Eine Reise in den Schneesturm von Aarhus
Schön, dass wir da sind | Es schneit. In großen, weichen Flocken. In kleinen, harten Grieseln. Es schneit von rechts nach links und von oben nach unten, in einzelnen Flocken und in Wolken. Der Wind treibt den Schnee ins Gesicht, in die Augen, von oben in die Jacke. Er lässt die Straßenschilder zittern und klappern, sie vibrieren im Sturm, wüten in ihren Fundamenten. Der Wind drückt den Schnee gegen Fenster und in Hauseingänge, er türmt ihn vor Türen auf. Eiszapfen wachsen; sie wachsen schräg von den Fensterbänken. Auch sie sind auf der Flucht vor dem Wind. Eine Dachlawine stürzt hinab. Mit einem dumpfen Poltern landet sie auf dem Pflaster. Eine Frau springt beiseite, schaut mich an, lacht und sagt etwas auf Dänisch.
Es ist der stärkste Schneesturm seit fast dreißig Jahren in Dänemark, und wir sind dabei. Der Schnee bleibt an der Hose und der Jacke kleben; von hinten sehen wir aus wie immer, von vorne bedeckt uns ein weißes Brett. Ich trage eine Mütze, über der Mütze die Kapuze meines Hoodies, darüber die Kapuze der Jacke. Bis zur Nasenspitze ist alles zugezogen.
Wir kämpfen uns aus Trøjborg hinab in die Stadt. Wir schauen mal, wie weit wir kommen, haben wir gesagt, uns wir kommen ganz gut voran. Es fährt kein Bus, es fährt keine Straßenbahn, aber es fahren auch keine Autos. Kaum jemand wagt sich hinaus, nur wir. Wir fühlen uns wie Ernest Shackleton bei unserer Eroberung des Kirkegårdsvej hinein in die Altstadt.
Die Cafés, Restaurants und kleinen Läden, sie alle bleiben heute geschlossen. „Lukket på grund af snestorm“, steht auf handgekritzelten Schildern an den Türen. Nur Supermärkte und staatliche Museen haben geöffnet. Also stapfen wir zum Kunstmuseum ARoS. Bevor wir das Museum betreten, schlagen wir das Schneebrett von uns ab; in kleinen Platten fällt es in die Drehtür. Wir schütteln uns. Eine Frau lacht und und sagt: „Velkommen til ARoS! Dejligt at du er her!“ Schön, dass Ihr da seid! – das finden wir auch.
Auf dem Rückweg frischt der Sturm weiter auf, treibt Eisstücke in unsere Gesichter, schiebt uns über Kreuzungen und die Steigung am Friedhof hinauf.
Die ganze Nacht über pfeift der Wind ums Haus, wirbelt Schnee in alle Ecken, türmt ihn vor den Fenstern auf, auf den Autos und Mülltonnen, deckt Bänke und Fahrräder zu. Erst, als wir am Morgen unsere Köpfe in die Winterluft stecken, haben Sturm und Schnee nachgelassen. Alles ist weiß und leise.
Lakritz und Knäckebrot | Am Tag zuvor sind wir angekommen, mit Umstiegen in Münster, Hamburg, Flensburg und Fredericia. Ohne Verspätung oder anderes Unbill, alles lief glatt. In der dänischen Bahn gab es Kaffee und Lakritz. Auf dem Rückweg werden wir auch Frühstück serviert bekommen, ein Brötchen mit Marmelade und zwei Scheiben Käse auf einem Teller, auf Wunsch auch Knäckebrot. Insgesamt wird es bei den acht Umstiegen keine Probleme geben. Lediglich auf auf dem Rückweg haben wir eine Stunde Verspätung – eine Stunde auf zwanzig Stunden Fahrt, das ist in Ordnung.
Der Junge | Das ARoS Kunstmuseum, in das der Sturm uns hineinweht, hat einen Regenbogen auf dem Dach. Bei schönem Wetter kann man über die ganze Stadt gucken und sie in allen Farben sehen. Heute drückt sich der Wind durch die Ritzen. Der Schnee klebt schwer am Glas. Aber dennoch lassen sich die Strukturen der Stadt erkennen: das alte Aarhus, die Quartiere, die Kirchen.
