerdem Wohnraum schaffen – und scheiterte. Jetzt gibt es erstmal eine neue Gastherme.

Gehört | Geschichten aus der Geschichte: Die Erfindung der Lochkarte, die Anfänge der automatisierten Datenverarbeitung und die Gründung von IBM.

Gelesen | Ulrich Stock schreibt darüber, wie seine Tochter erwachsen und selbstständig wird [€] – auf eine Art und Weise, die ihm einiges abverlangt. Habe mich gut amüsiert.

Gelesen | Herr Giardino urlaubt auf der Isle of Mull.


Leser:innenfrage | Eine Frage aus der unverbindlichen Themen-Vorschlagsliste: „Wie wichtig sind Nachbarinnen und Nachbarn?“

Ich kenne keine Studien dazu, deshalb kann ich die Frage nicht grundsätzlich, sondern nur für mich persönlich beantworten. Ich habe gerne Nachbar’innen. Ich hatte schon viele sehr sympathische Menschen neben, unter und über mir wohnen, alte und junge Menschen, Menschen vieler Nationen, darunter auch freundliche Deutsche – Leute, mit denen ich Fußball geschaut habe, die mir geholfen haben, denen ich helfen konnte.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Man muss nicht dick Freunde werden, aber es ist doch wunderbar, wenn man mal eben anklingeln kann, weil Sonntag ist und man ein Päckchen Backpulver braucht oder weil man jemanden sucht, der im Urlaub den Briefkasten leert; jemand, der eventuell weiß, warum auf dem Feld nebenan letztens Vermessungsgeräte standen; jemand, zu dem man rüberlaufen kann, wenn ein Notfall eintritt – und der’die vielleicht sogar so sympathisch ist, dass man zweimal im Jahr eine Limo miteinander trinken mag.

Nachbar’innen zu haben, gibt mir das Gefühl von Zugehörigkeit und Sicherheit.


Schweine | Während der Reiseleiter und ich in den Niederlanden weilten, waren die Schweine in der Obhut meines Vaters und meiner 82-jährigen Tante. Sie – also der Vater und die Tante – hüteten Haus und Stall und nutzten die Zeit, um dem lokalen Handel und der örtlichen Gastronomie Gutes zu tun.

Die Schweine, sie hängen nicht an Personen. Ihre Liebe gilt einzig der Nahrung, nicht der Quelle.

Schwein reckt sich nach oben und hangelt mit geöffnetem Maul nach Kräutern im Topf.

Die letzten Tage in Skagen, Rückreise mit royalen Eierbechern, nun Akklimatisierung

31. 07. 2024  •  8 Kommentare

Die Zeit, ein sanfter Fluss | Ich bin zu Hause und habe noch Urlaub. Das ist ein wunderbarer Zustand. Ich lebe in den Tag hinein, schwimme, fahre Rad, pruschele im Garten herum oder liege auf der Terasse und lese.

Terasse mit vielen Blumen in Töpfen, darüber ein großer Sonnenschirm und ein Liegesofa

Dazu Olympia! Ich liebe die Kombination Sommer plus Olympische Spiele plus frei haben. Das perfekte Entspannungsprogramm.

Ich schaue mir Randsportarten an. Judo und Skateboard zum Beispiel, sehr interessant. Oder Wasserspringen; bei den Synchronwettbewerben kann man auch als Laie gut erkennen, wie gelungen das Dargebotene ist, dazu die Drehungen und Überschläge – famos! Am besten einnicken kann ich beim Reiten; das Hufgetrappel, Wahnsinn, ein Blutdrucksenker. Auch Tennis und Tischtennis – *plok plok plok plok plok … *plick plick plick plick plick …

Nach einer Woche reinen Müßiggangs beginne ich außerdem langsam mit meiner Wiedereingliederung: Gestern habe ich eine Stunde E-Mails beantwortet, morgen werde ich zwei Stunden arbeiten, Freitag drei Stunden. Nächste Woche nähere ich mich irgendwann der Vollzeit, werde das aber vom Wetter abhängig machen. Nichts überstürzen.

Es ist nun außerdem Zeit, entspannt die Dinge zu tun, die ich sonst irgendwie dazwischenquetschen müsste: Gesundheits-Check-up, Hautkrebs-Screening, Impfstatus optimieren, Friseur, Steuererklärung, Winterwolldecken durchwaschen.


Kaltakquise | Seit ich wieder zu Hause bin, fuhr ich zweimal mit dem Rad in die Stadt. Beide Male nahm mir an derselben Stelle ein Leichenwagen die Vorfahrt. Man könnte ein Geschäftsmodell vermuten.


Die letzten Reisetage | Lassen Sie mich noch von den letzten Tagen in Dänemark berichten. Nachdem wir in Skagen angekommen waren, verbrachten wir noch drei Tage dort und einen Tag in Süddänemark, in Kolding.

Der erste Weg in Skagen führte an die Nordspitze nach Grenen – dorthin, wo Nord- und Ostsee aufeinandertreffen. Wie schon beim ersten Besuch finde ich es faszinierend, wie deutlich man das sieht.

Während wir im Oktober 2021, als wir erstmalig mit dem Rad nach Skagen fuhren, fast allein an dieser Stelle standen, waren wir diesmal Teil einer großen Bewegung. Menschen in Schuhen und Schlappen, barfuß, mit Kindern und ohne Kinder, mit Hunden, manche in T-Shirts, andere in Schals und Steppjacken – alle marschierten sie zur Nordspitze Dänemarks, um dort mit den Füßen im Wasser zu stehen und Fotos zu machen.

Gleichzeitig fuhr ein Trecker mit einem Planwagen diejenigen, die nicht laufen konnten oder laufen wollten, durch den Sand. Er spuckte sie aus, es war Zeit für ein Foto, dann stiegen die Leute wieder ein.

Wir waren an diesem Tag also Mitglieder einer Völkerwanderung, Teil des touristischen Overkills. Denn natürlich standen auch wir mit den Füßen in beiden Meeren und machten Fotos.

Der Grund, warum in Skagen so viel los war, war nicht nur, weil es dort schön ist, sondern weil wir die Kalenderwoche 29 hatten.

If you’re someone who enjoys a calm and peaceful atmosphere, it’s best to steer clear of visiting Skagen during week 29.

The Soul of Denmark

In Kalenderwoche 29 fallen reiche Leute aus Kopenhagen in Skagen ein, vor allem junge Menschen. Sie fahren in teuren Autos durch die Stadt, trinken Alkohol und haben, nun ja, Spaß. Sie nennen es „Hellerup“. Wir wussten von alldem nichts, bis wir dort ankamen.

During Week 29, otherwise called Hellerup week, wealthy youngsters all flock to Skagen in their million kroner cars and expensive boats for a week of fun, loud music, and heavy drinking – there is not much tranquility during this time. On the other hand, if you like looking at super fancy cars, this is a perfect time to visit. Why is it called Hellerup Week? Hellerup is an upscale area in Copenhagen, home to embassies and luxurious houses. Young people living there picked a week to go to summer houses together to have fun. Not coincidentally, the zip code to this area is 2900. Hence, week 29 became Hellerup week.

The Soul of Denmark

Unsere Gastgeberin in Mitteljütland hatte das Phänomen schon mit den Worten „Porsche, Polo-Shirt, Pullover über den Schultern“ anmoderiert. Das traf es ganz gut. Ich beobachtete außerdem, dass mindestens ein Kleidungsstück weiß sein musste, entweder die Hose (bei den Herren) oder die Bluse (bei den Damen), wenn man nicht gleich ganz in Weiß ging, die Damen in äußerst knappen Kleidern.

Wir wohnten im Danhostel Skagen. Mit uns auch Hellerup-Reisende. Das Danhostel war so vorausschauend, Familien und Party-Jugend getrennt voneinander unterzubringen, die Familien im Erdgeschoss, die Partyjugend im Obergeschoss und in einem Nebengebäude. Dennoch waren die Hellerupper:innen allgegenwärtig. Allabendlich durchzogen Parfum- und Deodorant-Wolken das Haus. In den Bädern, auf den Fluren und in der Küche wurden Zähne geputzt, Haare gerichtet und Nägel lackiert. Vorglühen im Hof, in der Gemeinschaftsküche, in den Gängen. Dann ging es hinaus in die Nacht. Ich beobachtete das Treiben mit einer gewissen Reminiszenz und war gleichzeitig froh, nicht mehr Teil dieser Unternehmung sein zu müssen. Ach, was war das damals alles anstrengend.

Wir erlebten Skagen vor allem tagsüber, badeten am Strand, besuchten die versandete Kirche, das Bunkermuseum und das Skagen Museum. Letzteres stellt Werke der Skagen-Maler und -Malerinnen aus.

Faszinierend an den Gemälden: Die Skagen-Maler malten oft Menschen, die es wirklich gab. Deren Namen standen dann neben dem Bild. Nahbare Kunst.

Besonders beeindruckend: Die Männer von der Kopenhagener Börse.

Ölgemälde mit fünfzig Männern in schwarzen Anzügen in Zylindern. Sie stehen in Gruppen beieinander in einem herrschaftlichen Raum.

Im Jahr 1892 kam der dänische Ingenieur und Geschäftsmann Gustav Adolph Hagemann auf die Idee, die einflussreichsten dänischen Geschäftsmänner auf einem Gemälde zu vereinen. Es sollte öffentlichkeitswirksam in der Kopenhagener Börse hängen. Hagemann brachte direkt eine Finanzierungsidee mit: Wer auf dem Bild repräsentiert sein wollte, bekam für 500 Kronen einen Platz in der vorderste Reihe und für 300 Kronen einen Platz in der Mitte. Für 100 Kronen landete man im Bildhintergrund.

Hagemann wandte sich an den Maler Peder Severin Krøyer. Krøyer hatte es bei der Anfertigung des Bildes nicht leicht: 50 Herren griffen in ihre Schatullen, darunter – um nur ein Beispiel zu nennen – der rotbärtige Herr vorne rechts; das ist Philip Heyman, der Gründer der Tuborg-Brauerei (die übrigens im Hafen von Hellerup, siehe oben, gegründet wurde). Der Maler musste also 50 Männer platzieren, abhängig von dem Preis, den sie gezahlt hatten, und unter Berücksichtigung ihrer Befindlichkeiten. Gleichzeitig sollte das Bild die Beziehungen, Allianzen und Konflikte der Geschäftsmänner zeigen. Dünnes Eis! Krøyer vollendete das Werk nach nur drei Jahren, 1895. Es hing lange in der Kopenhagener Börse, bis es ins Skagen Museum kam.

Panoramabild des Strandes, die Sonne ist untergegangen, ein Haus steht im Sand

Am letzten Abend: Sonnenuntergang an der Westküste.

Nicht auf dem Bild: die Mückenschwärme, die uns auf unserem Weg zurück durch die Dünen begleitete. Nur, wenn wir uns im Stechschritt (haha, Wortspiel!) bewegten, hatten wir eine Chance.

