Be water, my friend
Weltgeschehen | Die nationalen und internationalen Ereignisse erreichen mit aktuell in Hotelzimmern. Die Wahl Trumps verfolgte ich in einem Gasthof im Schwäbischen: Im Morgenmagazin verkündete man erste Ahnungen, in den Abendnachrichten war es gewiss.
Im gleichen Atemzug, auf einem anderen Spielfeld, implodierte unsere Regierung. Ich saß noch im selben Gasthof, verdrückte gerade eine Sushi-Box und gruselte mich bei Aktenzeichen XY, als das Programm abbrach und man verkündete, dass nun Schluss sei mit der Ampel. Vor mir auf dem Hotelschreibtisch standen Sojasoße, Ingwer und Wasabi, und während ich mir Makis reinschob, sprach mein Bundeskanzler zu mir. Der Mann, dessen Amplitude sonst so flach ist wie das Steinhuder Meer, wirkte sogar emotional.
Am Abend fuhr ich aus dem Schwäbischen nach Frankfurt, ins Intercity Hotel am Hauptbahnhof. Ich wurde gewahr, dass der Bundespräsident schon alle FDP-Minister’innen hat. Auf ihren Sesseln sitzen nun andere Leute, manches wurde umsortiert. Ich lag im Bett und verfolgte die Sondersendungen. Menschen sprachen in Mikrofone. Sie waren alle leicht überdreht und machten sich gegenseitig Vorwürfe. Ich war früh aufgestanden und schlief über ihren Redefluss ein; meine Bettdecke war groß und schwer.
Nun ist Freitag, und ich frage mich, was passiert, wenn ich morgen ins Campus Hotel nach Hagen wechsle.
Broterwerb | Der Grund, warum ich durch Hotels tingele: ein Führungskräftetraining östlich von Stuttgart, die Moderation einer Tagung in Frankfurt und der Abschluss meiner Weiterbildung an der Fernuni Hagen. Am Dienstag begann ich im Süden und arbeite mich nun nach Norden vor, bis ich am Sonntagnachmittag wieder nach Hause fahre. Der November ist traditionell ein arbeitsreicher Monat: Fast niemand hat Urlaub, alle sind in den Unternehmen. Vor dem Ende des Jahres möchten meine Kunden noch Vorhaben anschieben, Themen vom Tisch kriegen, sich nochmal sehen und Dinge neu miteinander vereinbaren.
Bahnabenteuer | Die Fahrten mache ich alle mit der Bahn, mit dem Auto ist es mir zu anstrengend. Zuvor habe ich meine Buchungstaktik verändert: Lange Zeit habe ich immer Sparpreis mit großzügigen Umstiegszeiten gebucht, damit die Verbindung möglichst klappt. Das tat sie manchmal, manchmal nicht. Inzwischen buche ich nur noch Bahnverbindungen mit knappen Umstiegszeiten: fünf Minuten in Mannheim, sechs Minuten in Stuttgart – hanebüchene Anschlüsse. Es läuft dann alles, wie es laufen soll: Schon drei Stunden vor Fahrtantritt weiß die Deutsche Bahn, dass ich meinen Anschluss nicht erreichen werde (ach was). Die Zugbindung entfällt: Ich kann nehmen, was kommt – und kann fahren, wann ich will.
„Be water, my friend“, sagte einst der große Philosoph Bruce Lee, und so begegne ich Unzuverlässigkeit mit Unplanbarkeit, bekomme Flexleistung zum Supersparpreis und bin oft sogar früher am Ziel.
(Der Reiseleiter kam diese Woche übrigens nur schwer von der Arbeit nach Hause, weil Betonteile von einer Brücke abfielen und auf die darunter liegende Bahnstrecke bröselten. Deutschland löst sich auf.)
Reiseimpressionen | Bilder von unterwegs.
Gelesen | Die Soziologin Arlie Russell Hochschild hat über Stolz und Scham bei weißen, armen Trump-Wählern geforscht – und liefert die schlüssigste Erkärung für das Wahlverhalten, die ich bislang gelesen habe [€]. Hochschild sagt, es gehe den Menschen nicht nur um ihre wirtschaftliche Situation, sondern vielmehr um den Gefühlsrahmen, in dem sie diese Situation erleben: Es gehe um Stolz und um Scham.