In den Stockwerken darunter: der Boy von Ron Mueck, der mir unterschiedliche Gesichtsausdrücke zeigt, je nachdem, wo ich stehe; die Bilder dänischer Maler, Werke von Dalì, Installationen zu Natur und Umwelt. Und ein Café. Wir werden in den kommenden Tagen feststellen, dass kaffe og kage, Kaffee und Kuchen, hier in Dänemark mehr sind als ein Getränk und eine Speise: Sie sind eine Lebenskunst.
Tausche Stroh gegen Schaf | Unsere Wohnung hat kein WLAN – also: Eigentlich schon, aber nicht, während wir dort sind. Der Fernseher läuft auch über Internet, will heißen: Er läuft aktuell nicht. Wir sind auf uns selbst zurückgeworfen, während sich draußen der Schnee türmt. Im Regal steht ein Karton „Siedler von Catan“, dänische Version; wir können die Regeln auch ohne Sprache und spielen drei Partien.
Eisbaden | Zwei Tage später sitzen wir in einem Café am Havnebadet, dem Freibad im Hafenbecken, in dem das Wasser gerade zu Eis gefriert. Dünne, noch nicht weiße, noch transparent gepuderte Platten schwimmen auf der Oberfläche, durchzogen von Rissen. Wir kommen von draußen, vor uns steht kaffe og kage. Es hat inzwischen minus sechs Grad dort draußen, im Windchill auch weniger, minus zehn, minus elf. Unsere Wangen sind gerötet, wir sind grad am Meer entlang spaziert, die Promenade auf Ø entlang, dem Stadtteil im alten Hafengebiet, dessen Namen aus nur einem Buchstaben besteht. Wir haben Architektur geguckt: den Isbjerget, den Eisberg, und das 142 Meter hohe Lighthouse, für dessen Verankerung sie achtundzwanzig Betonpfähle siebzig Meter tief in die Erde gerammt haben.
Plötzlich, wir schauen von unserem Gebäck auf, stehen draußen Zwei in Badekleidung. Dampf steigt von ihren Körpern auf. Sie legen sich nieder in den Schnee, wälzen sich von dem Rücken auf den Bauch wie Seehunde, bewerfen sich mit Schneebällen. Der Reiseleiter beißt in seine Zimschnecke und brummt „Forrüffte!“ Vielleicht meint er „Verrückte“, aber er hat den Mund voller Kanelsnegle; man kann ihn nicht gut verstehen.
Später sehen wir: Das Freibad hat geöffnet, kostenlos. Wir könnten, wenn wir wollten.
Filmtheater | Einmal gehen wir abends ins Kino oder besser gesagt: in ein Filmtheater. Es hat wieder geöffnet nach dem Schneesturm, und ein zweiter Siedler-Abend wäre zu fade, ganz ohne Erweiterungen.
Das Foyer empfängt uns mit der Vergangenheit, der Kinosaal selbst hat nur vier Reihen. Es läuft Napoleon, den wir ohnehin noch sehen wollen, Englisch mit dänischen Untertiteln. Sprache erweist sich allerdings als nicht wichtig in diesem Film: Es wird hauptsächlich gemetzelt, und wenn nicht gemetzelt wird, wird geschnackselt. Wir können gut folgen.
Street Food | An drei von vier Abenden essen wir in der Street-Food-Halle an der Rutebilstation, dem Busbahnhof. Ein Industriehalle, darin Seecontainer, vor den Seecontainern Biertischgarnituren, garniert mit ein paar Eimern Farbe, Lichtern, Girlanden und etwas Street Art. Empfehlung: der große indische Teller mit Paneer Tikka Masala, Samosas, Mango Chutney und zweierlei Brot – und als Dessert ein Crêpes mit Vanillezucker.
Die Summe der kleinen Dinge | In der Street-Food-Halle gibt es eine Kinderecke. Im Bahnhof von Fredericia gibt es einen Wartesaal mit Sofas und Pflanzen – und mit einer Kinderecke. Die Bibliothek von Aarhus, Dokk1, hat Parkplätze für Kinderwagen; die ganze erste Etage ist Kindern gewidmet. Sie können Lego bauen, haben einen Toberaum, einen Kinderspielplatz, Rampen zum Rennen, Eisenbahnen zum Spielen, ihre Steckenpferde haben Ställe, es gibt Konsolen zum Zocken und einen Maker Space für Jugendliche.
Die Mülleimer haben eine extra Ablage für Pfandflaschen, serienmäßig, um es Pfandsammlern einfacher zu machen.