Am Tag darauf machten wir uns auf dem Heimweg. Wir fuhren nicht in einem Rutsch nach Hause, sondern zunächst mit dem Zug nach Kolding, in Süddänemark. Dort übernachteten wir noch einmal. Mit fünf Fahrrädern, drei Kindern und zehn Gepäcktaschen wollten wir beim großen Bahn-Bingo das Risiko gering halten.

In Kolding besuchten wir noch das Koldinghus, ein dänisches Königsschloss. Mir war sofort sehr royal zumute.

Im Museumsshop kaufte ich königliche Spültücher. Ich werde mich bei der Hausarbeit nun sehr hoheitsvoll fühlen (und der Reiseleiter auch, es durchdringt ihn nur noch nicht so wie mich).

Noch eine Anmerkung für die Abteilung #bildungsblog: Ein Herr Oeder, seine Zeichens Arzt und Botaniker, begann Ende des 18. Jahrhunderts damit, die dänische Pflanzenwelt zu dokumentieren und malte Pflanzen auf Karten. Er nannte die Dokumentation Flora Danica. Dem dänischen Kronprinz und späteren König Friedrich VI. gefiel die Sammlung. Er bestellte ein Speiseservice mit den Motiven der Flora Danica: Teller, Tassen und Servischüsseln, auf denen Pilze, Stauden, Blumen, Gräser und Gestrüpp zu sehen sind.

Zum Service gehören auch Eierbecher, und hier möchte ich auf ein Kuriosum hinweisen, das Ihnen, sollten Sie mal bei „Wer wird Millionär?“ auf dem Stuhl sitzen, möglicherweise zu Reichtum verhilft: Die Deutschen – oder das, was damals deutsch war – aßen ihr Ei gerne liegend (das Ei lag, nicht der Esser), während Franzosen (und sicherlich auch Französinnen) ihr Ei lieber verzehrten, wenn es stand (Begründungen gab es dazu keine). Die königlich-dänischen Eierbecher waren deshalb so gestaltet, dass sowohl dem deutschen als auch dem französischen Gast genüge getan war.

Zwei königliche Eierbecher mit je einem Ei: einmal liegt es, einmal steht es.

Mit diesem Wissen setzten wir uns in Kolding in den Zug und fuhren nach Hause.


Gelesen | Mario Giordano: Die Frauen der Familie Carbonaro. Die weibliche Sicht auf Terra Sicilia, das mir gut gefallen hat. Die ersten 200 der über 500 Seiten begeisterten mich zunächst nicht. Die Handlung doppelte sich sehr mit dem ersten Buch, die Sicht der Frauen brachte keine neuen Erkenntnisse und schien mir eher halbherzig umgesetzt. In der zweiten Hälfte des Buches kam dann Schwung rein: Die Charaktere gewannen an Tiefe, die erzählte Zeit geht über Terra Sicilia hinaus. Insgesamt also ein durchwachsenes Fazit; dem Autor scheint die männliche Perspektive besser zu liegen.

Gelesen | Carmen Korn: Zeiten des Aufbruchs. Der zweite Teil der Trilogie; er beginnt nach dem Zweiten Weltkrieg und umspannt die Jahre 1949 bis 1969. Wie auch im ersten Teil wechseln die Perspektiven flott; die Handlung fließt zügig. Mitunter wirkt das Unterbringen historischer Ereignisse oder zeitgenössischer Kultur etwas gewollt: Das Fernsehen hält Einzug, Bücher und Musik erleben eine neue Blüte, Titel und Sendungen werden heruntergebetet. Insgesamt aber eine gefällige Urlaubslektüre.


Schweine | Die Schweine sind wohlauf.

Drei Meerschweine in einer Blumenwiese

Eine Radreise durch Dänemark: Von Bonderup bis an die Nordspitze nach Skagen

25. 07. 2024  •  2 Kommentare

Bonderup – Uggerby | Ich erwachte mit einem seltsamen Gefühl. Lichtschein drang durchs Fenster, draußen Vogelgezwitscher und … nichts. Kein Rauschen, kein Prasseln oder Brausen – nicht einmal ein Tröpfeln. Auch kein Fieseln, kein stummes Nieseln. Sondern: Sonnenschein.

Eine Wiese mit zwei Bäumen. Eine Rose rankt an einem hölzernen Tor empor. Rechts ein Stall aus Backsteinen. Sonne, blauer Himmel.

Küche und Badezimmer rochen leicht nach nassem Hund. Überall trockneten Wäsche, Schuhe und Helme. Gleichzeitig roch es nach Kaffee und frischen Brötchen: Der Reiseleiter war schon tätig geworden.

Als wir das Haus verließen, war es, als seien die Heuschrecken über unseren Gastgeber hereingefallen. Denn wir hatten sein Angebot angenommen, gut gefrühstückt und uns Brote für die Fahrt geschmiert, schließlich gab es weit und breit – in Fahrradentfernung gemessen – keinen Supermarkt.

Die nachfolgende Fahrt nach Aalborg ging so schnell, dass wir es alle kaum glauben konnten. In zwei Stunden und vierzig Minuten glitten wir bei Sonnenschein und Rückenwind durch Korn- und Kartoffelfelder, ohne Hügel, nur geradeaus, 47 Kilometer. Es war eine Wonne.

Für dieselbe Distanz hatten wir tags zuvor das Doppelte an Zeit gebraucht, und jetzt war alles ganz leicht.

Die Klappbrücken von Aalborg begrüßten uns mit offenen Armen. Wir segelten in die Stadt hinein, frei von Regenhosen und Kükenponcho und beflügelt davon, nach Tagen der Landpartie eine große Stadt zu sehen. Wir saßen am Limfjord und schauten uns die Menschen an. Wir schoben die Räder durch die Stadt, durchwanderten Altstadtgassen und eine Drogeriekette.

Dann fuhren wir zum Bahnhof. Die Etappe wäre sonst zu lang geworden: 90 Kilometer hätten wir als Erwachsene vielleicht noch gemacht, mit den Kindern nicht. Wir versorgen uns mit Matilde-Milchshakes und Faxe Kondi und ließen uns nach Hirtshals fahren. Mit uns im Zug waren eine Menge Leute, die von Hirtshals aus nach Norwegen übersetzen; die Fähre nach Kristiansand fährt nur zweieinhalb Stunden, die Fahrt nach Bergen dauert sechzehneinhalb Stunden. Wir unterhielten uns mit einem jungen Mann, der sich zu uns in den Vierersitz gesellte; er und sein Bruder, der eine noch Schüler, der andere schon etwas älter, starteten an diesem Tag eine dreiwöchige Radreise durch Norwegen – mit Zelt und Campingkocher, seine erste Radreise überhaupt.

Von Hirtshals aus radelten wir nach Uggerby raus zu unserer Unterkunft. Unterwegs plünderten wir noch einen Supermarkt. Die Brote vom Morgen waren längst weggefuttert, und in Aalborg hatten wir nichts gegessen.

Nach dem Abendessen spazierten der Reiseleiter und ich noch durchs Dorf. Die Kinder chillten vor ihren Geräten.

Ferrtislev-Bonderup – Hirtshals über Aalborg
Radkilometer: 59
Höhenmeter: 123
Radfahrzeit: 3 Stunden 30
plus eine Stunde Zugfahrt von Aalborg nach Hirtshals


Uggerby – Skagen | Die letzte Etappe, das große Finale! Wir beluden ein letztes Mal die Räder.

Mein Taschen-in-Taschen-System hat sich herausragend bewährt. Ich musste zu keinem Zeitpunkt etwas suchen und war auch in den Unterkünften hervorragend sortiert. Auch für den großen Regen erwiesen sich die Kompressionstaschen als praktikabel. Meine Packtaschen, eine grünen Fahrradtaschen, sind gut dicht, vor allem mit zusätzlichem Überzug; Schwachstelle war das Spritzwasser von unten. Dadurch, dass die Kompressionstaschen jedoch aufrecht in den Fahrradtaschen stehen, war das kein Problem; alles blieb trocken. Der Reiseleiter hingegen steckte mehrmals bis zur Brust in seinen Packtaschen und kramte nach Badehose, Werkzeug und Schwimmbrille, unter Flüchen flogen Dinge auf die Erde.

Schon beim ersten Zieleinlauf fand ich, dass sich die Nordspitze Jütlands hervorragend als Schlusspunkt einer Reise eignet. Plötzlich wandelt sich die Landschaft, öffnet sich, Bäume und Wiesen werden zu Dünen, und es sind nur noch wenige Kilometer bis nach Skagen. Seinerzeit kamen wir von Süden, von der Ostseeseite. Diesmal kamen wir von Westen, der Nordseeseite. Der eindeutige Vorteil: Wir hatten auf der ganzen Strecke Rückenwind.

Wir erreichten die Kirche von Råbjerg; eine gute Gelegenheit, das erste Mal anzuhalten.

Ein Gebäude aus dem 13. Jahrhundert, danach nochmal angebaut und umgebaut, mit einem hölzernen Schiff unter der Decke. Vor der Tür wie überall der Friedhof mit Grabsteinen bis zurück ins 18. Jahrhundert: Familienväter, Mütter, Seefahrer, Soldaten, Gereiste, Ausgezeichnete, Verdiente und ganz Gewöhnliche.

Nach der Kirche folgt Råbjerg Mile, Dänemarks größte Wanderdüne. Jedes Jahr bewegt sie sich fünfzehn Meter Richtung Kattegat. In 130 Jahren wird sie im Meer verschwunden sein.

Wir erklommen die vierzig Meter hohen Sandberge, was leichter erzählt ist, als es getan war. Die Düne ist steil; wir taten einen Schritt und rutschten einen halben wieder hinunter. Ein hervorragendes Herz-Kreislauf-Training, eine gute mentale Übung.

Oben stürmte es geradezu absurd. Der Wind riss an den Haaren, trieb den Sand gegen Beine, Arme und ins Gesicht. Es prickelte und prasselte, es knirschte und knisterte. Böen tragen in jeder Minute Millimeter für Millimeter ab und wehen die Körner unbeirrbar gen Osten. Ein beeindruckendes Schauspiel.

Wir blieben eine ganze Weile auf der Düne und genossen die Weite. Die Kinder übten Weitsprung und bauten Häuser, die direkt wieder verweht wurden.

Dann waren es noch zwölf Kilometer, die letzten zwölf Kilometer der Reise. Sonnenschein, Rückenwind, der Geruch von Salz und Meer.

In Skagen gab es das ebenso obligatorische wie notwendige Begrüßungssofteis.

Insgesamt sind wir 410 Kilometer durch Dänemark gefahren. Die letzte Etappe war mit 42 Kilometern die kürzeste. Die längste hatte 72 Kilometer. Die zeitlich längste war begleitet von Dauerregen und Gegenwind.

In den darauffolgenden drei Tagen blieben wir in Skagen. Wir fuhren sogar Fahrrad. Davon erzähle ich später noch – ebenso wie von den Damen und Herren mit, Zitat unserer Gastgeberin in Mitteljütland, Porsche, Polohemd und Pullover über der Schultern. Denn ausgerechnet während wir dort waren, war Hellerup-Woche.