Die Einwohner von Pikeville haben eine sehr stolze Kultur: ländlich, männerdominiert, selbstversorgend, mit einem starken Hang zum Individualismus. Es ist der alte amerikanische Traum: Wenn du ein gutes Gehalt bekommst und deine Familie versorgen kannst, bist du stolz auf dich. Aber wenn das Kohleunternehmen dich entlässt und du dich abmühst, einen gleichwertigen Job zu finden, gibst du dir selbst die Schuld und schämst dich.
Die Forscherin hat einen Zusammenhang festgestellt zwischen der Wirtschaftskraft einer Gegend und der Art und Weise, wie die Menschen fühlen: In den Gegenden, denen es wirtschaftlich schlecht geht, leben zugleich die Menschen, die am stärksten dazu neigen, sich selbst die Schuld für ihre Armut zu geben und sich zu schämen. Donald Trumpf spürt dieses Schamgefühl auf und verwandelt es in Schuldzuweisungen in Richtung der Demokraten, der Klimaschützer, der Zuwanderer, der Wirtschaftsbosse – weg von den Menschen.
Mit Blick auf die Jahre 2016 bis 2020, die Zeit von Trumps erster Präsidentschaft, erzählte mir ein Mann: In diesem Distrikt hat uns Trump wirtschaftlich nichts gebracht. Er sagte, die Kohlejobs würden zurückkehren. Sie sind nicht zurückgekommen. Er versprach uns großartige neue Jobs. Sie kamen nicht. Er gab uns Steuersenkungen, aber die nützen uns nichts. Wir sind arm, wir zahlen sowieso keine Steuern. Was hat er uns also gegeben? Stolz. Er hat uns wirtschaftlich nichts gebracht, aber wir fühlen uns wieder stolz – und unterstützt. Er hat uns von der Scham befreit und die Schuld auf jemand anderem abgeladen, sodass wir uns besser fühlen.
Ich sehe hier durchaus denselben Mechanismus in Bezug auf rechte und konservative Politik. Und es ist ja auch etwas dran: Wir sind als Gesellschaft lange nicht gut umgegangen mit unseren Handwerkern, mit Pflegekräften, Kraftfahrern, den Menschen im Einzelhandel … – der Fokus hat sich in Richtung Abitur und Studium verlagert. Auch jetzt geben wir vielen Menschen ein Gefühl von Abwertung, indem wir sagen: „Den Job macht zukünftig eine KI.“ Auch wir haben Luft nach oben in Sachen Wertschätzung.
Beeindruckend | Ich habe mir diese Woche ein Wellpappenwerk angeguckt. Wahnsinn, die Präzision in der Fertigung, das Wissen der Leute und die Intelligenz, die in den Prozessen steckt. Industrieproduktion ist schon sehr beeindruckend.
Leser:innenfrage | Eine Frage aus der unverbindlichen Themen-Vorschlagsliste: „Gibt es schon ein neues Buchprojekt?“ Die Frage ist schnell beantwortet: Nein. Ich habe zwei Ideen, auf die ich große Lust hätte. Noch größere Lust habe ich allerdings, Bürgermeisterin zu werden und in meiner Stadt etwas zu bewegen. Deshalb liegt mein Autorinnendasein auf Eis.
Gelesen | Faktencheck: Politiker-Aussagen zum Bürgergeld – und was dahinter steckt
Gelesen | Ich habe den Mitbestimmungsnewsletter der Hans-Böckler-Stiftung abonniert. Im aktuellen Newsletter war ein interessanter Artikel: Die Telekom AG hat den Betriebsräte-Preis gewonnen, weil sie für 15.000 Beschäftigte ihr Schichtmodell verbessert hat. In Konzeption und Umsetzung aufwändig – aber sicherlich sehr wirksam, jetzt, wo es einmal steht. Mich würden Kennzahlen zu Krankenstand, Mitarbeiterfluktuation und aus dem Recruiting interessieren, um zu sehen, ob es signifikante Unterschiede zwischen den Zeiten vor dem neuen Modell und jetzt gibt (ich vermute es).
Schweine | Archivschweine aufgrund von Reisetätigkeit.