In der Stadt stehen viele Bänke, lange Bänke zum Verweilen und Draufliegen. Der öffentliche Raum gehört – ebenso wie die Bibliothek – den Menschen.
Die meisten Museen, Cafés und Restaurants haben Unisex-Toiletten.
Noch während des Schneesturms wurden die Radwege geräumt. Während der gesamten vier Tage, die wir dort waren, waren viele Radwege frei. Auch Gehwege – zum Beispiel auf dem Friedhof – wurden geräumt. Die Straßen fanden kaum Berücksichtigung. Sie wurden von den Autos freigefahren – oder auch nicht.
Wir benötigten kein Bargeld. Wir haben auch kein Geld abgehoben, besaßen also keine Dänischen Kronen in Scheinen oder Münzen. Bargeldzahlung war nirgendwo vorgesehen; bisweilen gab es nicht einmal Bargeldkassen. Wir konnten (und mussten) immer und überall mit Karte bezahlen.
Aarhus hat Wikinger-Ampelmännchen.
Als am Freitagnachmittag die Busse wieder fahren, sind alle Menschen glücklich. Es ist ein Abenteuer, über die Schneehaufen zu steigen, die die Haltestellen von den Fahrbahnen trennen: ein Haufen vor dem Radweg, ein weiterer vor dem Bus, beide oberschenkelhoch – es ist nicht einfach hineinzugelangen. Doch man hilft sich. Überhaupt sind alle guter Laune.
Gender-Gaga | Wir besuchen auch das Gender Museum Denmark, ein Wunsch des Reiseleiters. Ehemals das Frauenmuseum, widmet es sich nun allen Geschlechtern. Man spürt noch den ehemaligen Schwerpunkt, denn es geht vor allem um Frauen, um Frauen im Verhältnis zu Männern und nur ganz am Rande um Transmenschen und andere Geschlechter.
Interessant ist, dass Dänemark im Gleichstellungsindex gar nicht mal so gut dasteht: Was die wirtschaftliche Gleichstellung und Bildungsgerechtigkeit angeht ja, nicht aber in Bezug auf die politische Teilhabe. Auch hier sind Frauen unterrepräsentiert. Die Daten für viele Länder kann man im Global Gender Gap Report nachlesen.
Kaffe og kage im Gendermuseum:
Gelesen | Ich hatte etwas Zeit im Zug und las Texte rund um die Proteste der Bauern. Oder sind es eher Proteste von Rechtsradikalen, die sich der Bauerndemonstrationen bemächtigen? Der Bauernverband scheint an einer Klarstellung nicht interessiert. Tatsache ist: Rechtsextreme träumen von einem Tag-X-Szenarion, dem Tag des großen Generalstreiks. Dafür kapern sie jedes sich bietende Thema, von Migration über Pandemie, Energieversorgung bis hin zur Subventionierung der Landwirtschaft, verdichten alle Themen zu „Wir gegen die Eliten“, legitimieren damit ihre Aktionen und verschieben mit jeder Aktion Grenzen – wie bei der Bedrohung der Privatperson Robert Habeck in Schlüttsiel. Das Ziel: Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung und schlussendlich Machtübernahme.
Aber zurück zu den Landwirt:innen und dem, was ich las.
- Die deutsche Landwirtschaft unterliegt seit Jahren einem starken Strukturwandel. Agrarunternehmen verdrängen kleine, familiengeführte Bauernhöfe. Mit der Übernahmen steigt die Produktivität – dank Monokulturen und Düngemittel. Laut Angaben des Umweltbundesamtes war die deutsche Landwirtschaft im Jahr 2018 unmittelbar für 7,4 Prozent der deutschen Treibhausgas-Emissionen verantwortlich – unter anderem wegen des hohen Methanausstoßes aus der Viehhaltung (Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung). Die EU fördert also große Flächen und sponsert riesige Ställe und Maschinen. Das Ziel: billige Nahrung.
- Der Vorsitzende des Deutschen Bauernverbandes, Joachim Rukwied, bewirtschaftet im Nebenerwerb 350 Hektar Ackerfläche und bekommt dafür Agrarsubventionen in Höhe von rund 100.000 Euro (Wikipedia via Spiegel Online). Rukwied hält überdies acht vergütete Mandate in Aufsichts- und Verwaltungsräten, darunter bei Südzucker und dem Agrarhandelskonzern BayWa (Bauernverband).
- EU-Förderungen, die Landwirtschaft klimafreundlicher machen sollen, laufen seit Jahren ins Leere.