Panoramabild: rechts Meer, links ein Weg, auf dem ein Mann geht. In der Ferne gelbe Häuser.

Uggerby – Skagen
Entfernung: 42 Kilometer
Höhenmeter: 48
Reine Fahrzeit: 2 Stunden 21


Gehört | Daniela Krien: Der Brand. Eine Geschichte, bei der im Außen wenig passiert, wohl aber im Innen. Rahel und Peter sind seit 30 Jahren verheiratet, hatten Höhen und Tiefen in ihrer Ehe. Was sich währenddessen verabschiedet hat, ist die gegenseitige Liebe. In einem Sommerurlaub begegnen sie sich wieder. Ein Buch, das Geschmackssache ist; ich mochte die Geschichte gern, ihre langsame Entwicklung und ihre ostdeutsche Perspektive.

Eine Radreise durch Dänemark: Die Wasserschlacht von Nordjütland

22. 07. 2024  •  3 Kommentare

Nykøbing Mors – Bonderup | Der Reiseleiter weckte mich zuversichtlich: Der dänische Wetterdienst habe seine gestrige Prognose korrigiert. Es werde nur ganz leicht regnen und erst ab 15 Uhr. Außerdem habe er die Etappe um zehn Kilometer gekürzt: Wir müssten nicht siebzig, sondern nur sechzig Kilometer fahren. Er strahlte.

Tatsache war jedoch, dass es regnete, als wir aus der Tür traten. Es regnete mit einem leisen Rauschen, ein Regen, der frei war von der Energie eines kurzen Schauers. Mit kraftvoller Ausdauer umarmte er das Land, während ein freundlicher Wind die Tropfen verwirbelte, so dass sie uns nass und liebevoll zudeckten.

Wir beluden die Räder, wickelten uns in Regenkleidung, Kükenponcho und Mülltüten und machten uns auf den Weg. Der Wirbelwind sorgte dafür, dass wir von allen Seiten gleichmäßig nass wurden. Es war, als führen wir Fahrrad und nähmen gleichzeitig ein Bad – ein Erlebnis, das man selten hat. Deshalb würdigten wir es mit zärtlichen Flüchen.

Nach etwa 25 Kilometern erreichten wir einen Ort. Der Ort hatte einen Spielplatz, und auf dem Spielplatz stand eine überdachte Picknickhütte. Wir aßen Zimtschnecken. Derweil veränderte sich der Regen. Er ließ seine Bindfädigkeit hinter sich; stattdessen prasselte er dick und dicht auf das Dach und auf den Reiseleiter, der einen Platten flickte. Denn den hatten wir auch.

Um die Insel Mors zu verlassen, nahmen wir die Fähre über den Feggesund. Am Fähranleger blies der Wind. Auf dem Wind hielten übermütige Schwalben die Stellung. Sie schwebten auf der wilden Luft wie ein Kolibri, nur ohne Flügelschlag, bevor es sie ein ums andere Mal fortriss aufs Meer. Sie kamen wieder, legten sich erneut auf den unsichtbaren Strom, stießen hinab bis kurz über den Asphalt, stiegen wieder auf, wurden wieder fortgerissen.

Nach der Fähre führte unser Weg nach Osten, dem Ostwind entgegen. Der Reiseleiter fuhr voran, die Kinder im Windschatten, ich hinterdrein. Wir trampelten mit würdevollem Trotz, während wir kaum geradeaus gucken konnten: Es regnete uns waagerecht in die Augen.

Die Kinder hatten sich schon mit Beginn der Fahrt in ihr Schicksal ergeben. Schweigsam und unerschütterlich trieben sie ihre Räder durch Sturm und Wind, ohne Beschwerde, ohne Gejammer. Das hier musste schlichtweg erledigt werden.

Hinter Amtoft dann plötzlich: nichts. Kein Prasseln der Regens mehr auf die Kapuzen, keine Windböen.

Wir hielten an einer Picknickbank und packten aus, was wir hatten. Doch kaum saßen wir, begann der Regen von Neuem. Erst tröpfelte er leicht, dann wurde er wild und ausgelassen. Wir suchten Schutz hinter einer Hütte, und ich entdeckte, dass mein Küken-Poncho weit genug war, um zwei durchweichte Elfjährige unter die Fittiche zu nehmen.

Als der Regen wieder sanft und bindfädig wurde, fuhren wir weiter, die Elfjährigen neu verpackt. Denn jetzt kam der kniffligste Teil der Reise: die Fahrt über einen viel befahrenen, etwa sechs Kilometer langen Damm im Vejlerne Naturreservat – der Preis dafür, dass wir zehn Kilometer abkürzen konnten. Eigentlich wäre unser Weg in einem großen Schwung über Nebenstraßen durch das Reservat gegangen.

„Du fährst am besten hinten“, meinte der Reiseleiter, „dich sieht man am besten.“ So radelte ich als großes, gelbes Warnküken am Ende des Trecks – links von der weißen Begrenzungslinie, damit die Autos mehr Abstand hielten, die Kinder rechts, im Windschatten des Reiseleiters. Ich war nicht nur Warnküken, sondern auch eine radelnde Pilone und hätte nicht wenigen Wagen den Seitenspiegel einklappen können, so eng überholten sie mich.

Nach dem Damm machten wir noch einmal Pause und teilten die letzten Zimtschnecken auf.

Bushaltestelle an der Straße. Zu sehen sind herausschauende Beine, davor Fahrräder. Es regnet.

„Es wird besser“, sagte der Reiseleiter, während wir kauten und deutete auf helle Linien am Horizont. Er behielt recht: Als wir weiterfuhren, klarte es auf und tröpfelte bald nur noch.

Dafür ging es jetzt absurd bergauf. In Norddänemark! Das muss man sich einmal vorstellen. Wir ächzten die Hügel hinauf, die Kinder schoben oder wurden geschoben. Dann endlich, auf einer Hügelkuppe das Schild: Bonderup zwei Kilometer.

Fahrrad vor genanntem Schild

In Bonderup wartete als Entschädigung eine Unterkunft voller Pralinen auf uns – und ein Gastgeber, der alles tat, um unseren Tag versöhnlich enden zu lassen. „Ich habe euch den Kühlschrank voller Essen gepackt“, sagte er und zog an der Tür, die sich schmatzend öffnete und einen halben Supermarkt offenbarte. „Hier“, er deutete auf die Waschmaschine, „könnt ihr waschen und dort“, er deutete in die übrigen Räume, „habe ich euch die Betten bezogen. Die Süßigkeiten auf den Tischen könnt ihr nehmen und das“, er hielt eine kleine Rolle hoch, „sind Tüten. Morgen früh könnt ihr euch Brote schmieren und sie mitnehmen.“ Wir wahrten die Contenance, bis er sich verabschiedet hatte, dann brachen wir in Jubel aus.

Route und Daten zur Etappe - siehe Info unter dem Bild

Nykøbing Mors – Fjerritslev-Bonderup
Entfernung: 61 Kilometer
Höhenmeter: 240
Reine Fahrzeit: 4 Stunden 42
Dauerregen und lebhafter Gegenwind

Eine Radreise durch Dänemark: Von Herning nach Humlum an den Limfjord und weiter nach Nykøbing Mors

21. 07. 2024  •  2 Kommentare

Herning – Humlum | Der Reiseleiter wacht immer früh auf. Er richtet dann erst sich und anschließend den Tag her. Die Tagherrichtung beinhaltet das Herstellen eines Frühstücks, ein wunderbarer Service. Ich liege noch im Bett, rieche Kaffee und Brötchen und denke mir: Noch ein bisschen, dann stehe ich auf.

An diesem Tag wurde der Reiseleiter Kunde seines sonst eigenen Services: Wir hatten Bed & Breakfast gebucht und lagen beide noch im Bett, als ein betörender Frühstücksduft zu uns in Obergeschoss zog. Alsdann brachte Maria auch schon frische Brötchen, Müsli, Joghurt, Milch und …. //*dramaturgische Pause … Waffeln die Treppe hinauf. Wir waren verzückt.

Wir schlugen uns die Bäuche voll. Was nicht mehr reinpasste, durften wir mitnehmen. Welch Geschenk!

Während wir frühstückten, holte der Hausherr im Garten den dänischen Wimpel vom Fahnenmast und hisste die große Nationalflagge. In der Nachbarschaft, erklärte er später, hätten an diesem Wochenende einige Menschen Geburtstag. Da sei es Tradition, die Flagge zur Gratulation zu hissen.

„Übrigens“, sagte Maria, „wenn ihr bis nach Skagen hoch wollt, solltet ihr euch auf etwas gefasst machen.“ In dieser Zeit des Jahres seien eine Menge neureiche Kopenhagener dort – Porsche, Polo-Shirt, Pullover über den Schultern, dazu Aperol Spritz. Wir nahmen das zunächst so zur Kenntnis. Ich werde in einem späteren Beitrag darauf zurückkommen.

Der Tag sollte uns an den Limfjord führen. Wir radelten durch Felder, über Landstraßen und Wirtschaftswege, bis wir Holstebro erreichten. Über das Radfahren durch Dänemark lässt sich wenig erzählen, weil schlichtweg wenig passiert. Stellen Sie sich eine wellige Landschaft aus Korn- und Kartoffelfeldern vor, ab und zu ein Waldsaum, nach einigen Kilometern fahren Sie an ein paar Bauernhöfe vorbei, ab und an kommt eine Kirche. Schwalben kreuzen den Himmel. Raubvögel schweben über den Feldern. Sie hören Ihre Reifen auf dem Asphalt, das Surren der Kette und ein leises Knacken, wenn Sie einen Gang hoch- oder runterschalten. Sie befinden sich in einem Zustand unfokussierter Konzentration; Sie sehen eine einzelne Mohnblume inmitten eines Kornfeldes, ein winziger Frosch hüpft vor Ihnen über den Asphalt. Auf dem Briefkasten eines Bauernhauses sind sieben Figuren abgebildet: Mutter, Vater und fünf Kinder. In der Ferne dunkle Wolken.

Landstraße mit breitem Radstreifen neben einem Feld

In Holstebro begann es zu regnen. Für derartige Ereignisse hatten wir Regenkleidung eingepackt: Kinder und Reiseleiter besitzen Regenjacken und -hosen, ich einen Radponcho. Der Poncho ist gelb, ich sehe in ihm aus wie ein riesiges Küken. Er hat Schlaufen für den Leib, damit er nicht hochweht, und Schlaufen für die Arme, damit er sich wie ein Zelt vom Kopf zum Lenkrad spannt und die Beine trocken hält.

Als es in Holstebro zu regnen begann, just als wir aus der Stadt hinausfuhren und an einem McDonald’s vorbeikamen, waren es bis zu unserem Etappenziel in Humlum noch 24 Kilometer. Auf 24 Kilometern Strecke kann es auf unterschiedliche Arten regnen. Am Anfang regnete es leicht von oben. Dann regnete es fest von oben. Dann regnete es heftig von vorne. Irgendwann regnete es von unten nach oben. Unerfreulicherweise windete es auch; zudem ging es bergauf. Die Hälfte der Strecke schob ich KindDrei gegen den Wind die Hügel hinauf. Irgendwann, wir warfen schon fast am Ziel, hielt sie mir ihre Hand hin und sagte: Schau mal, meine Hand sieht aus wie nach der Badewanne.

Es gibt ein Foto von uns, wie wir auf dem Campingplatz im Humlum ankommen, an unserer gemieteten Hütte. Man nennt diese Art des Wohnens wohl Glamping. Auf dem Foto ist allerdings wenig Glam zu sehen. Wir stehen gut durchgeweicht vor der Hütte, während das Wasser von uns hinab tropft, und gucken bedröppelt.

Der Reiseleiter fuhr noch einmal heldenhaft los, kaufte Abendessen und Aufbackbrötchen. Die Kinder duschten. Ich suchte die Waschmaschine, und wusch alles, was nass geworden war, einmal durch.

Der Tag endete mit Leinen voller Wäsche in einer sehr kleinen Hütte, Nudeln mit Soße und gutem Schlaf.

Herning – Humlum
Entfernung: 60 Kilometer
Höhenmeter: 242
Reine Fahrzeit: 3 Stunden 38


Ein Tag in Humlum | Die Hütte war klein, aber solange sich niemand bewegte, war sie gemütlich. Eigentlich hatten wir keine Wäscheleinen dabei – aber drei Turnbeutel, aus denen der Reiseleiter die Kordeln zog und zu einer Leine spannte.

Als wir am nächsten Tag erwachten, regnete es immer noch. Der Reiseleiter präparierte sich und den Tag, Frühstücksduft zog durch die Hütte. Wir setzten uns zwischen die Leinen und die Wäsche, frühstückten und beschlossen, danach noch einmal ins Bett zu gehen. Die Kinder bekamen das iPad, der Reiseleiter las ein Buch. Mir fielen nach zehn Seiten die Augen zu, und ich nickte noch einmal ein. Als ich erwachte, regnete es immer noch und es roch nach feuchtem Hund. Der Reiseleiter hatte begonnen, unsere Schuhe im Backofen zu trocknen.

Später am Tag klarte es für eine Stunde auf, und wir machten uns auf den Weg zum Limfjord – einmal das Wasser sehen und den Kopf lüften. Während ich anschließend zum Supermarkt fuhr, um fürs Abendessen einzukaufen, gingen der Reiseleiter und die Kinder noch einmal los, baden. Wenn kein Badewetter ist, muss man sich welches vorstellen, dann wird es auch warm.

Panorama-Aufnahme: links Meer, rechts Sand mit Steinen und ein grüner Hügel

Am Abend dann EM-Finale. Wir saßen zwischen weiterhin herabhängenden Hosen und Pullovern, mampften Chips, tranken Limo und feuerten die Spanier (Reiseleiter) und die Engländer an (die Kinder). Mir war es wurscht. Nachdem Schlusspfiff krochen wir in unsere Betten und hörten dem Regen zu, der wieder eingesetzt hatte.


Humlum – Nykøbing Mors | Ein neuer Tag, ein neuer Einsatz für den Kükenponcho. Wir fuhren los, und es regnete. Erst regnete es nur leicht von oben. Dann fuhren wir auf eine Brücke, der Wind peitschte uns die Tropfen ins Gesicht, es regnete wild in die Augen. Ein Moment, in dem man gewöhnlich schlechte Laune bekommt, aber ich hatte keine Gelegenheit, schlechte Laune zu haben, denn ich musste gegen den Wind anfahren – und überhaupt war die Situation ziemlich absurd. Ich meine: Wer fährt bitteschön bei solch einem Wetter Fahrrad?

Als ich am Tag zuvor einkaufen war, hatte ich Mülltüten gekauft, um sie mir um die Schuhe zu wickeln. Man gewinnt keinen Schönheitswettbewerb. Aber ich wollte auch nicht wieder Flossen bekommen und meine Schuhe im Backofen trocknen müssen.

Mülltüten um die Füße

So fuhr ich im wehenden Küken-Poncho, mit flatternden Mülltüten um den Füßen, über den Limfjord in Richtung Uglev.

Als wir die Fähre zur Insel Mors erreichten, nickte der Fährmann uns zu und sagte: „Shitty veijr til cykling“, scheiß Wetter fürs Fahrradfahren. Wie wahr. Und dennoch: Auf der Fähre konnte ich mir die Mülltüten von den Füßen ziehen. Es klarte auf.

Zehn Kilometer vor dem Ziel machten wir noch einmal Halt. Wir saßen auf dem Kies eines Parkplatzes – mit Zimtschnecken, Salzcrackern und Brötchen. Ein Hund kam vorbei, ein schwarzer, wohlgenährter Schnauzer. Er setzte sich zu uns und betrachtete unsere Brötchen. Wir kraulten ihn, er starrte weiter auf die Brötchen. Als wir auf unsere Räder stiegen und wegfuhren, stand er am Rande des Parkplatzes, sah uns nach und trottete dann davon.

Am Abend erreichten wir das Danhostel in Nykøbing Mors.

Die Kinder liefen sofort zum Fjord, der Reiseleiter und ich kochten.

Das war die längste Etappe unserer Reise: 72 Kilometer. Ich werde oft gefragt, wie alt die Kinder sind und wie sie das mitmachen. Die Kinder sind 11, 11 und 14 Jahre alt. Vor zwei Jahren sind wir mit ihnen knapp 50 Kilometer am Tag gefahren. Im vergangenen Jahr fuhren wir mit ihnen vom Münsterland in die Niederlande mit Etappen von 60 bis 65 Kilometern. Damals sagten sie, sie wollten das mal länger machen. Nun sind sie wieder in Jahr älter, die 72 Kilometer haben sie gut geschafft. Wir machen auf unseren Wegen zwei bis drei längere Trink- und Essenspausen, je nach Anstrengung und Umständen. Schön ist natürlich, wenn sich dort ein Spielplatz, ein See oder etwas anderes befindet, das Freude macht. Auf Flachetappen fahren sie bis zu 30 Kilometer durch.

In einer der Packtaschen befindet sich zur Hälfte Essen. Auf einer Etappe essen wir zu Fünft 20 Brötchen, außerdem eine erkleckliche Anzahl Zimtschnecken und Cracker.

Humlum – Nykøbing Mors
Entfernung: 72 Kilometer
Höhenmeter: 403
Reine Fahrzeit: 4 Stunden 53


Cliffhanger | Am Abend saßen der Reiseleiter und ich zusammen und starrten auf verschiedene Wetter-Apps. Die App des dänischen Wetterdienstes war recht zuversichtlich, sagte Regen am Morgen und Regen ab 14 Uhr voraus, dazwischen trocken. Wetter Online zeigte minütlich etwas anderes. Herr Kachelmann sagte Regen voraus – aber keine Regenfelder wie am heutigen Tag, sondern eine tiefblaue Regendecke. Etappenlänge: 71 Kilometer – und keine Möglichkeit, mit einem Zug abzukürzen.

Eine Radreise durch Dänemark: Legoland und die Fahrt von Billund nach Herning

18. 07. 2024  •  13 Kommentare

Legoland | Er war natürlich nicht zu vermeiden: der Besuch im Legoland. 2.145 Dänische Kronen kostet dieses schlanke Vergnügen für fünf Personen. Das sind in Euro und in Worten zweihundertsiebenachtzigeinhalb Stück Geld.

Entsprechend schmierten wir uns am Morgen einen Haufen Brote, packten Äpfel, Müsliriegel und Wasserflaschen ein, denn Pommes waren nicht mehr drin. Beziehungsweise: Falls sie noch drin waren, waren wir nicht mehr gewillt, sie zu bezahlen.

Mein Vergnügen bestand im Wesentlichen darin, auf die Brote aufzupassen. Mir wird schon in einem Linienbus schlecht, bei Karussells wird mir speiübel.Und selbst wenn das nicht so wäre, hätte ich keine Lust, 45 Minuten anzustehen, um einmal im Kreis zu fahren.

Einmalig unternahm ich den Versuch und stellte mich bei einem Fahrgeschäft an, einer Art „Wilden Maus“. Dieser Ritt, so dachte ich, könnte einigermaßen verträglich sein, und man muss ja auch mal etwas wagen. Beim Einsteigen stellte sich jedoch heraus, dass meine Beine zu lang für das Wägelchen waren und ich mich nicht hinsetzen konnte. Da ich die Beine nicht raushängen lassen durften, musste ich wieder aussteigen. Ich ging dann auf die Brote aufpassen.

Das klingt alles ein bisschen unbefriedigend. Das war es jedoch keineswegs. Ich hatte einen wundervollen Tag. Die Kinder rannten von Fahrgeschäft zu Fahrgeschäft, fuhren Achterbahn oder ließen sich von einem Roboterarm über Kopf werfen. Der Reiseleiter musste mit; das Meiste vertrug er auch ganz gut. Nur nach der Robotergeschichte war er etwas grün im Gesicht.

Und ich: las. Ich las fast ein ganzes Buch, saß da, schaute in die Gegend, beobachtete andere Menschen, aß Brote, Äpfel und Müsliriegel, ich baute Dinge aus Lego, musste mit niemandem reden und entspannte mich acht Stunden lang aufs Allerbeste.

Eine Sache tat ich allerdings: Ich fuhr Wasserbob. Ich hege eine Liebe zu Wasserbobs. Sie sind ausreichend aufregend, aber nicht so, dass mir übel wird. Beim Wasserbob im Legoland geht es am Ende steil bergab. Das war großartig und hat mir sehr gut gefallen.

Zum Schluss ein Bemerknis: Obwohl das Publikum fast ausschließlich aus Familien mit Kindern bestand, gab es keinerlei Trotzanfälle, Wutausbrüche oder elterlichen Seltsamkeiten. Eine Welt des Friedens und der guten Laune. Verrückt.


Billund – Herning | Der zweite Fahrtag in Dänemark: Nach dem Besuch im Legoland sattelten wir die Räder und fuhren von Billund nach Herning, 66 Kilometer nach Norden. Während der erste Fahrradtag eher schleppend begann, waren wir diesmal von Beginn an im Tritt: Für die ersten 27 Kilometer bis nach Brande brauchten wir nicht einmal eineinhalb Stunden.

Brande hat etwa 7.500 Einwohner und ist die Heimat des Mode-Unternehmens Bestseller. Zu Bestseller gehören die Marken Jack & Jones, Only, Vero Moda, Mamalicious, Selected und weitere – die genannten, sind die, die mir bekannt waren. Bis ich in Brande vor der Bibliothek saß, wusste ich nicht, dass es alles Marken aus einem Hause sind – und zudem noch dänische.