- Zum Argument „Landwirte sichern unsere Ernährung“: Mehr als die Hälfte unserer Äcker, 58 Prozent, nutzen wir zur Produktion von Tierfutter, weitere 17 Prozent für Energie. In Deutschland gehen jährlich 4,5 Millionen Tonnen Soja in den Futtertrog von Nutztieren, hinzu kommen weitere Getreide. Es braucht drei Kilogramm Getreide, um ein Kilogramm Fleisch zu erzeugen. Deutschland produziert – auch durch die starke Nutzung von Ackerflächen – jährlich 7,3 Millionen Tonnen Fleisch. Davon gehen drei Millionen Tonnen in den Export.
Ich habe den Eindruck: Es soll das öffentliche Bild entstehen, dass es bei dem Protest rund um Dieselsubventionen und Kfz-Steuer um Hans und Helga und ihren kleinen Milchviehbetrieb in Niedersonthofen geht. Möglicherweise geht es aber auch viel darum, Pflöcke einzuschlagen für den Erhalt des Status Quo, weniger für Hans und Helga, sondern für große Flächen und riesige Ställe, für Massentierhaltung, für die Agrarunternehmen, für die Menschen in ihren Aufsichtsräten und alle, die profitieren – vor allem Konserative und Rechte. Dass es in der Bauernschaft auch andere Stimmen gibt, zeigt sich in diesem Aufruf und im Video der Jungen Arbeitsgemeinschaft bäuerlicher Landwirtschaft. Einen weiteren seriösen Einblick gibt der Kontoauszug eines angestellten Landwirts bei ZEIT Online. Mir scheint: Es ist wie immer kompliziert, Bauern sind nicht gleich Bauern, Landwirtschaft ist heterogen. Aber: Es gibt deutlichen Reformbedarf. Nur anders, als konservative Bewahrer und Großbetriebe es sich wünschen.
Ergänzung, 8. Januar: Dazu auch ein sehr lesenswerter Newsletter von Ann-Kathrin Büüsker – Warum die Bauernschaft wütend ist
Gelesen | Recherche „Jule Stinkesocke“: In 2023 kam heraus, dass eine Bloggerin und Behindertenaktivistin mit mehr als 70.000 Followern und etlichen initiieren Spendenaktionen, nicht die ist, die sie vorgibt zu sein. Stattdessen ist „Jule“, die seit 2014 im Internet aktiv ist, wohl ein männlicher Übungleiter, der mit behinderten Jugendlichen gearbeitet hat. Er baute über knapp zehn Jahre und mit großem Aufwand den Fake „Jule“ auf. Dass „Jule“ im Blog ausführlich behinderungsbezogene Fetischen darlegt, macht die falsche Identität noch verstörender. Die Redaktion von Imperialcrimes hat aufwändig Fakten gecheckt.
Gelesen | Zsusza Bánk: Schlafen werden wir später. Márta ist Schriftstellerin. Sie lebt mit ihrem Mann, Dramaturg, und drei Kindern in der Großstadt. Ihre Freundin Johanna ist Lehrerin, lebt im Schwarzwald und arbeitet sich an einer Dissertation über Annette von Droste-Hülshoff ab. Die beiden schreiben sich Briefe – oder nein: Es sind eher Tagebucheinträge, die sie an die jeweils andere richten, Ergießungen in poetischer Sprache, immer wieder mit Einspengseln literarischer Zitate. Beide begehren, was die jeweils andere tut und hat, während sie sich selbst bemitleiden. Das ist schwer zu ertragen, vor allem vor dem Hintergrund der Sprache. Ich wollte die beiden fortwährend schütteln und sie anschreien: „Jetzt reiß dich zusammen und krieg den Hintern hoch!“ Gegen Ende der fast 700 Seiten bewegt sich dann doch was bei den Frauen, immerhin.
Gelesen | Anke Gröner, Kunsthistorikerin, zur Geschichte des Automobils. Es gibt einen interessanten Aspekt.
Und sonst | In den sozialen Medien sah ich kürzlich das Video eines Bären, wie er, zottelig vom Winterschlaf, aus seiner Höhle tapst, benommen und sichtbar unorientiert. So wird es mir am Montag gehen, wenn ich an den Schbreitisch zurückkehre. Genaugenommen wird es schon heute Abend losgehen, wenn ich mich frage, auf welche Uhrzeit ich den Wecker stellen soll.