Die Dänen haben eine wunderbare Eigenschaft: Sie erschaffen Infrastruktur für Menschen. Sie bauen helle, offene Bibliotheken und Begegnungsräume drinnen und draußen, sie bauen Spielplätze, stellen Picknickbänke in die Gegend, haben öffentliche Toiletten und sorgen dafür, dass man sich willkommen fühlt. Man sieht den Orten an: Es ist den Dänen etwas wert, dass alle sich wohl und in ihren Bedürfnissen gesehen fühlen.

Von Brande aus fuhren wir in das Braunkohlerevier nach Søby. Ab den 1940er Jahren bis etwa 1970 wurde hier Braunkohle gewonnen – zunächst mit der Hand. Später war der Abbau mit Maschinen erlaubt. Wer mit harter Arbeit gutes Geld verdienen wollte, war hier richtig; die Möglichkeit zog viele Menschen an. Dank des Braunkohleabbaus in Søby kam Dänemark ohne Brennstoffmangel durch den Zweiten Weltkrieg und die Zeit danach.

Wiese mit weißen und gelben Blüten, darin verrostete Gerätschaften vom Braunkohleabbau

Das Braunkohlemuseum erzählt die Geschichte der Menschen, die von der Braunkohle leben. Sie wohnten in Hütten und Baracken; einer der Arbeiter wohnte jahrelang in einem Kleiderschrank, den er sich mitgebracht hatte. Viele Menschen bauten sich kleine Häuser und wohnten dort mit ihren Familien. Ein Kaufmann eröffnete, eine Schule wurde gegründet, ein Schlachter kam ins Dorf. Frode Petersen, der junge Mann auf dem Schwarz-Weiß-Foto, lebte bis ins Jahr 2002 in seiner Hütte. Der alte Herr neben ihm, auf der Ornamenttapete, ist Otto Rasmussen, der Milchmann und Möbelpacker des Ortes.

Vom Braunkohlemuseum aus fuhren wir weiter.

Die Landschaft zwischen Billund und Herning besteht im Wesentlichen aus Kartoffelfeldern. Die weißen Blüten reichen bis auf die Hügelkuppen, an den Waldrand, den Horizont, je nachdem, was grad da ist. Wir fuhren an Bauernhöfen vorbei. Manchmal reihten sich zwei oder drei aneinander.

Ein Kartoffelfeld

Am späten Nachmittag erreichten wir das Haus von Maria und Henry. Ihre vier Kinder sind aus dem Haus, seit Jahren schon ist im Obergeschoss kein Leben mehr. Deshalb quartieren sie dort nun Gäste ein – Gäste, die die Welt zu ihnen nach Hause bringen. Im ersten Jahr nach der Pandemie, als man wieder reisen durfte, so erzählten sie uns am Abend, hätten sie alle Hände voll zu tun gehabt. In diesem Jahr seien wir die ersten Gäste. Allerdings, sagte Maria, reise sie auch oft zu ihren Kindern und ihren Enkeln. Dann schließe sie den Kalender; möglicherweise liege es daran.

Wir bestellten uns Pizza und Fritten und schliefen danach wunderbar.

Billund – Herning.
Entfernung: 68 Kilometer
Höhenmeter: 237
Reine Fahrzeit: 3 Stunden 37

Eine Radreise durch Dänemark: Die Zugfahrt nach Fredericia und die erste Etappe von Fredericia nach Billund

14. 07. 2024  •  1 Kommentar

Haltern – Fredericia | Wir starten um kurz nach Sieben vor der Haustür: zwei Erwachsene, drei Kinder, fünf Fahrräder, zehn Packtaschen. Der Plan: vier Züge, drei Umstiege. Ziel: Fredericia in Süddänemark. Wir sind gleichzeitig schläfrig und ausgelassen, wie wir uns und die Fahrräder um kurz vor Sieben vor dem Haus aufreihen. Dann geht es los.

Wir blinzeln die Müdigkeit aus den Augen, fahren zum Vor-Ort-Bahnhof und steigen in den Regionalzug nach Münster. Im Fahrradabteil sitzt ein Mann, Kopfhörer, das T-Shirt zu kurz für den Bauch. Er singt:

Verlieb‘ dich nie, nie, nie, niemals nie
In das Mädchen hinter der Theke
Verlieb dich nie, nie, nie, niemals nie
In das Mädchen hinter der Bar
Egal wie schön sie auch ist
Egal wie durstig du bist
Es ist ihr Job, dass sie dich mag

In Münster Frühstück in der Bahnhofshalle. Es gibt Kaffee, Kakao und Croissants. Bahnhofshallen sind heute nicht mehr fürs Sitzen und Warten gemacht, fürs gemütliche Reisen, fürs Verweilen und Betrachten der Menschen. Sie sind dafür gemacht, sie zu durcheilen, mit Rucksäcken und Rollkoffern, hastig, mit einem Pappbecher in der Hand.

Wir steigen in den ICE nach Hamburg. Wer die Fahrradabteile in den Fernzügen designt hat, gehört mit Zu- und Ausstieg nicht unter 50 Haltestellen bestraft. Wir hieven uns, die Taschen, die Räder in den Zug. Es ist eng.

Fahrräder im Fahrradabteil des ICE

Ein Paar mit E-Bikes kommt hinterdrein. Wir schieben die Kinder schon auf die Sitzplätze durch, reichen die Taschen an und helfen den nach uns Kommenden. Es braucht zwei Erwachsene von kräftiger Statur, um die E-Bikes in die Aufhängung zu heben. Dann sitzen wir, spielen UNO und essen Knoppers. Ein Hauch von 1992 durchweht die Reise.

Ausstieg in Hamburg: Kinder raus, Taschen raus, ich raus, Fahrräder raus, Reiseleiter raus. Ein Rad verhakt sich in der Aufhängung, alles verkeilt sich. Es ist ein wildes, verschwitztes Gefummele, so ruppig und unter Druck wie einst beim ersten Geschlechtsverkehr. 

Der RE von Hamburg nach Flensburg: ein Saunabetrieb. Hätten wir Birkenzweige, wir würden uns damit abpeitschen. Auf dem Bahnsteig in Flensburg holen wir tief Luft. 22 Grad, eine Brise weht. Das Glück ist klein und gleichzeitig groß. 

Wir haben hier zwei Stunden Aufenthalt. Auf den Rädern fahren wir in die Stadt, finden Pommes und Eis.

Hafen mit Segelbooten, ein Steg

Wir sehen Boote, Möwen und Wasser. Dann sitzen wir im Intercity nach Fredericia. Die Fahrradabteile sind bekannt kommod, die Sessel polsterig. Ich werde augenblicklich müde, ein Schlummer ergreift mich. Wunderbar.

In Fredericia wohnen wir nur wenige hundert Meter vom Bahnhof entfernt.

Fünf bepackte Fahrräder vor dem Eingang zu einem Danhostel

Ein Zimmer im Danhostel, der dänischen Jugendherberge. Wieder das Gefühl von 1992, als wir uns zu Fünft das Zimmer beziehen. Wir, zehn Taschen, vier Betten, eine Matratze und ein Tisch – das Zimmer ist voll. Am Ende sind wir alle zu müde, um es unbequem zu finden.

Wir fahren noch kurz zum Strand, stecken einmal die Füße ins Wasser.

Im Hintergrund Strand und Wasser, im Vordergrund ein rot-weiß-gestreifter Turm und blühendes Salbei

Zur zweiten Halbzeit sind wir wieder im Danhostel: EM-Halbfinale, Spanien gegen Frankreich. Das Bild auf dem kleinen Fernseher stockt und ruckelt, das nimmt den Dribblings deutlich den Charme. Dann ist das Spiel vorbei, der Tag ist vorbei, und es braucht keine Gute-Nacht-Geschichte mehr, um einzuschlafen.


Fredericia – Billund | Der erste Radfahrtag führt uns nach Billund: 60 Kilometer durch Südjütland. Wir frühstücken und bepacken die Räder.

Das Gelände ist wellig; wir bemerken es schon nach wenigen Kilometern. Die Fahrt führt auf Hügel hinauf und in Täler hinab – nicht wirklich hoch und auch nicht wirklich tief, aber so, dass es ein stetiges Auf und Ab ist.

Ein Mann, drei Kinder von hinten, während sie durch Felder Fahrrad fahren

Nach acht Kilometern ist bereits ein Dynamo abgefallen, ein Kind musste sich nochmal umziehen, an einem Rad schleift das Schutzblech, wir mussten das erste Mal schieben, haben ungefähr fünfzehn Nacktschnecken überfahren, und der erste Reiseteilnehmer hat schon wieder Hunger. Nach fünfzehn Kilometern halten wir für die erste Rast.

Nach Zufuhr von Zimtschnecken geht es zügiger voran. Dann beginnt es zu regnen. Wir verpacken uns in unsere Regenkleidung: Der Reiseleiter und die Kinder haben Regenjacken und -hosen. Ich habe einen Radponcho, der sich groß und gelb über mich und meine Beine bis zum Lenker spannt: Ich bin ein Riesenküken. Wir sind einen Kilometer gefahren, als aus der Reisegruppe ein „Können wir anhalten, ich muss zum Klo!“ tönt. Wir fahren die nächste Kirche an. An Kirchen sind in Dänemark immer Toiletten.

Wir fahren eine Weile. Es hört zu regnen auf, wir fahren auf, wir fahren ab. Am Grab des Egtved-Mädchens machen wir eine Pause. Vom Grabhügel können wir in die Landschaft schauen. Es hat aufgeklart.

Blauer Himmel mit Schäfchenwolken, darunter Graslandschaft mit kleinen Baumgruppen

Das letzte Stück nach Billund geht über eine Landstraße. Mehr als zwölf Kilometer zieht sie sich schnurgerade durch Felder und Wälder und will kein Ende nehmen. Die Kinder verlangen nach Ankern im immer Gleichen: Jeden Kilometer sage ich an, wie weit es noch ist. So geht es gut, so kommen wir an, erreichen Billund und unser Ferienhaus.

Am Abend, auf dem Weg zum Supermarkt, besteigen wir noch das Lego-Haus. Auf verschiedenen Terrassen hat es Spielgeräte, Schaukeln und Klettermöglichkeiten.

Ein Kind läuft die terassenförmigen Stufen des Lego-Hauses hinauf

Auf dem Sofa, beim EM-Halbfinale Englands gegen die Niederlande, schlafen wir alle ein.


Gelesen | Alena Schröder: Bei euch ist es immer so unheimlich still. Ein Roman vor der Kulisse der Deutschen Wende 1989: Silvia hat gerade ein Kind bekommen. Der Vater will nichts davon wissen. Mit einem klapprigen Polo fährt sie von Berlin nach Ildingen zu ihrer Mutter, mit der sie seit mehr als einem Jahrzehnt keinen Kontakt hat. Eine Reise in die Vergangenheit – und von dort aus in eine neue Gegenwart. Denn während sie in Ildingen ist, verändert sich nicht nur Deutschland, sondern auch Silvia. Ich habe die Geschichte gerne gelesen: eine Familiengeschichte, die in sich schlüssig und nicht verkitscht ist. In großen Teilen habe ich sie im Legoland gelesen. Dazu mehr beim nächsten Mal.

Zehn Bemerknisse zu einer Reise mit dem Zug nach Barcelona – ein Gastbeitrag des Reiseleiters

3. 04. 2024  •  12 Kommentare

Es folgt: Ein Gastbeitrag des Reiseleiters. Mit jedem seiner drei Kinder unternimmt er einzeln eine Reise. Dieses Jahr war K3 (11) dran. Sie fuhren mit dem Zug vom Münsterland nach Barcelona. Sein Abenteuer in zehn Bemerknissen:

1 – Weltenrettung | Nennen Sie mich naiv, aber ich glaube daran, dass mein Verhalten einen Einfluss hat – auf die Umwelt, das Klima und auf die späteren Entscheidungen meiner Kinder. Der Auftrag lautete also: Erreiche das Reiseziel möglichst nachhaltig.

Tatsächlich ist es recht einfach, mit der Bahn von Köln nach Barcelona zu kommen – wenn man davon absieht, dass man zwölf Stunden auf der Schiene ist und einen Bahnhofswechsel in Paris absolvieren muss. Und: Wenn man die Kosten ausblendet. Die sind nämlich für die Fahrt mit Eurostar und TGV fast vierstellig für zwei Personen und damit locker doppelt so hoch wie für die Alternative mit dem Flieger. Das muss man wirklich wollen!

Nachdem ich den Preis kannte und auch wieder Luft bekam, redete ich mir ein, dass es doch auch ein tolles Erlebnis sein könnte, mit Tempo 300 durch Frankreich zu düsen; dass nur auf diese Weise dem Kind die Entfernungen wirklich gewahr werden können; und dass so eine Zugreise ja auch einen gewissen geografischen Bildungseffekt haben kann.

Fazit nach der Rückkehr: Ich würde es jederzeit wieder so machen. Alles klappte ohne Verspätungen, und die Fahrt war tatsächlich ein Erlebnis.

Den TGV kannte ich bisher nur aus meinem Französisch-Schulbuch aus den 90ern und hatte ihn mir aus dieser Erinnerung heraus etwas luxuriöser vorgestellt. Das Bordbistro hatte enormes Potenzial nach oben und auch sonst war der Komfort eher mittelmäßig. Dennoch waren die Züge auf beiden Fahrten fast komplett ausgebucht – es gab also genug andere Verrückte, die meine Idee teilten (Inlandsflüge sind in Frankreich übrigens weitestgehend verboten, Grüße gehen raus an die deutsche Politik). Sicherlich eine Verbesserung gegenüber den 90ern ist das WLAN im Zug und damit einhergehend die Möglichkeit, das Kind seine Serien bingewatchen zu lassen, wenn die Landschaft gerade nicht so spannend ist.

2 – Tourie-Trubel | Ja, wir waren Teil des Problems, das ist mir klar. Aber dass die Stadt schon Ende März dermaßen überlaufen sein könnte, hätte ich nicht gedacht. Französische Mittelschulen auf Klassenfahrt, Massen von asiatischen Touristen und deutsche Jugendfussballmannschaften auf Turnierreise bevölkerten die Altstadt und die Touristen-Hotspots. Man kann nachvollziehen, dass die Katalanen trotz der wirtschaftlichen Bedeutung des Tourismus inzwischen versuchen gegenzusteuern.

3 – Wetter-Pech | Nachdem Vanessa und ich dieses Jahr schon den schlimmsten Schneesturm seit 30 Jahren erlebt haben, verfolgte mich das Wetter-Pech auch nach Barcelona. Katalonien ächzt unter einer schweren Dürre; seit Wochen zeigte die Wetter-App für die Region zwanzig Grad und Sonne an. Dennoch nahm uns Barcelona mit zwölf Grad und Regen in Empfang – wir hätten auch nach Hamburg fahren können!

Die Barceloner und Barcelonerinnen (ich habe tatsächlich nachgeschlagen, wie sie heißen) freuten sich aber bestimmt über den Regen. Somit machten auch wir das Beste daraus: Aquarium, Einkaufszentrum, Maritim-Museum – und tatsächlich kam am letzen Tag noch die Sonne heraus.

4 – Rutscherampen | #Serviceblog im Selbstversuch: Die angeschrägten Rampen zwischen Gehweg und Straße, für die die Katalanen Naturstein verwenden, können bei Regen unerwartet glatt sein. Wir waren auf dem Weg in die Altstadt und ich schlenderte lässig den Passeig de Gracia entlang, als ich die Grätsche machte und mich auf dem Trottoir wiederfand. Für den Rest der Reise absolvierte ich die Rampen in Tippelschritten.

5 – Teurer Kirchenbesuch | Natürlich wollte das Kind die Sagrada Familia sehen. Auf Anraten Bekannter buchte ich die Eintrittskarten in Voraus: 75 Euro für zwei Personen, stornierbar, mit Audioguide aufenglisch. Wo soll ich anfangen … Sicherheitskontrolle wie am Flughafen, der Audioguidelief nicht, und um uns herum 5.000 andere Touristen – uff!

Der Bau an sich ist beeindruckend. Der ganze Bums soll 2033 fertiggestellt sein. Der zentrale Turm wird dann der höchste Kirchturm der Welt sein. Ich wünsche mir, dass meine 75 Euro in einem Zierelement verbaut werden.

6 – Ruhepol Sarríà | Barcelona ist nicht nur sehr überlaufen, der Verkehr an den Hauptachsen ist trotz aufkeimenden Radverkehrs und sehr gut ausgebautem ÖPNV höllisch. Abseits der Hotspots gibt es allerdings wirklich nette und ruhige Stadtviertel, die immer noch sehr gut angebunden sind.

Gasse, Fenster mit Holzläden und kleinen Balkonen, Rote und beige Fassaden

Wir kamen in Sarríà unter, einem Quartier nördlich der Innenstadt am Fuß der Berge, die Barcelona umgeben. Kleine Sträßchen mit Cafés und Läden, an jeder Ecke nette Parks und Spielplätze – sollte ich einmal nach Barcelona ziehen, käme der Stadtteil auf jeden Fall in die engere Auswahl. Es sind auch in Barcelona die kleinen Dinge, die auffallen: An fast jeder Straßenkreuzung stehen Bänke oder fest montierte Stühle zum Ausruhen. Gerade für ältere Menschen eine tolle Sache – oder wenn man mit zwei schweren Rücksäcken bepackt auf dem Weg zur U-Bahn kurz verschnaufen möchte.

7 – Supermarkt-Overkill | Ich arbeite bei einem großen Lebensmittelhändler. Als Geograph modelliere ich Filialnetze. Bei jeder Reise schaue ich mir deshalb aus beruflichem Interesse Supermärkte vor Ort an, um mir einen Überblick über den Lebensmitteleinzelhandel zu machen.

[Anm. d. Red.: Die Tatsache, dass Supermärkte stets eine große Rolle bei unseren Reisen spielen, wirkt sich sehr positiv auf die Gebäckvorräte aus.]

Fazit für Barcelona: sehr breites Angebot mit starker Diversifizierung und geringem Institutionalisierungsgrad. An jede Ecke rein laufkundenorientierte kleine Nahversorger, inhabergeführte Obst- und Gemüsemärkte, Feinkostläden und ein paar schöne Markthallen. Eine feine Sache!

8 – Galeerenleben | Das Maritim-Museum von Barcelona ist in einer ehemaligen städtischen Werft untergebracht. In früheren Jahrhunderten wurden dort Galeeren gebaut. Mit denen haben die Spanier um die Herrschaft über das Mittelmeer gekämpft.

Das Leben auf einer Galeere, lernten wir, gestaltete sich wenig erquicklich. Die Mannschaft bestand aus Sklaven und Häftlingen, aber auch aus normalen Soldaten. In größeren Galeeren saßen fünf Mann an einem Riemen und ruderten. Der innen Sitzende musste bei jedem Schlag aufstehen und sich wieder hinsetzen. Der außen sitzende Mann musste am wenigsten tun – das waren dann die älteren und verbrauchten Männer. Wurde ein Galeere versenkt, gingen die Sklaven einfach mit unter.

Kaum ein Galeerensklave überlebte mehr als zwei Jahre auf so einem Schiff. Besonders pikant: Sklaven und Häftlinge waren angekettet und durften ihren Platz während der gesamten Fahrt nicht verlassen. Sie verrichteten alles, wirklich alles an ihrem Platz. Gischt und Wellen spülten die Fäkalien fort – im Idealfall. Ein Anpirschen an den Feind war nicht möglich: Die Galeeren stanken so bestialisch, dass man sie über Meilen riechen konnte.

Ich werde in Zukunft weniger über die Arbeit schimpfen.

9 – Tibidabo | Am letzten Tag der Reise gönnten wir uns noch etwas Spaß und besuchten den Tibidabo. Das ist ein fünfhundert Meter hoher Berg am Rande von Barcelona. Hinauf geht es mit einer Standseilbahn. Die Aussicht oben ist atemberaubend.

Neben der Aussicht gab es auf dem Berg eine fürchterlich hässliche Basilika und einen netten, kleinen Freizeitpark. Die Achterbahn stürzte direkt in den Abgrund. Die Schiffschaukel griff das Thema Seefahrt wieder auf (allerdings ohne, dass wir angekettet wurden). Tip für Ihren Besuch (#serviceblog): Früh dort sein, dann sind die Schlangen noch kurz. Die Eintrittskarten, die man am Automaten erwirbt, berechtigen nicht zur Nutzung der Attraktivitäten. Man muss sich an einer weiteren Kasse oben auf dem Berg erst ein Armband geben lassen (dieses Wissen hätte uns eine halbe Stunde Wartezeit am roten Flugzeug erspart).

10 – Familienglück im TGV | Die Rückfahrt war besonders interessant. Schon am Bahnsteig fiel eine  katalanische Großfamilie auf, die unter großer Aufregung und viel Palaver eine absurd hohe Anzahl an Gepäckstücken in den Zug hievte. Die zwei Erwachsenen und sechs Kinder kamen direkt vor uns zum Sitzen. Das war ein Spaß! Eltern und Kinder – Alter: geschätzte zwei bis sechzehn Jahre alt – unterhielten den Wagen bis weit hinter die französische Grenze. Es wurde gelacht, geschrien, getrunken (viel) und gegessen (enorm viel). Ich habe selbst drei Kinder und Verständnis, wenn es lauter wird – aber so laut! Das war eindrücklich.

Irgendwo zwischen Perpignan und Narbonne fiel die Familie in den Schlaf. Die Kleinen kuschelten sich an die Großen, die Füße des Vaters, nackt, lagen auf dem Tisch neben den Essensresten. Der Waggon hielt den Atem an. Und ich dachte mir: Das hättest du im Flugzeug so nicht erlebt. Alles richtig gemacht.

Vielen Dank für Ihr Interesse!  

Wie ich nach Lingen fuhr und mich dort selbst verteidigte. Außerdem: Zone of Interest und armenisches Kochen.

13. 03. 2024  •  9 Kommentare

Lingen | Am vergangenen Wochenende fuhr ich nach Lingen an der Ems. Sie dürfen mit Fug und Recht fragen, warum ich das tat, das ist nun wirklich nicht naheliegend. Wäre ich nicht dorthin entführt worden, wäre ich in meinem Leben niemals nach Lingen gekommen.

Der Hintergrund ist, dass ich Teil einer Reisegruppe war, die nicht wusste, wohin es ging, und auch nicht wusste, was am Zielort geschehen würde. Dieser Umstand ist kein Bug, sondern ein Feature. Die Reisegruppe ist der Dortmunder Agora Club Tangent (ACT), in dem ich Mitglied bin; der ACT ist das Seniorenheim des Ladies‘ Circle, in dem ich dereinst ebenfalls Mitglied war, aber mit meinem meinem 45. Lebensjahr turnusmäßig ausschied. Einmal im Jahr organisiert ein Mitglied des ACT einen Wochenendtrip. Die Mitreisenden erfahren nicht, wohin es geht; das Fahrtziel muss lediglich in zwei, drei Stunden zu erreichen sein. So landete ich in Lingen.

Der Vorteil, mit einem Club mittelalter Damen zu verreisen, liegt darin, dass alle fast alles schon erlebt haben: Eheschließungen, Scheidungen, Neuverliebungen, kleine Kinder, pubertierende Kinder, aus dem Haushalt ausziehende Kinder, körperliche und seelische Gebrechen, von Orthopädie bis Gynäkologie, Gerontologie (natürlich), selbst Astrologie. Jedes Lebensthema ist anschlussfähig in der Gruppe. Wunderbar.

Ein Programmpunkt war Krav Maga, Selbstverteidigung. Eine Freundin des Clubs führt in Lingen ein Fitnessstudio, bietet Personal Training und eben auch Selbstverteidigung. Wir bekamen einen zweistündigen Crash-Kurs. Das Motto von Krav Maga: Head and Nuts, Kopf und Nüsse – wenn’s hart auf hart kommt, geht’s immer gegen diese Körperteile, bei den Herren wie bei den Damen. Das war sehr lehrreich; ich stellte mich trotz meines friedfertigen Wesens als talentiert heraus. Dreißig Jahre in einer aggressiven Kontaktsportart und eine Karriere im Abwehrmittelblock scheinen für diese Sportart hilfreich zu sein.

Wir lernten auch etwas über die Stadt. Zwei Kivelinge, örtliche Junggesellen, führten uns durch Lingen. Wir erfuhren etwas übers Kievelingsdasein, über die Sektionen, in denen die unverheirateten Bürgersöhne sich organisieren, und über ihre Aktivitäten; aus den Ausführungen erinnere ich, dass viel getrunken wird, allerdings keine Limonade. Außerdem findet alle drei Jahre das Kivelingsfest in Lingen statt, ein Volkfest, bei dem ebenfalls viel getrunken wird. Dem ist zuträglich, dass Lingen eine Bier-Kultur pflegt. In der Alten Posthalterei, einem Kneipenrestaurant, wird allerlei angeboten; wir kosteten und besuchten zudem Heidis Litfass, in dem auch getrunken wird. Alles in allem verfestigte sich der Eindruck, dass die Menschen in Lingen viel Durst haben.


Heimgymnastik | Wir haben hier ein Rudergerät, das ich bisweilen benutze, und neuerdings auch ein Wahu-Board. Ein Weihnachtsgeschenk für die Kinder, das sich als gutes Traininhgsgerät auch für uns Erwachsene erweist. Der Reiseleiter und ich machen Kniebeugen auf dem wackeligen Ding und können danach zwei Tage nicht laufen. Anscheinend haben wir es nötig.


Gesehen | Zone of Interest. Verstörender Film. Unfassbar guter Film. Eine beachtliche Schauspielleistung; besonders Christian Friedel hat mich beeindruckend – noch mehr als Sandra Hüller als seine Gattin. Friedel gelingt es, Rudolf Höss, dem Ökonom der Massenvernichtung, dem Prozessingenieur der Vergasung und Verbrennung, menschliche Momente abzuringen und gleichzeitig eine Grausamkeit zu zeigen, die in keinen Moment körperlich ist. Es lässt einen erschüttert zurück. Der Sound ist beklemmend und hat den Oscar verdient. Der Film wurde mit versteckten Kameras gedreht, die Schauspieler:innen bewegten sich frei im Haus und spielten einfach, wohnten, aßen, lebten. Große Filmkunst. Unerträglich.


Schlauer werden | Ich habe ein bisschen Luft in meinem Kalender. Das ist gut. Ich nutze sie fürs Lesen. Dank meiner Fortbildung an der Fernuni habe ich wieder Blut geleckt, mich mit Wissenschaft und Fachbüchern zu beschäftigen. Ich habe mir Motivation und Handeln reingezogen, den Klassiker von Jutta und Heinz Heckhausen (Hrsg.); seit meinem Studium gibt es doch einige neue Erkenntnisse. Werde mich nun Arbeits- und Organisationspsychologie und der Psychologie der Entscheidung widmen, um auch hier wieder näher an aktuelle Forschung zu kommen.


Armenisch kochen | Diese Woche brachte ich mein armenisches Kochbuch zur Anwendung, das schon seit Weihnachten in meinem Haushalt wohnt, für das ich aber bislang keine Muße hatte.

Montag: Adjarakan Khachapuri (Teigschiffchen mit Käse und Ei). Ich ergänzte Frühlingszwiebel zum Rezept.

Teigschiffchen mit Käse und Ei

Dienstag: Vospov Aghtsan (Linsensalat) und Jingalov Hats (Brot mit Kräutern)

Vospov Aghtsan (Linsensalat) und Jingalov Hats (Brot mit Kräutern)

Beides lecker. Der Reiseleiter gab zu Protokoll, dass die Mahlzeiten sicherlich auch kaukasische Minenarbeiter sättigen.


Gesehen | 37 Grad: Burnout auf dem Bauernhof – Landwirte kämpfen gegen ihre Depression


Schweine | Um nochmal auf den Beginn zurückzukommen, die Reise nach Lingen: Ein anschlussfähiges Lebensthema war auch das Thema „Meerschweine“, das irgendwer irgendwann aufmachte, und in dem ich dann erzählte, dass Abendessen, das Dramaschwein, quasi vergoldet sei, nachdem wir es mit einer Glatze beim Tierarzt vorstellen mussten und es ein Mittel gegen Hautpilz bekam; eine Unternehmung, die uns ein Vielfaches kostete, als wir für das Schwein bezahlt hatten – eine Notschlachtung wäre finanziell angemessener gewesen. Daraufhin erzählte meine Mitreisende die Geschichte des Familienzwergkaninchens, das ebenfalls ein kleines Leiden hatte und dem Tierarzt vorgestellt wurde. Sie bat den Veterinär, dass er bei den Behandlungsoptionen bitte berücksichtige, dass dieses Tier, nun ja, eben ein Zwergkaninchen und kein Lipizanerhengst sei. Kaum hatte sie dies ausgesprochen, brach ihr Sohn neben ihr in Tränen aus; er heulte, dass der Rotz das Kinn hinabfloss; unter Schluchzen sprach der Bub wütende Worten über Ethik und Moral. Daraufhin wurde das Zwergkaninchen stationär aufgenommen, erhielt ein Einzelzimmer und kam kurzerhand in die monetäre Reichweite eines Lipizaners.

Die Schweine kommen in den Genuss von Obstbaumzweigen: Im Dortmunder Garten schnitt ich Bäume. Die Zweige nahm ich mit nach Haltern. Der Reiseleiter baute den Schweinen daraus einen Tunnel. Sie erinnerten sich daraufhin daran, dass sie Nagetiere sind, und knabbern nun mit großer Hingabe die Apfel- und Kirschbaumzweige ab.

Ein Besuch in Utrecht und der Vortrag eines Wohnwendeökonoms

26. 02. 2024  •  8 Kommentare

Expedition nach Utrecht | Am Wochenende fuhr ich nach Utrecht, gemeinsam mit dem Reiseleiter. Der Reiseleiter hatte vorab einen Reiseführer studiert – mit dem Ergebnis, dass wir die Reise auf uns zukommen lassen sollten, ohne Plan. So stiegen wir also in den Zug, der uns erstaunlich schnell nach Utrecht brachte, in zweieinhalb Stunden nur. Der Reiseleiter, der zweimal wöchentlich zum Arbeitgeber nach Köln pendelt und hart unter den Widrigkeiten des Bahnfahrens leidet, meinte, dass er möglicherweise einfacher nach Utrecht als nach Köln käme und dieser Sachverhalt Erwägungen nach sich ziehen könnte, langfristig. Er verwarf den Gedanken dann aber doch wieder, vorläufig, aus Liebe zur Arbeitsstelle.

Wir kamen also an, es war Samstagmorgen, schlossen unsere Rucksäcke in ein Schließfach und marschierten los, ohne Plan, wie geplant. Wenn man in Utrecht aus dem Bahnhof tritt, steht dort ein monumentales Einkaufszentrum, das größte überdachte Ding Europas. Es ist erstaunlicherweise genauso wenig einladend wie alle Einkaufszentren und macht ebensowenig Spaß. Aber wir gingen hindurch, um in die Stadt zu kommen. Auf dem Weg zum Einkaufszentrum begegnete uns das Fahrradparkhaus. Es hat zwölfeinhalbtausend Stellplätze, und wie wir sehen konnten, zumindest auf der ersten Etage, waren fast alle besetzt. Die Leute sausten hinein und hinaus. Es war erfreulich anzusehen. Wir standen eine ganze Weile dort.

Die Innenstadt ist autofrei: Gassen und Grachten, Geschäfte und Cafés, und es war erstaunlich viel los, man könnte auch von Menschenmassen sprechen. In Utrechts Altstadt biegen überall Gässchen ab, oftmals begegnet man Wasser, und es ist nicht ganz klar, wohin man nun soll, weil es überall hübsch ist. Man möchte in diese und in jene Straße abbiegen, mit der Aufmerksamkeitsspanne eines umherflatternden Schmetterlings.

Irgendwann aber kommt man zurecht und denkt: „Hier war ich schonmal“, dann erkennt man erstmals Dinge wieder und es kommt das Gefühl auf, sich irgendwie orientieren zu können.

Im Reiseführer hatten wir von einem Blumenmarkt gelesen, der immer Samstags stattfindet und von dem niemand ohne Blumenzwiebel nach Hause geht. Die Autoren hatten recht. Ich kaufte einen Haufen Blumenzwiebeln, die der Reiseleiter fortan tragen durfte.

Alsdann war es an der Zeit, ein Café zu besuchen. Wir beschlossen, erst ein Bier und dann einen Kaffee zu trinken. Damit das Bier nicht so alleine war, aßen wir ein Brötchen mit Apfel und Ziegenkäse dazu – und Kürbissuppe. Das war schmackhaft. Wir saßen dabei an einer Gracht, um nicht zu sagen: darüber. Das Haus ragte etwas übers Wasser. Manchmal fuhr ein Schiff vorbei, manchmal paddelten Kajakfahrer, wir besäuselten uns leicht, das Leben war wunderbar.

Blick auf einem Sprossenfenster auf das Ufer der Gracht

Nicht nur Blumenzwiebeln, auch Buchläden hatten eine Anziehung auf uns. Wir entdeckten, dass es in Utrechts Buchläden viele englischsprachige Bücher gibt, und zwar jene, die einem in Deutschland nicht unterkommen: Bücher aus kleineren Verlagen und solche, die jenseits des Mainstreams der Spiegel-Bestsellerliste stattfinden. Wir arbeiteten uns durch alle Buchhandlungen der Stadt, einschließlich des ältesten feminstischen Buchladens der Niederlande, und fanden in jedem der Geschäfte etwas, das der Reiseleiter tragen durfte.

Holzleiter vor einem Bücherregal

Insofern gesellten sich etliche Bücher zu den Blumenzwiebeln, weshalb es irgendwann an der Zeit war, das Hotel aufzusuchen, bevor der Reiseleiter sich zum orthopädischen Notfall entwickeln würde.

Am nächsten Tag schlossen wir unser Gepäck wieder im Bahnhof ein, dazu die Blumenzwiebeln und die Bücher und gingen ins Centraal Museum. Es verfügt über eine umfangreiche Sammlung aus Kunst, Design, Mode und Stadtgeschichte; das konnte nicht falsch sein für uns als Utrecht-Newbies. Am meisten mochte ich die Sonderausstellung mit fotorealistischen Werken, also mit Bildern, die gemalt sind, aber aussehen wie Fotos. Das gefiel mir, denn bei dieser Art der Malerei sieht man besonders gut, was abgebildet ist; das kann man nicht von jedem Kunstwerk behaupten.

Außerdem mochte ich das Atelier von Dick Bruna, dem Erfinder von Nijntje (deutsch: Miffy) und Illustrator von Buchumschlägen und Plakaten. Er lebte in Utrecht und mochte es gemütlich. Ich war sogleich versucht, mich nur noch aufs Schriftstellertum zu konzentrieren und ebenfalls solch ein Atelier zu bewohnen, nur um während des Arbeitens auch in einer Hängematte liegen zu können – wie Dick Bruna, wenn er nachdachte.

Atelier von Dick Bruna in einem Dachgeschoss: Es sieht etwas durcheinander, aber gemütlich aus.

Wir kehrten nochmal in einem Restaurant ein, diesmal in ein vietnamesisches in einer etwas abseitigen Straße; der Ausflug lohnte sich. Dann holten wir unsere Rucksäcke und Bücher und Blumenzwiebeln aus dem Schließfach und fuhren zurück nach Hause, wieder in zweieinhalb Stunden und ohne Zwischenfälle. Das war komfortabel.

Mehr über Utrechts autofreie Innenstadt bei Bloomberg (How Utrecht Became a Paradise for Cyclists) und auf einer irischen Website: How much can a city’s street change in about a decade? Before/after images from Utrecht.


Gelesen | Gabriele von Arnim: Das Leben ist ein vorübergehender Zustand. Just an dem Tag, an dem Gabriele von Arnim ihren Mann verlassen möchte, erleidet dieser einen Schlaganfall – und zehn Tage später den zweiten. Er wird aus allem herauskatapultiert: aus seinem Berufsleben und seinen privaten Plänen. Seiner Frau geht es genauso. Was folgt, sind zehn gemeinsame Jahre der Pflege, der Zuwendung und Fürsorge, aber auch der Übergriffigkeit, der Hilflosigkeit und der Balance zwischen Würde und Demütigung. Eine sehr nahe Erzählung, die nicht mit dem Tod endet, sondern zwei Jahre danach.

Gelesen | Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen, aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Imre Kertész, geboren in Budapest, wurde als 14-Jähriger nach Auschwitz verschleppt, kam anschließend nach Buchenwald und in das Buchenwalder Außenlager nach Zeitz. Im Roman erzählt er seine Geschichte im Plauderton eines unbedarften Teenagers: die Fahrten im Zugwaggon, das Sortieren der Häftlinge, die Vernichtung der Mitreisenden, die Arbeit und das Leben im Lager. Schließlich wird er krank – was ihm erst fast das Leben kostet und dann sein Leben rettet. Ein Buch, das noch lange nachhallt.

Gelesen | Tagebuchbloggen: Little Ente ist weg

Gehört | Elitenforscher Michael Hartmann zu Gast bei Jung & Naiv. Ich habe erst die ersten eineinhalb von vier Stunden gehört. Aber die sind schon weiterempfehlenswert. Außerdem möchte ich eine Erkenntnis teilen: Hartmann argumentiert deutlich pro Frauenquote, ergänzt aber eine interessante Beobachtung aus der Forschung. Denn Ergebnis eine funktionierenden Frauenquote ist, dass Nicht-Akademiker:innen benachteiligt werden – oder anders gesagt: Bürgertöchter verdrängen Arbeiterkinder. Der Begriff dazu ist homosoziale Kooptation: Gleich und Gleich gesellt sich gern; Entscheider:innen bevorzugen diejenigen Kandidat:innen, die ihnen ähnlich und deshalb vertrauter sind; Aspekte sind hier beispielsweise Geschlecht, Habitus, gemeinsame Glaubenssätze, Interessen und Sozialisierungserfahrungen. Steht das Geschlecht als Variable nicht zur Verfügung, weil es eine Quote gibt, werden die anderen Merkmale dennoch – mitunter stärker – aufrecht erhalten.


Frühjahrsbereitschaft | Ich wäre jetzt übrigens bereit fürs Frühjahr, insbesondere für den Start ins Gartenjahr. Sie wissen schon: Hände in die Erde und Setzlinge einbuddeln, ein bisschen umgraben, harken und nachbessern – und freudig streicheln, was bereits aus der Erde guckt. Ich wäre auch bereit, in den Blumemmarkt zu fahren, Pflanzen zu kaufen, sie in Töpfe zu setzen und die Töpfe dann hübsch zu drappieren, etwa vor die Haustür oder auf der Terrasse. Ich wäre auch bereit, Rad zu fahren, nicht vermummt wie jetzt in Februar, sondern nur mit einem dünnen Pullover bekleidet, mit warmem Wind im Gesicht. Ich wäre bereit, die Blumenzwiebeln aus Utrecht zu setzen, in Töpfe und Beete, vors Haus und hinters Haus. Für all das wäre ich bereit, an mir soll es also nicht liegen, wenn noch Winter ist.

Immerhin bemerkte ich auf der Rückfahrt aus Utrecht, dass die Sonne nun nicht mehr am Nachmittag untergeht, sondern zu einer Tageszeit, die man fast schon Abend nennen kann. Wir fuhren heim, es war 18 Uhr, und ich konnte noch aus dem Fenster schauen. Das stimmte mich froh.


Wohnwende | In der vergangenen Woche besuchte ich einen Vortrag von Daniel Fuhrhop, einem Mann, der sich mit unsichtbarem Wohnraum beschäftigt. Er nennt sich „Wohnwendeökonom“, was einerseits eine gute Marketingnummer ist. Andererseits liefert er tatsächlich einen interessanten Beitrag zur Wohnungsnot in den Städten. So sagt er – ich gebe hier eine Managementsummary -, dass es ausreichend Wohnraum gebe und dass er nur schlecht verteilt sei: Ein Drittel der deutschen Rentnerinnen und Rentner lebe auf mehr als 100 Quadratmetern. Die Gründe sind klar: Die Kinder ziehen aus, irgendwann verstirbt der:die Partner:in, man ist allein, kann oder möchte sich aber nicht vom Eigentum trennen. Für die Wohnpolitik, so Fuhrhop, sei deshalb ein Schlüssel, Renter:innen bei einem Umzug in ein kleineres Zuhause zu motivieren und zu unterstützen – nur jene, die wollen, versteht sich, aber das seien immerhin einige: Solch ein Eigenheim kann schließlich auch eine Last sein. Die Süddeutsche Zeitung hat diesem Thema jüngst einen Artikel gewidmet: Oma soll umziehen [€].

Eine weitere Möglichkeiten für mehr Wohnraum, so Fuhrhop, sei eine Form der Untermiete; es nennt sich „Wohnen gegen Hilfe“: Student:in oder Geflüchtete:r zieht bei älterem Menschen ein, zahlt keine Miete und verrichtet dafür haushaltsnahe Tätigkeiten. In Belgien gebe es dafür professionelle Agenturen, die ein Casting und damit Sicherheit garantieren und bei Konflikten unterstützen.

Auch die Anzahl der unvermieteten Wohnungen ist nach Fuhrhops Ansicht spannend: Etliche Wohnungen in Städten seien ungenutzt, eine genaue Zahl sei oft nicht erfasst, gerade in kleineren Orten. Auch die seien unsichtbarer Wohnraum. Der Grund sind in kleineren Städten nicht Immobiliengesellschaften, die spekulieren, sondern: Die Vermieterin hat in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht, hat es nicht unbedingt nötig zu vermieten und lässt nun lieber leerstehen.

Insgesamt ein interessanter Vortrag. Die Zahlen für meine Wohnstadt Haltern am See zeigten das ganze Problem des Ortes: Hier gibt es etwas mehr als 10.000 Wohngebäude für 39.000 Einwohner:innen. 6.390 dieser Gebäude, also fast zwei Drittel, sind Einfamilienhäuser, 2.500 sind Zweifamilienhäuser und nur ein kläglicher Rest Mehrfamilienhäuser. Wer hier mehr als ein Kind hat und mit überschaubarem Einkommen eine Wohnung sucht, ist aufgeschmissen, die gibt es nämlich nicht. Stattdessen gibt es viele Ein-Personen-Haushalte in den mehr als 6.000 Einfamilienhäusern.


Schweine | Damit es nicht wieder zu Verwirrungen kommt: Nach dem Schweinebild ist Schluss. Bitte würdigen Sie die präzise kommunizierte Erwartungshaltung des Pionierschweins (Mitte).

Drei Schweine, von links nach rechts: Das Dramaschwein mit vorgereckten Kopf, schnüffelnd. In der Mitte das Pionierschwein, die Pfoten aus die Futterschale aufgestützt, erwartungsvoll. Rechts, in einer Weidenrolle, wohlig liegend, der Dicke.


In diesem Kaffeehaus werden anonym Daten verarbeitet. Indem Sie auf „Ja, ich bin einverstanden“ klicken, bestätigen Sie, dass Sie mit dem Datenschutz dieser Website glücklich sind. Dieser Hinweis kommt dann nicht mehr wieder. Datenschutzerklärung

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen