Herbst im Herzen | Es herbstelt, und ich liebe alles an dieser Herbstelei. In den vergangenen Jahren war ich immer eher wehmütig, wenn der Sommer zu Ende ging: noch ein paarmal Freibad bitte, noch etwas Sonne, noch mehr Fahrradfahrten in kurzer Hose. Dieses Jahr aber, nachdem ich bei 34 Grad meinen Koffer durch Baden-Württemberg zerrte und in stickigen Hotelzimmern schlief, nachdem sich in Meetingräumen eine feine, klebrige Schweißschicht auf meinen ganzen Körper legte und ich mich in unklimatisierten Zügen in ein Omelette verwandelte, begrüße ich jeden Windstoß. Herbst, ich will dich!
Herbst bei der Bahn | Gerade aus Karlsruhe zurück, befinde ich mich nun in Teltow, Brandenburg, südlich von Berlin. Die Deutsche Bahn war zum Jahreszeitenwechsel gewohnt besorgt um ihre Fahrgäste und heizte den Zug auf die Temperatur „Kreta im August“. Ich war vorbereitet und trug T-Shirt.
Die Fahrt nach Brandenburg war prima und kommod, auch wenn die Bahn einen anderen Zug einsetzte und alle Reservierungen obsolet waren. Ich saß, und wir fuhren – was will man mehr. Anderen Reisenden ging es schlechter: Vor dem Bahnhof Hannover war eine Regionalbahn liegen geblieben und verstopfte Gleise und Abläufe. Auf den Bahnsteigen sammelten sich die Menschen zu Hunderten. Mit viel Mitgefühl fuhr ich an ihnen vorbei.
Herbst auf dem Platz | Nachdem ich aus Karlsruhe wiederkam und bevor ich nach Teltow fuhr, war ich in Billerbeck. Dank des Hobbies von KindZwei und KindDrei, Fußball, lerne ich viel vom Münsterland kennen – mit einem besonderen Fokus auf zugige Sportplätze. Ich fror stocksteif, weil ich zu dünn angezogen war, war aber dennoch guter Dinge, denn ich freue mich ja über den Herbst.
Anders als das Bild vermuten lässt, blieben wir trocken. Die Mannschaft verlor nach 1:0-Führung mit einem Tor. Am Vereinsbüdchen gab es Pommes.
In Billerbeck gab es übrigens auch Hinweise auf den Herbst. Der Brunnen auf dem Kirchplatz:
Herbst, Du sollst mich Haushalt lehren zu entbehren, zu begehren
Herbst inKleinmachnow | Den heutigen Tag verbringe ich im Wesentlichen im Hotelzimmer und absolviere zahlreiche Digitaltermine. Morgen moderiere ich zwei Workshops hier vor Ort – und habe danach noch drei Stunden Fernuni. Deshalb bleibe ich eine weitere Nacht in Brandenburg und reise erst am Mittwoch ab.
Als ich gestern Abend ankam, bedankte ich mich bei mir selbst, dass ich mir ein Comfort-Zimmer mit etwas mehr Platz gegönnt hatte. Das war eine gute Idee von meinem Vergangenheits-Ich.
Vorweg muss ich sagen: Ich weiß nicht, ob ich gut kraule. Ich komme voran. Es gibt Menschen, die langsamer sind. Es gibt viele Menschen, die schneller sind.
Ich habe angefangen zu kraulen, indem ich es getan habe. Nach 25 Metern dachte ich, ich ertrinke. Das war nicht zielführend.
Daraufhin habe ich mir Videos auf Youtube angesehen und erkannt, dass ich zu sehr mit den Beinen strampele; es war alles zu unkoordiniert. Ich lernte, dass man sich erstmal auf die Arme konzentrieren soll. Ich kaufte mir Paddles für die Hände und einen Pullbuoy, den ich mir zwischen die Beine klemmte. Mit den Paddles lernte ich, wie ich die Hand am besten eintauche und Druck gegen das Wasser erzeuge. Der Pullbuoy hat währenddessen meine Beine hochgehalten.
Bei Journelle erfuhr ich von Total Immersion, sah mir Videos an und probierte aus, was ich sah: Kopf tief, wenig Beinarbeit, der Moment fürs Atmen. Gleichzeitig stieg Herr Stoer ins Triathlontraining ein und ließ mich an seinem Wissen teilhaben („Gleiten und sich lang machen“).
Als ich die Sache mit den Armen im Griff hatte, kaufte ich mir Kurzflossen und ein Schwimmbrett und widmete mich dem Beinschlag. Mit den Kurzflossen habe ich Speed, das macht viel Freude. Und ich merke – genauso wie bei den Paddles – wie ich den Wasserwiderstand besser nutze.
Jetzt schwimme ich, wie ich lustig bin. Es gibt bessere und schlechtere Tage, aber immer mehr bessere. Manchmal habe ich erst nach 500 oder 1.000 Metern einen guten Atemrhythmus, manchmal sofort. Vielleicht nehme ich irgendwann nochmal richtigen Kraulunterricht. Im Moment bin ich zufrieden damit, einfach zu schwimmen, so wie ich kann.
Schweine | Auf Instagram wurde ich gefragt, wie wir die Schweine vor Raubvögeln schützen. Die Antwort ist: gar nicht. Darauf müssen die Viecher schon selbst achten. Es sind ja Fluchttiere, und in den Anden spannt auch niemand ein Netz über sie.
Stellen Sie mir Fragen. Schreiben Sie Themenwünsche rein. Ich picke mir heraus, was ich mir herauspicken möchte.
Neu zum Zweiten | Christian und ich haben meine berufliche Webseite überarbeitet. Sie ist nun schlanker, Christian hat Design und Bedienbarkeit beigespachtelt, und gemeinsam haben wir einige Veränderungen vorgenommen:
Auf der Seite „Referenzen“ gibt es nun mehr Zitate von Kundinnen und Kunden. Es werden in den kommenden Wochen noch weitere hinzukommen. Ich sammele gerade ein.
Es gibt eine neue Seite „Use Cases“. Dort zeichne ich Anwendungsfälle nach, so dass man sich ein besseres Bild von meiner Arbeit machen kann.
Außerdem haben wir die Menüführung verbessert und die Datenschutzerklärung aktualisiert. Auf der Seminarseite ist nun besser kenntlich, welche Seminare ein konkretes Datum haben und welche ich darüber hinaus im Portfolio habe. Das hat Christian sehr gut gelöst. Überhaupt löst er die Dinge immer ideenreich und pragmatisch; ich schildere lediglich das Problem und kann ihm getrost den Rest überlassen.
Hier und da ruckelt es noch, stationär und mobil. Das ziehen wir nach und nach glatt.
Was Sie nicht sehen können: Die Seite ist nicht nur vorne schick, sondern auch hinten. Ich kann alles super bedienen. Auch dafür ein Herz-Emoji.
Auswärtsspiel | Kundentermin in Karlsruhe – das heißt: ein neues Bahnabenteuer. Oder auch nicht, denn die Fahrt war bequem und launig, überdies pünktlich, ruhig und passend temperiert. Die Fahrt nach Karlsruhe ist seit der Riedbahn-Baustelle kommod, dank einer schnellen Verbindung über Düsseldorf und Wiesbaden.
In Karlsruhe wurde ich kurz kribbelig angesichts der Möglichkeiten.
Die Rückfahrt flutschte auch: Pünktliche Abfahrt in Karlsruhe, zwei Minuten vor der Zeit in Siegburg/Bonn, dort Umstieg nach Essen, in Essen ging es direkt weiter nach Haltern. Eine Fahrt wie aus dem Werbekatalog.
Beifang | „Dat die alle diesen Kaffee saufen. Schmeckt wie Gülle, schmeckt der“, murmelte der Mann, während er am Starbucks am Düsseldorfer Hauptbahnhof vorbeischlurfte.
Auf der Rolltreppe fährt ein Mann mit zwei großen durchsichtigen Tüten. Darin Yum-Yum-Suppe – fünfzig, sechszig Packungen.
Karlsruhe | Eine Tätigkeit in handfestem Umfeld, dort wo Leute nicht (nur) an Schreibtischen arbeiten, sondern auf Schiffen, in Motorräumen, an Bahnschienen, auf Lokomotiven und auf Werksgeländen.
Im Kontext meines Besuchs habe ich die jüngste Geschichte des Binnenhafens in Königswusterhausen erfahren. Noch vor wenigen Jahren galt der Hafen als wirtschaftlicher Scherbenhaufen: 95 Prozent seines Umsatzes machte er mit dem Umschlag von Rohbraunkohle aus der Lausitz. Mit dem Kohleausstieg stand er vor dem Aus. Der Hafen änderte sein Geschäftsmodell zu intermodalem Containerumschlag: Jetzt werden hier industrielle Vorprodukte wie Autoteile für Tesla und Konsumgüter für Berlin vom Wasser auf den Lkw oder die Schiene verladen und umgekehrt. Außerdem vergrößerte er sich und verpachtet die Flächen erfolgreich (Bericht vom rbb). Wieder etwas gelernt.
Der Stahl ist schließlich nur einer der Stoffe, die Deutschland zu einem reichen Land gemacht haben und deren Produktion hierzulande nun infrage stehen. Zu diesen Stoffen gehört auch die Kohle, dazu gehören chemische Produkte, für deren Produktion es viel Energie braucht.
Es gerät dabei nicht nur die stoffliche Welt unter Druck, sondern auch eine Methode: Deutschlands Industrieunternehmen standen lange Zeit in einer engen Verbindung miteinander. Die Stahlindustrie beliefert die Autobauer, die wiederum Kunden der Chemieindustrie sind, die bei Anlagenbauern einkaufen, die sich bei Maschinenbauern eindecken, die spezialisierte Handwerker aus der Region beschäftigen und so weiter.
Ökonomen nennen solche Netzwerke Cluster. […] „Was wir im Moment erleben, ist ein Strukturwandel, von dem nicht klar ist, in welche Richtung er geht. Sicher ist aber, dass er die bisherigen Stärken und die bisherigen Clusterbildungen in der deutschen Industrie, die auf das 19. Jahrhundert zurückgehen, durchweg infrage stellt.“
Schweine | Archivschweine aufgrund von Reisetätigkeit.
Exkursion | Wer mir auf Instagram folgt, hat in den vergangenen Tagen schon Bilder gesehen: Ich war in Berlin. Ich war auf Klassenfahrt.
Ich bin Mitglied im Alumniverein des Dortmunder Journalistik-Studiengangs – zum Verbundenbleiben und auch, um Journalismus und den journalistischen den Nachwuchs zu fördern. Einmal im Jahr organisiert der Verein eine Exkursion für seine Mitglieder. Das Konzept: Leute, die mal in Dortmund Journalistik studiert habemn, besuchen andere Leute, die das auch mal getan haben.
Das ARD-Hauptstadtstudio liegt in Sichtweite zum Reichstag. Es gibt für jede Partei im Bundestag ein Ressort mit Journalistinnen und Journalisten, die sich nur mit dieser auseinandersetzen – und zusätzlich für jedes Ministerium. Markus Preiß erzählte uns, wie er sich auf Interview mit Spitzenpolitiker:innen vorbereitet. Wir diskutierten über Interviewstrategien – alle Anwesenden sind ja ausgebildete Journalist:innen oder Journalistikwissenschaftler -, über Veränderungen in der Berichterstattung und inwieweit die ARD-Journalisten mit ihrer Themensetzung politische Strömungen verstärken, zum Beispiel im Kontext Migration.
Mit dabei war auch Nora Schultz vom Deutschen Ethirkrat. Sie stellte uns ihre Arbeit und die des Ethikrates vor. Der Ethikrat wird von der Politik zu Stellungnahmen angefragt, setzt sich aber auch selbst Themen. Das jüngste Thema „Klimagerechtigkeit“ hat der Rat sich selbst gegriffen. Der Anstoß kamauf einer Veranstaltung mit Schülern und Schülerinnen, bei der es eigentlich um die Erfahrungen der Jugendlichen in der Corona-Zeit ging. Am Nachmittag fand das Format „Schüler beraten den Ethikrat“ statt; dort kam das Thema mehrmals zur Sprache, so dass der Ethikrat es aufgriff. Sehr verkürzt sagt die Stellungnahme übrigens: Die Politik möge weniger moralisierende Kommunikation an Einzelne richten, sondern – statt die Verantwortung aufs Individuum zu schieben – selbst stärker ins Handeln kommen und den regulatorischen Rahmen setzen.
Den Abend verbrachten wir mit geistigen Getränken und intellektuellen Diskursen, vielleicht aber auch nur mit Gossip aus der Journalismusblase. Suchen Sie sich etwas aus.
Am nächsten Tag marschierten wir zunächst zum Bundespresseamt. Dort sprachen wir vor allem über Social Media. Die Profile der Bundesregierung und des Bundeskanzlers auf Facebook, Instagram, Tiktok, X und Mastodon haben pro Tag mehrere tausend Interaktionen. Die allermeisten sind jedoch Pöbeleien, Trolle und möglicherweise auch Bots; die Profile sind quasi eine 24/7-Montagsdemo. Jeden Monat gehen dutzende Anzeigen ans Sicherheitsreferat. Die Menschen, die die Profile betreuen, tun dies nur stundenweise, damit es nicht zu destruktiv wird. Wir diskutierten, ob es demokratietheoretisch nicht angebrachter sei, gar keine Kommentare zuzulassen. Das Social-Media-Team hält währenddessen die Moral aufrecht, indem es sich immer wieder sagt, dass die meisten Menschen nur passiv mitlesen – und für sie moderieren sie tapfer.
Unsere nächste Station war bei der Deutschen Umwelthilfe. Das sind die, die an der Aufdeckung des Dieselskandals beteiligt waren und in dieser Sache immer noch Klagen führen. Die DUH hat außerdem Becherpfand in Fußballstadien eingeführt und das Recht von Mieterinnen und Mietern erwirkt, Balkonkraftwerke anbringen zu dürfen. Matthias Walter berichtete über die Arbeit – und gab Einblicke, wie Landesregierungen und Konzerne versuchen, Gesetzgebung zu umgehen. Interessant war die Info, dass die A/fD auf kommunaler Ebene stark versucht, Naturschutzprojekte und Zweckverbände unter dem Motto der Traditionspflege zu unterwandern.
Das Gebäude der Umwelthilfe am Hackeschen Markt hat übrigens ein wunderschönes Treppenhaus.
Vom Hackeschen Markt gingen wir zu Deutschen Welle, ein schöner, etwas mehr als halbstündiger Marsch vorbei an der Gedenkstätte Berliner Mauer zum Brunnenviertel.
Die Arbeit der Deutschen Welle und ihrer Akademie war mir bislang gar nicht so präsent, muss ich ehrlicherweise zugeben. Ich höre ab und an das Radioprogramm oder stoße auf einen Podcast. In Hotelzimmern im Ausland habe ich das Fernsehprogramm geschaut. Aber sonst hatte ich wenig Berührungspunkte. Umso interessanter war das, was ich erfuhr. Die DW-Akademie betreut Projekte in mehr als 70 Ländern, die das Recht auf freie Meinungsäußerung fördern und helfen, sich aus Basis von Fakten unabhängig zu informieren. Sehr erfolgreich ist das Projekt Mapped out, das politische Konflikte anhand von Karten erklärt. Ich habe die deutsche Seite verlinkt; die Videos gibt es auch auf Englisch, Spanisch und Arabisch. Auf Spanisch erreichen sie in Südamerika mehr als eine Million Abrufe pro Episode. Das liege auch daran, dass sich Russia Today, ein vom russischen Staat gegründetes Auslandsfernsehen, sehr bemühe, sich als Informationssender in Südamerika und auf dem afrikanischen Kontingent zu etablieren. Die Deutsche Welle setzt hier einen Kontrapunkt.
Stark nachgefragt seien außerdem Themen für Minderheiten, die die Leute nicht auf ihrem lokalen News-Markt bekämen – zum Beispiel Reportagen und Berichte zu LGBTQ oder Frauenrechten. Gerade in Afrika würden die queeren Themen der Deutschen Welle stark abgerufen.
Ein anderes Format der Deutschen Welle ist Shabab Talk, ein Gesprächsformat mit dem deutschen Journalisten Jaafar Abdul Karim. Es thematisiert gesellschaftspolitische Themen auf Arabisch und richtet sich an junge Menschen aus dem arabischen Kulturkreis. Hier mal eine Zusammenfassung auf Deutsch.
Ein weiteres Projekt DW-Akademie nennt sich „Sikika“, was auf Kisuaheli so viel heißt wie „gehört werden“. Es ist ein Audioprojekt im Kakuma Refugee Camp, einem Flüchtlingslager im Norden Kenias. In Kakuma und der benachbarten Siedlung Kalobeyei leben mehr als 280.000 Geflüchtete, viele aus dem Sudan. Die Deutsche Welle hat Männer und Frauen, die im Lager leben, ausgebildet, journalistisch zu arbeiten, verlässlich über Vorgänge im Camp zu berichten, Reportagen zu verfassen und Geschichten zu erzählen. Es geht oft um grundlegende menschliche Bedürfnisse wie Gesundheit, Nahrung, Wasser und Bildung, aber um Sport, Kultur und der Verständigung zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen. Alle zwei Wochen entsteht ein einstündiges Programm für die Geflüchteten im Camp. Ziel ist es, Kommunikationshierarchien aufzubrechen und die Geflüchteten zu befähigen, sich eine eigene Meinung zu bilden. Außerdem werden Frauenrechte gestärkt, denn es gibt auch viele Reporterinnen.
Das war mein Ausflug nach Berlin. Ich kam geistig satt zurück.
Stadtklima | Ich berichtete von den sechs gesunden Kastanien, die hier in der Stadt gefällt werden sollten. Eine Online-Petition hat innerhalb weniger Tage mehr als 4.000 Unterschriften erreicht, Bürgerinnen und Bürger demonstrierten an den Bäumen, es wurden Kastanien mit eingeritzten Herzen verteilt, der WDR berichtete (ab Minute 14), die lokalen Fraktionen positionierten sich, der Bau- und Digitalisierungausschuss tagte in einem Saal voller Publikum und beauftragte schließlich die Verwaltung, eine neue Planung zu erarbeiten. Eine tolle Sache, großes Engagement hier in der Stadt, gelebte Demokratie.
Oldie but Goldie | Das Video, ein knackiger Viereinhalbminüter, ist mir dieser Tage wieder untergekommen. Wer seine Organisation wiedererkennt, hebe die Hand in den Kommentaren.
Stillstand | A propos Stillstand: Zwei Begebenheiten noch aus der Erlebniswelt Infrastruktur. Nachdem ich den Zwei-Striche-Coronaclub am Dienstag verlassen hatte, fuhr ich zum Kunden nach Duisburg. Es ist eine Strecke von 69 Kilometern, hauptsächlich Autobahn. Man könnte also in weniger als einer Stunde dort sein. Auf dem Hinweg benötigte ich eineinhalb Stunden, auf dem Rückweg zwei – dank Brückenbaustellen, Nicht-Brücken-Baustellen und temporärer Sperrungen.
Einen Tag später sitze ich im Zug nach Berlin – oder auch nicht. Stellwerksstörung in Wattenscheid, Reparatur an einem Signal, dies und das – mein Zug kommt jedenfalls nicht. Die ICEs kommen allesamt gar nicht, sie werden umgeleitet, der Regionalverkehr verspätet.
Mit hunderten anderen Menschen, die nach Berlin und Hamburg wollen, stehe ich in Bochum am Gleis. Wir schlagen uns mit einem RE nach Dortmund durch. Es ist Donnerstagmorgen, Berufsverkehr und eine gesellige Angelegenheit. In Dortmund warten wir auf den Fernverkehr, irgendeinen. Er kommt auch, aber kurzfristig nicht auf Gleis Acht, sondern auf Gleis Zwanzig. Man rennt, man hastet. Die Rolltreppe zu Gleis Zwanzig fährt nur bergab, nicht hinauf. Alte Menschen mit großen Koffern stehen ratlos davor. Man hilft sich, man arrangiert sich. Der ICE fährt zwischen Ankündigung und Ankunft nochmal zehn Minuten Verspätung ein. Das ist erstaunlich, aber auch gut, so schaffen es alle hinauf zum Gleis und können mit. Ankunft in Berlin mit 55 Minuten Verspätung, fünf Minuten unter der Entschädigungsschwelle. Das ist immer tragisch.
Der Rückweg verlief ohne Zwischenfälle. Das muss auch erwähnt werden und wird natürlich in weniger Worten gekleidet als das, was nicht klappt. Stellen Sie sich einen ruhigen Sitz in einem halbvollen Waggon vor, ich lese, arbeite ein bisschen, höre Musik und nicke kurz ein. Der Umstieg in Bochum pünktlich, die Ankunft in Haltern mit den letzten Sonnenstrahlen.
Gehört | Während ich mich in Verkehrsmitteln befand, hörte ich das Interview von Tilo Jung mit dem Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk. Sie sprechen über Ilkos Jugend und Leben in der DDR, die Wendezeit, das Verständnis von Demokratie und Freiheit, Ursachen für Frust und Unmut im heutigen Ostdeutschland und seine Sicht auf die AfD und das BSW. Interessant.
Gelesen |Eine Rezension des Films „Die Akte Joel“. Der jüdische Großvater des Sängers Billy Joel besaß eine Firma, die 1938 arisiert wurde. Der Käufer: Josef Neckermann.
Schweine | Sonntagmorgen nach einer wilden Nacht. Das Pionierschwein mit klarer Körpersprache an der Futterschale, der Dicke ein Fell gewordener Vorwurf: Schon halb Zehn und noch kein Frühstück. Inakzeptabel.
Beklagung | Ich möchte bemängeln, dass der diesjährige Sommer-Herbst-Übergang recht abrupt ist. Mir fehlt die Temperatur für kurze Hose + Hoodie. Stattdessen wechselte das Leben unversehens von kurze Hose + T-Shirt zu lange Hose + Hoodie.
Außerdem: Die offenen Hauslatschen gegen geschlossene Hauslatschen getauscht – wegen Kalte-Füße-Alarm. Wärmflasche in Betrieb genommen.
Befinden | Das Befinden bessert sich weiter. Es geht aufwärts. Nur meine Stimme ist noch sonor. Ich werde schnell heiser. Zurzeit bin ich vor allem eine gute Zuhörerin.
Blumenfällung | Die Sonnenblume, die sich zu Beginn des Sommers selbst ins Hochbeet gesät hat, ist Kompost. Die Blume ist verblüht, Meisen haben sich schon Kerne aus den Blütenscheiben gesucht. Heute fällte ich die Blume mit einer Säge: ein Stamm, wie ein Baum. Die Meerschweine und die Vögel sollen sich noch nehmen, was sie mögen.
Ereignislosigkeit | Drüber hinaus geschah wenig. Wir sitzen hier hauptsächlich im Haus herum und rekonvaleszieren.
Ich gab ein Webinar zum Konfliktmanagement, drei Stunden bei einem Unternehmen für Ingenieurs- und IT-Dienstleistungen. Wir begannen mit der eigenen Konfliktsozialisation, also der Streitkultur in der Herkunftsfamilie, und arbeiteten uns zum Konflikt hinter jedem Konflikt vor. Da gibt es acht mögliche Varianten, acht Wesenszüge, auf denen ein Konflikt gründen kann: Mal clashen Werte, mal ist es ein Beziehungskonflikt, in dem man in der Sache zwar durchaus übereinstimmt, aber die Art und Weise, wie der andere …! Und so weiter – wir endeten mit Lösungsstrategien: Handreichungen, um Dissonanzen gar nicht erst groß werden zu lassen oder bestehende Konflikte zu durchbrechen.
Am vierten Tag seiner Erkrankung erhob sich der Reiseleiter und verspürte den unbändigen Drang, Hausarbeiten zu erledigen. Ich ließ ihn gewähren. Es ist nun wirklich schön sauber hier. Am sechsten Tag meiner Erkrankung fuhr ich in den Rewe und kaufte einen Kühlschrank voll ein, noch mit Maske. Niemand schaute mich seltsam an, es lief auch niemand vor mir weg.
Kuchensituation | Im Rewe stolperte ich über einen Korb Pflaumen und bekam augenblicklich Appetit auf Pflaumenkuchen.
Die Pflaumenkuchenherstellung kam in diesem Spätsommer bislang arg kurz. Ich beschloss spontan, daran etwas zu ändern. Die Haushaltsmitglieder freuten sich.
Gelesen | Remembering the Hero Dogs of September 11th. Ein Artikel über die Mantrailer-Hunde, die nach dem Anschlag auf das World Trade Center Dienst taten. Weil sie nur Leichen fanden, wurden sie depressiv, weshalb sich zwischendurch Menschen in den Trümmern versteckten, um ihnen Erfolgserlebnisse zu verschaffen und die Stimmgun zu heben. Ganz herzig: Golden-Retriever-Weibchen Bretagne wurde nach ihrer Pensionierung Zuhörhund in der örtlichen Grundschule.
After retiring from search and rescue, she went on to work at a local elementary school as a reading dog, giving shy students someone to read to.
Aus der Stadt | Aufruhr hier in der Stadt: In einer der Straßen in der Innenstadt sollen sechs große Kastanien gefällt werden, allesamt gesunde Bäume. Die konservative Stadtführung möchte die Straße zu einer Promenade umbauen; die Planungen seien dergestalt, dass die Bäume dies nicht überleben würden, also müsse man sie vorsorglich fällen.
Malade | Danke für zahlreichen Genesungswünsche auf den Plattformen.
Heute Morgen hob der Reiseleiter seinen Kopf aus dem Kissen, blickte mich an und murmelte mit mattem Stimmchen: „Wir wissen ja alle: Bei Männern ist es nochmal schlimmer.“ Dann sank er wieder nieder.
Seit gestern hat er auch zwei Striche. Sie ahnen, was ich mitmache.
Wir überlegen, unser Haus umzubenennen in „Sanatorium Zu den Drei Goldenen Schweinen“. Genesung und Rehabilitation in freundlicher Begleitung. Nachfolgend Symbolbild.
Stillarbeit | Leichte Schreibtischarbeit. Die meisten Termine habe ich krankheitsbedingt abgesagt. Ich habe wenig Stimme. Das ist in meinem Beruf misslich.
Ansonsten ist das Befinden stabil. Nachdem das Virus einen Kickstart hingelegt hat, ist die Sache in einen mittelschweren Infekt übergegangen. Ich fühle mich leicht matt, allerdings mit einem dynamischen Unterton. Ausschließliches Herumliegen ist mir zu langweilig; mein Denken ist nicht porös. Das ist gut. Bloß kein Long Covid kriegen, ist hier das Motto. Ich gehe leichten Tätigkeiten nach und nutze die Zeit, um stimmlos und in Stillarbeit Dinge zu tun, die mir Freude bereiten und keine Anstrengung erfordern. Unter anderem überarbeite ich meine berufliche Website. Aus der bin ich ein bisschen herausgewachsen; Christian und ich arbeiten derzeit an einem sanften Relaunch.
Blick aus dem Fenster | Das Wetter macht derweil einen auf April. Während ich meine Quarantäne zwischen Ober- und Untergschoss verbrachte, wurden draußen Regen, Sonne, Hagel, Sturm und wieder Sonne gereicht – in iterativen Schleifen. Ich bekam Frühlingsgefühle, kontaktierte meine Bloembollen-Dealerin und bestellte Wildtulpenzwiebeln.
Besuch | Außerdem bekam ich unverhofft Besuch. Ein großer, flauschiger Falter hatte sich meinen Garten ausgesucht, um auf einem Fahrradreifen zu ruhen.
Ich identifzierte den Besuch als Windenschwärmer und freute mich.
Gelesen |Stephan Anpalagan: Kampf und Sehnsucht in der Mitte der Gesellschaft. Ein Buch über das Einwanderungsland Deutschland, über Ausgrenzung, Rassismus und Integration, über die feinen Nuancen der Zugehörigkeit, über Leitkultur und Vorurteile. Das Buch hat einen deskriptiven Ansatz, fasst Debatten zusammen, deckt Widersprüche und Häufungen auf. Anpalagan zitiert viel. Für meinen Geschmack analysiert er ein bisschen wenig. Das Buch hat daher nicht die Erkenntnistiefe wie El-Mafaalanis Intergrationsparadox. Dennoch eine erhellende Zusammenfassung neurotischer Deutschtümelei.
Gesehen |The Father mit Anthony Hopkins und Olivia Coleman, noch bis 5. Oktober in der ARD-Mediathek. Fünf von fünf Sternen.
Vorweg | Herzlichen Dank für die Windstärke 17, die mich in den vergangenen Tagen erreichte. Noch dazu so hübsch verpackt und mit begleitender Karte. Eine tolle Überraschung!
Auswärtsspiel | In der vergangenen Woche war ich in zwei Städten in Nordrhein-Westfalen unterwegs und habe mit klugen Menschen gearbeitet. In zwei ganz unterschiedlichen Branchen ging es um gute Prozesse – einmal mit Blick darauf, Einfluss auf notwendige Zuarbeiten zu nehmen, ein anderes Mal mit Blick auf die Vernetzung von Abläufen und auf Potential durch Automatisierung und Künstliche Intelligenz.
Ich gehe mal kurz auf das Eine und das Andere ein. Wen das nicht interessiert, der möge einfach ein Thema weiterwandern.
Wenn es um Zuarbeiten geht, die andere nicht erledigen, die aber wichtiger Teil eines Prozesses sind und die ein Team braucht, verfällt dieses Team in aller Regel in einen Klagemodus: „Die anderen machen nicht!“ Man ist betrübt und frustriert, nicht selten auch stinkwütend. Das ist total verständlich. Was also tun? Die Lösung wird meist in Apellen gesucht: „Macht doch mal!“ – geäußert in Meetings, in kleinen und großen E-Mail-Verteilern, in Eskalationen. Das führt in genau null Prozent der Fälle zu einer Veränderung des Verhaltens.
(Einzige Ausnahme: Es wird Druck aus der Hierarchie drauf gegeben, dann klappt es für einen Moment. Lässt der Druck wieder nach, lässt auch die Zuarbeit sofort nach.)
Zu klagen und auf die anderen zu zeigen, ist ein nachvollziehbarer Reflex – schließlich hat man klar gesagt, was man braucht, und die anderen liefern einfach nicht. Gleichzeitig ist es wunderbar leicht, auf Andere zu zeigen. Denn es klammert den eigenen Anteil an der Nicht-Zuarbeit aus.
Die schlechte Nachricht ist in diesem Fall: Wer etwas will, muss etwas verändern. An sich und seinem Handeln – auch wenn er sich sicher ist, dass die Verfehlung auf der anderen Seite liegt. Die gute Nachricht ist: Wer sich ernsthaft mit der Perspektive des Gegenübers beschäftigt, schafft allein damit schon eine Veränderung. Niemand macht aus reiner Boshaftigkeit schlechte Arbeit.
Sehr hilfreich, um über Ansatzpunkte nachzudenken, andere zur Zuarbeit zu bewegen, ist das 3K-Modell von Hugo Kehr. Das Modell fußt auf empirisch gestützter Motivationstheorie und schaut auf Kopf, Hand und Bauch, die zusammenspielen, damit man Lust auf eine Aufgabe hat. Der Kopf steht für das Verständnis von Sinn und Ziel, die Hand steht für die Kompetenzen, die man für eine Aufgabe braucht, und der Bauch für die emotionale Passung, für die Freude an der Aufgabe. Ist alles vorhanden, dann ist man motiviert für die Aufgabe (und möglicherweise entsteht sogar Flow, das beglückende Gefühl völliger Vertiefung in eine Aufgabe). Fehlen Aspekte – Kopf, Hand oder Bauch -, ist die Motivation niedriger bis nicht vorhanden.
Bei fehlenden Zuarbeiten sind meiner Erfahrung nach alle drei Aspekte des Modells betroffen: Es fehlt oft an Kontextwissen zur Aufgabe, am Sinn dessen, was von einem erwartet wird. Das Ziel der Zuarbeiten ist nicht klar definiert: Wozu trägt meine Arbeit genau bei? In welcher Form, welchem Fromat soll sie erfolgen? Zusätzlich mangelt es an Handlungswissen, um die Zuarbeit zu bewerkstelligen: Wie geht das genau, was muss ich tun, um den Anforderungen zu genügen? Manchmal mangelt es schlichtweg auch an praktischen Dingen wie Berechtigungen, Werkzeugen oder Software, um die Aufgabe zu erledigen. Zusammengefasst kann man sagen: Derjenige, der fordert, setzt zu viel voraus – zu viel Know-how und zu viel Kontextwissen. Hinzu kommt, dass die Aufgabe nicht als spaßvoll empfunden wird; positive Rückmeldungen gibt es auch kaum – schließlich ist die Zuarbeit selbstverständlich. Im Workshop haben wir die Ebenen erkundet und Lösungen erarbeitet, was wir der anderen Seite anbieten können, um ihnen die Zuarbeit zu erleichtern oder erst zu ermöglichen.
Beim zweiten Termin, als es um die Vernetzung von Prozessen, Automatisierung und künstliche Intellligenz ging, ist mir nochmal aufgefallen, welche großartigen Potentiale für unsere Arbeitswelt darin stecken. Es ging um ITSM-Prozesse, also die Abläufe in IT-Unternehmen, mit denen es gelingt, dass die Kunden die Hard- und Software, die sie fürs Arbeiten brauchen, einfach bestellen können; dass die Anwendungen, Server, Datenbanken und die Netzwerkinfrastruktur immer up-to-date sind und dass schnell und nachhaltig repariert wird, was kaputt ist. Ich habe mittlerweile einen guten Einblick in diese Thematik, auch durch eigene ITIL-Weiterbildung, und es ist mir eine Freude, mit Unternehmen auf mögliche Innovationen zu schauen. Hier schlummert ein großes Potential – gerade wenn man Prozesse nicht einzeln, sondern verneztzt betrachtet. Wir können Abläufe, die heute noch ein Mensch macht, der Technik übergeben, damit die Menschen wertvollere Dinge tun. Gleichzeitig ist die Technik besser und fehlerfreier darin, Routineaufgaben zu erledigen.
Gedanklicher Einschub: In Deutschland schauen wir gerne mit sorgenvollem Blick auf neue Technologien. Das Sorgenvolle löst sich dann schnell von seinen guten Gründen und bekommt ein Eigenleben. Es wird immer größer und mächtiger, bis die neue Idee nur noch aus Bedenken, Stolperfallen, drohendem Unheil und größtmöglichen Schaden besteht. Natürlich ist es wichtig, Risiken zu betrachten – allerdings mit einem neugierigen und erkundenden Blick, nicht mit einem Exorzismusreflex, der den eigenen Status Quo vom bösen Geist des Fortschritts befreien möge.
Als ich wieder zu Hause war, wurde ich gefragt: „Wozu braucht man dich denn bei sowas? Die Experten sitzen doch alle schon am Tisch!“ Mein Auftrag war in dem Fall:
Die Workshoptage so zu strukturieren, dass einerseits ausreichend Raum für Gedankenaustausch war, andererseits die Diskussionen nicht aus dem Ruder laufen, sondern zum Ziel des Workshops beitragen.
Methoden anzubieten, um von A nach B zu kommen, vom Inselwissen einzelner Experten zu einem gemeinsamen Verständnis aller Prozesse – und weiter zu Ideen für inselübergreifende Verbesserungen.
Für ein gutes Miteinander zu sorgen und nicht nur an der Sache zu arbeiten, sondern auch die Beziehung untereinander zu stärken.
Für Ergebnisse zu sorgen, die konkret genug sind, um nach dem Workshop ohne viel Aufhebens mit der Umsetzung zu beginnen.
Ich denke, dass es gut gelungen ist. Jedenfalls gibt es konkrete Ergebnisse, darüber hinaus viele Ideen, wir waren pünktlich fertig, und die Leute hatten Freude bei der Arbeit.
Ein Hauch von Herbst | Frühnebel, Kastaniengeruch, Blätterrascheln. Es ist noch Sommer, aber mit einem Mal ist eine greifbare Ahnung von Herbst da. Eine feuchte Schwere legt sich auf den Tag, eine kühle Leichtigkeit unterwandert die Hitze.
Münzbedarf | Ich fuhr Bahn, übernachtete in einem Hotel, nutzte ein Schließfach am Bahnhof. Zweimal wurde ich mit altenativlosem Münzbedarf konfrontiert: Das Schließfach am Bahnhof wollte vier Euro von mir, in Münzen, durch einen Schlitz. Der Getränkeautomat im Hotel wollte zwei Euro fünfzig, auch durch einen Schlitz. Ich musste mir jeweils passendes Münzgeld herbeitauschen. Wie einst zu Kaisers Zeiten, als gäbe es kein Mobile Payment, als lebten wir in diesem Land unter einem Stein.
Wortgeschenke | Jemand sagte diese Woche zu mir: „Die Idee muss ich erstmal marinieren.“ Welch schöner Ausdruck! Den werde ich in meinen Wortschatz übernehmen. Ich habe öfter Ideen, die ich erstmal noch einlegen möchte, um zu sehen, ob sie Geschmack annehmen oder ob sie fad bleiben.
Jemand anderes schenkte mir das Wort „Methodenkarneval“ – ein Ausdruck für das kopflose Einführen von Tools und Methoden, ohne dass es eine Idee dahinter gibt (eine marinierte Idee!) und ohne dass sich etwas an Kultur und Haltung in der Organisation und bei ihren Mitgliedern ändert.
Premiere | Das Freibad ist geschlossen. Ich bin untröstlich. Am vergangenen Freitag wollte ich noch einmal hin, eine Runde schwimmen. Ich war zu spät – noch nicht zu spät für alles, aber zu spät für diesen Tag. Ich hatte vergessen, dass das Bad jetzt, am Ende des Sommers bereits um 20 Uhr schließt, nicht wie im Juni und Juli erst um 21 Uhr. Mit dem Rad fuhr ich eine Runde durch die Felder und beschloss, zwei Tage später, am letzten Öffnungstag, noch einmal ausgiebig schwimmen zu gehen.
Dazu kam es nicht. Denn am Sonntag wachte ich morgens auf und fühlte mich erstaunlich elend – gemessen daran, dass ich am Vorabend noch keinerlei Krankheitsgefühl hatte. Das Elend wurde bis zum Nachmittag noch elendiger. Ich war komplett matschig, mir war heiß, ich hustete, und mein Kopf wurde ein Ball aus Beton. Ich kroch in den Hauswirtschaftsraum, fummelte Corona-Tests aus einem lange nicht mehr gebrauchten Korb und siehe da: zwei Striche. Meine Corona-Premiere. Nach viereinhalb Jahren Pandemie bin ich nun auch dabei.
Verrückte Angelegenheit | In dieser Woche habe ich etwas Fantastisches erlebt: Ich bin Bahn gefahren, und alles war so, als wäre unsere Infrastruktur nicht marode. Ich stieg in den Zug, er war pünktlich und klimatisiert. Ich bekam alle Anschlüsse; die Fahrt war ausgesprochen komfortabel. Dank der Riedbahn-Sperrung kam ich sogar schneller von Haltern nach Karlsruhe als jemals zuvor: Es gibt nun eine Direktverbindung von Köln nach Wiesbaden, die über Mannheim nach Karlsruhe weiterfährt. Ich war kurz eingenickt, nur einen Wimpernschlag lang, und ganz irritiert, dass ich mich plötzlich in einer anderen Stadt, ja, in einer komplett anderen Gegend befand. Man muss nichts tun, nur gut gekühlt dasitzen.
Die Rückfahrt war dann noch irrsinniger: Ich war 45 Minuten schneller zu Hause als geplant. Denn ich plane immer mit mindestens zwanzig Minuten Umstiegszeit. Das war in diesem Fall aber gar nicht notwendig. In Köln erreichte ich mit nur zwei Minuten Umstiegszeit einen IC, in dem man mir auch noch eine kalte Cola brachte, in Recklinghausen kam direkt der Regionalzug, und ich war eine Dreiviertelstunde früher zu Hause.
Die letzten Meter vom Dorfbahnhof nach Hause:
Wetter zum Ersten | Immer, wennn ich in Karlsruhe bin, ist es abartig heiß. Egal, ob ich im April, im Mai, im August oder im Oktober dort bin: Es liegt eine drückende Hitze über der Stadt, die Beine werden schwer, das Gehirn weich, und ich möchte eigentlich nur ins Sonnenbad eintauchen, mit einem Calippo in der Hand. Die Karlsruher kennen sich offensichtlich gut mit diesem Zustand aus: Die Straßenbahn war klimatisiert, das Hotelzimmer auch, die Räumlichkeiten beim Kunden ebenfalls. Ich litt also wenig.
Diese Wettersache begegnet mir auch in anderen Städten, allerdings in der entgegengesetzten Richtung: Immer, wenn ich nach Berlin fahre, regnet es bei vier Grad und steifem Ostwind – kleine, harte Tropfen prallen wie Pfeile in mein Gesicht, und ihc fühle mich ungemütlich, während die Großstadt um meinen Kopf braust.
(Meiden Sie Berlin Mitte September, Anfang Oktober und Mitte November. Dann bin ich dort.)
Einer Freundin von mir geht es ähnlich, nur anders. Sie nannte sich kürzlich Die reisende Wünschelrute: Überall, wo sie hinkommt, findet sie Wasser, das Wasser findet sie, und es regnet leidenschaftlich.
Nina Chuba | Gemeinsam mit KindZwei und KindDrei besuchte ich ein Nina-Chuba-Konzert. Die Hälfte der Besucherinnen war irgendwas zwischen sieben und sechszehn Jahren alt und trug die gleiche Frisur wie Frau Chuba.
Es gab Nebel und Bässe, Rap und Schwermut, Konfetti-Kanonen und ein bisschen Feuer.Nach eineinhalb Stunden und einer Zugabe war familienfreundlich Schluss. Das Konzert findet sich hundertfach auf Handys wieder. Manch Besucherin hat es mehr durch den Bildschirm betrachtet, als dass sie live dabei war.
Eine solide Leistung. Positiv fiel mir auf, dass in der Band vier Frauen sind: Trompete, Posaune, Saxophon und Gitarre.
Auf dem Rückweg zum Auto gerieten wir in einen wilden Sommerregen. Erst blitzte es nur, dann tröpfelte es, dann schüttete es aus Kübeln. Das Feld, auf dem wir parkten, auf dem alle parkten, wurde zum Tough-Mudder-Contest. Völlig durchnässt, ich zusätzlich vermatscht, weil ich ausgeglitten war, erreichten wir den Wagen. Rundum ein Erlebnis.
Wetter zum Zweiten | Von mir aus ist jetzt auch gut mit Hitze. Vierundzwanzig Grad sind ganz wunderbar, bei vierundzwanzig Grad ist man nicht vollkommen aufgelöst und kann gleichzeitig im Freibad schwimmen. Dreißig Grad hingegen sind unerhört, vor allem wenn man arbeiten muss. Das Hirn quillt auf, die Füße auch.
Die Erholung in der Nacht ist mäßig: Ich werfe meine Decke von mir, im nächsten Moment sirren Mücken um meinen Körper, ich ziehe die Decke wieder über den Kopf. Es ist ein Elend. Zwar bin ich nicht so übellaunig wie Frau Novemberregen, aber ich muss zugeben: Die Lunte ist kürzer als sonst.
Ratternd auf dem Rad | Ich fuhr noch eimal Fahrrad. Diesmal keine hundertzehn Kilometer, sondern nur achtzig. Allerdings achtzig Kilometer, die anstrengender waren als hundertzehn. Ich brauchte mehrere Tage, um mich davon zu erholen. Ich fuhr von Haltern nach Dortmund und wieder zurück, zum Sommerfest meines Dortmunder Service Clubs. Sowohl auf der Hinfahrt als auch auf der Rückfahrt hatte ich Gegenwind – eigentlich eine physikalische Unmöglichkeit, aber ich schwöre, dass es so war.
Nach Dortmund ging es zudem latent bergauf, und je näher ich dem Ruhrgebiet kam, desto schlechter wurden die Straßen. Der Asphalt war aufgerissen, die Schlaglöcher tief, Flicken waren erneut geflickt, und die geflickten Flicken auch noch einmal. Das Rad ratterte und rumpelte, gemeisam wurden wir durchgeschüttelt wie ein Cocktail. Am nächsten Tag hatte ich Muskelkater in Schulter und Armen.
Auf den letzten zwanzig Kilometern, am Wesel-Datteln-Kanal entlang, dann nochmal ein unerhörter Gegenwind. Ich wäre am liebsten umgekippt und im Gras liegen geblieben. Zum Glück fand ich noch einen Schokokeks in meiner Tasche.
Gelesen | Ann Marie MacDonald: Wohin die Krähen fliegen, aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Ein großartiger Roman, reich und dicht, mit einer Auflösung, die erst nach mehr als 1.000 Seiten kommt. Die Geschichte spielt in den sechziger Jahren, der Zeit der Kuba-Krise, des Wettrüstens und des Wegs zum Mond. Im Mittelpunkt steht die junge Madeleine, die gemeinsam mit ihren Eltern und ihrem Bruder auf verschiedenen Militärstützpunkten aufwächst. Die Geschichte entwickelt sich langsam und wird immer intensiver, fast unerträglich. Mit kleinen Ereignissen, mit Andeutungen steigt die Spannung, bis nach 500 Seiten eine Klassenkameradin Madeleines stirbt, fast als Nebenereignis. Das Ereignis verschiebt die Wirklichkeit, verstärkt Geheimnisse und schafft moralische Dilematta. Der Roman ist auch in der ARD-Hörspieldatenbank.
Stammtisch | Freunde-Stammtisch, diesmal im eigenen Hause. Der Kochlöffel geht reihum, diesmal waren wir dran, drei Gänge herzustellen, acht Erwachsene und fünf Kinder zu bewirten. Der Garten trug reichlich bei: Tomaten, Zucchini und Kräuter.
Wir pflegen diesen Stammtisch seit unendlicher Zeit, seit mindestens fünfzehn Jahren. Jedesmal, wenn ich dran bin mit Kochen, stehe ich vorab zwischen Zutaten und Schüsseln und denke: Das werden wir unmöglich alles essen können. Aber die Runde zeigt sich jedesmal leistungsstabil.
Motto des jüngsten Abend war: Wir beginnen mit Vorspeisen, und es kommt immer mehr dazu.
Und dann war da noch | Heimatfest in der Stadt: Jahrmarkt mit Karussels, Verkaufsständen, Essen, Trinken und Musik – eine Gaudi.
Ich ging an einen Stand neben dem Kettenkarussel. Dort konnte man sich Schultern und Nacken massieren lassen. Aus allen vier Himmelrichtungen dröhnte unterschiedliche Musik und vermischte sich zu einem Geräuschbrei, während mich eine Frau mit ihrem Ellenbogen durchbohrte. Es war herrlich.
Die Kinder fuhren Fahrgeschäfte und gaben ihr Geld für sinnloses Zeug aus. Es ist das Wesen von Taschengeld, dass Kinder es für Dinge ausgeben, die Erwachsene unsinnig und übertreuert finden; das muss man aushalten. Manchmal fällt es aber wirklich schwer.
Was kommt | Wie ich das alles aufschreibe, stelle ich fest: ganz schön viel Programm für eine Woche. Ich fühle mich auch deutlich ermattet.
Das berufliche Leben geht allerdings rasant weiter. Bis Endes des Jahres werde ich nicht nur dreimal in Berlin sein, sondern auch noch einmal in Karlsruhe, außerdem in Chennitz, zweimal in der Region Stuttgart und mehrmals in nordrhein-westfälischen Städten. Es werden intensive und arbeitsreiche fünf Monate.
Sonne | Die Sonnenblume im Garten eskaliert nun vollends.
Broterwerb | Fordernde Tage, starke Verdichtung, viel Zeitkonfetti. Die Kunden sind nach der Sommerruhe alle wieder am Start, und es drängt auch sofort. Ein Wochentag im Homeoffice – so eng und kraftzehrend wie der folgende Absatz:
6:10 Uhr – Der Reiseleiter ist auf Geschäftsreise, deshalb bin ich heute für den Morgenablauf zuständig; ich stehe auf, Körperpflege | 6:40 Uhr – Ich animiere KindEins aufzustehen, bereite Frühstück zu, bestücke die Brotdose, zwischendurch föhne ich meine Haare und füttere die Schweine, spreche Dinge ab – KindEins kommt heute Nachmittag nicht nach Hause, sondern geht auf einen Geburtstag | 7:10 Uhr – Ich fahre KindEins zum Schulbus in die Stadt | 7:30 Uhr – Rückkehr, Frühstück, Zeitung lesen | 8:00 Uhr – Arbeitsbeginn mit KundeEins, ein IT-Unternehmen: Ich bin im Lead eines zeitkritischen Themas, es gibt viele kleinteilige Aufgaben und Beteiligte mit unterschiedlichen Interessen; Sichtung der E-Mails und Aufgaben für den Tag, Pflege des Arbeitsboards, Chatkonversation mit zwei Menschen; parallel E-Mail-Konversation mit KundeZwei, ein Medienunternehmen, ich bin im Lead einer Teamentwicklung, es gibt ein paar kurzfristige Koordinationsfragen: Wer, was, wann | 9:00 Uhr – KundeEins, Meeting mit einer Nachwuchskraft, die das Team neu unterstützt; die internen Kolleg:innen sind unter Last, ich mache die Einarbeitung; Ergebniskontrolle der gestrigen Aufgaben, ich coache die Kollegin und befähige sie für ihre zukünftigen Aufgaben, wir klären praktische Fragestellungen, ich erkläre allgemeine Gepflogenheiten aus dem Geschäftsleben und delegiere neue Aufgaben | 10 Uhr – KundeDrei, Wissenschaftsbetrieb: Briefing für einen Workshop im Oktober; ich lasse mir gemeinsam mit meiner Co-Trainern Katja ausführlich Beobachtungen aus dem Tagesgeschäft erläutern, wir arbeiten Themen heraus, klären Ziele und Erwartungen, um die eineinhalb Tage möglichst gut zu nutzen; währenddessen klingelt mein Sparringspartner von KundeEins wiederholt durch | 11:10 Uhr – Ich rufe KundeEins zurück; wir klären Fragen, zu denen ihm Menschen auf den Füßen stehen | 11:20 Uhr – Gedankliche Rückkehr zu KundeDrei: Ich rufe Katja an. Wir besprechen, was wir gehört haben, und prüfen, ob wir beide dasselbe verstanden haben, brainstormen schonmal grob unsere Workshop-Agenda, sammeln methodische Ideen, teilen uns Aufgaben auf | 11:45 Uhr – Telefonat mit KundeEins: Die junge Kollegin hat praktische Fragen, ich gebe Tipps | 12 Uhr – Mittagspause: Ich koche mir Nudeln, pflücke Tomaten im Garten und mache mir Tomatensoße, nehme Wäsche ab und hänge neue auf. Während ich esse, ruft KundeEins an, weil er noch rasch Infos braucht; ich kann sie beantworten, ohne an den Rechner zu gehen | 13 Uhr – Vorbereitung auf einen Termin mit KundeZwei | 13:30 Uhr – Termin mit KundeZwei: Ich lasse mir einen Prozess erklären und die Probleme darin, stelle Fragen; bereite direkt alles auf einem digitalen Whiteboard für einen Workshop vor. Mit mehreren Leuten wollen wir schauen, wie wir das Team für diese Aufgabe besser rüsten können. | 14:15 Uhr – Ich räume die Spülmaschine aus und beseitige das Koch-Chaos in der Küche | 14:40 Uhr – Vorbereitungen für einen Termin mit KundeEins | 15 Uhr – Termin bei KundeEins: Ich habe einen Punkt in einem Jour fix von Führungskräften, trage mein Thema vor und nehme eine Frage zur Klärung mit | 15:30 Uhr – E-Mail an KundeZwei mit Koordinationsfragen | 15:40 Uhr: Vorbereitung auf ein Coaching mit einer Privatperson, KundeVier am heutigen Tag | 16 Uhr – Coaching von KundeVier zu beruflichen und persönlichen Fragestellungen | 17:30 Uhr – Nochmal zurück zu KundeEins: Ich schaue ein letztes Mal für heute in die Mails und lege neue Informationen im Arbeitsboard ab; Chatkonversationen und kurze Absprachen | 17:45 Uhr: Terminabsprachen mit KundeFünf, eine Privatperson, für ein Coaching | 18 Uhr – Ich räume mein Mailpostfach auf, buche meine heutigen Zeiten auf die Kundenprojekte, drucke Material für den morgigen Tag bei KundeEins aus und halte Aufgaben fest, die ich morgen erledigen möchte | 18:30 Uhr – Ich fahre den Rechner runter und packe meine Tasche für den morgigen Tag bei KundeEins | 18:40 Uhr – Abendessen und Durchatmen | 20:15 Uhr – Jemand muss noch die Schweine saubermachen; da sonst niemand da ist und ich länger nicht dran war, mache ich das; anschließend Schweinefütterung und Einschluss. | 20:45 Uhr – Ich durchsuche ein Onlinekaufhaus nach magnetischer Whiteboeardfolie für den Kühlschrank und beschreibbaren Magnetstreifen; es gibt hier im Haushalt Strukturierungs- und Orientierungsbedarf | 21 Uhr – Feierabend
Ein langer Tag, aber auch einer, an dem ich viel erreicht habe, viel geklärt habe, Dinge vorangekommen sind. Es ist bei Weitem nicht jeder Tag so intensiv, das ginge auch gar nicht. Aber es gibt sie, diese Tage, und danach bin ich immer auf besondere Weise erschöpft.
Während ich das aufschreibe, kommen mir ein paar Gedanken:
Diese Dichte geht nur, weil ich bei KundeEins und KundeZwei gut eingearbeitet bin, Strukturen und Personen kenne, tolle interne Sparringspartner habe und wir uns hundertprozentig aufeinander verlassen. KundeDrei kenne ich auch, und mit Co-Trainerin Katja arbeite ich das fünfte oder sechste Mal zusammen; wir sind gut eingegroovt. Es ist echt super, tolle Kundinnen, Kunden und Partnerinnen zu haben.
Irre, wie sich das Arbeiten seit meinem Berufseinstieg verändert hat. E-Mail gab es damals gerade erst in Ansätzen; niemand benutzte sie. Man hatte Fax und Festnetz, und wenn jemand nicht da war, war er nicht da. Man schrieb Briefe mit der gelben Post und wartete auf Antwort. Alles war viel, viel langsamer, einschließlich der eigenen Gedanken.
Irre, welch eine Intensität nochmal durch die Corona-Zeit reingekommen ist, durch digitale Tools und Homeoffice. Einerseits ist es entgrenzend, andererseits schafft es Effizienz – und nochmal eine Steigerung der Wertschöpfung. Ich kann von zu Hause aus arbeiten, ohne in Staus oder vollen Bahnen zu stehen, und bin meinen Kunden trotzdem nah.
Die Belastbarkeit ist endlich.
100 | A propos Belastbarkeit. Weil die vergangenen Radtouren so fluffig liefen, sagte ich zum Reiseleiter, dass ich mal 100 Kilometer Fahrrad fahren wolle. Osnabrück, schlug ich vor, sei doch ein schönes Ziel. Der Reiseleiter nahm die Anforderung auf, plante eine Route, und wir fuhren los.
Die ersten fünfzig Kilometer waren recht geschmeidig, wenn man davon absieht, dass es die Nacht zuvor geregnet hatte. Mein Fahrrad und meine Beine sahen schon bald aus wie nach einem Tough Mudder Contest.
Auf den ersten Kilometern hatten wir direkt eine Bäckerei angefahren, denn es war klar: Anfangs werden die selbst geschmierten Schnittchen reichen. Doch irgendwann würde es Fett und Kohlenhydrate in leicht erschließbarer Form brauchen.
Die ersten Kekse aßen wir sofort.
Wir sahen Felder und Höfe, Kühe, Schafe und Mais, Fachwerkhäuser und Vorgärten, den Dortmund-Ems-Kanal, Münster, Westbevern, Ostbevern, Vadrup und Kattenvenne. Bei Kilometer 55 hielten wir an einem Biergarten an. Geschlossen. Bei Kilometer 75 hielten wir an einem weiteren Biergarten an. Geschlossen. An einem Sonntag. Im August. Bei Sonne! Wie war das möglich? Mentale Tiefschläge.
Nach 80 Kilometern stoppten wir an einer Bank, um Fettgebäck zu essen. „Weißt du, was das Gute ist?“, meinte der Reiseleiter, während er kaute, „ich bin nicht schuld. Du wolltest hundert Kilometer fahren. Du wolltest nach Osnabrück. Und jetzt stehen wir hier vorm Teutoburger Wald und müssen die Berge hoch.“
Die Angelegenheit war tatsächlich misslich, ebenso wie die Tatsache, dass ich ihm nichts in die Schuhe schieben konnte. Ich überlegte fieberhaft, welche haltlosen Vorwürfe ich dennoch anbringen sollte, biss dann aber nur in meinen Berliner und brummte.
Dann kamen die Hügel des Teutoburger Waldes. Mit 85 Kilometern in den Beinen und auf dem drittletzten Ritzel (immer zwei übrig lassen!) zuckelte ich den Berg hoch – bis ich die letzten 200 Meter schließlich schob. Danach: Schussfahrt! Und nicht nur das. Es tauchte, erst verschwommen, dann immer klarer, an einer Straßenecke eine Bäckerei auf. Eine Bäckerei mit Kühlschrank. Einem Kühlschrank voller Kaltgetränke! In Hagen im Teutoburger Wald, nach 91 Kilometern, bekamen wir endlich eine eiskalte Apfelschorle. Sie schmeckte wie Weihnachten und Geburtstag zusammen.
Leichten Trittes glitten wir daraufhin nach Osnabrück, wo wir Freunde trafen und Pizza aßen.
104 Kilometer. Ich kann mir das nochmal vorstellen.
Bahnabenteuer | Der Rückweg, das möchte ich noch anschließen, war wieder ein großes Bahnabenteuer. Als wir unsere Räder in den Osnabrücker Hauptbahnhof schoben, leuchtete die Anzeigetafel wie ein Weihnachtsbaum: 50 Minuten Verspätung, 60 Minuten Verspätung, 320 (!) Minuten Verspätung, Zug fällt aus. Letzteres betraf den RE2, der uns nach Hause bringen sollte. Wir warteten eineinviertel Stunde auf den nächsten Zug und hörten einen Blumenstrauß von Durchsagen: fehlendes Personal, technischer Defekt am Zug, Notarzteinsatz am Gleis, Vandalismus, geklaute Kabel, verspätete Bereitstellung. Das Gleis war voll und wurde voller.
Der Zug, der schließlich kam, war kurz. Die Menschen hingegen waren viele. Eine Sozialstudie, mutmaßte ich, vielleicht Uni Münster. Man schob und drückte, raunzte und schimpfte, schubste und stöhnte. Man wartete, gebeugt stehend oder gedrängt sitzend, denn auch dieser Zug fuhr zu spät ab. Dann ein Knarzen in den Lautsprechern. Eine Zugbegleitung, sagte der Lokführer durch, gebe es heute nicht, man möge sich selbst helfen und nett zueinander sein. Im Waggon vereinzeltes Gelächter, spöttisch hier, verzweifelt dort. Überdies, fuhr der Lokführer fort, könne es sein, dass der Zug nicht wie geplant bis Düsseldorf fahre. Zwischen Wanne-Eickel und Recklinghausen würden Kabel fehlen, er werde sich melden, sobald er mehr wisse. Apathische Gesichter, leere Blicke. Irgendwo hinter dreißig Menschen, zwölf Koffern und vier Fahrrädern schrie ein Kind. Ein Mann sang leise. Ein Telefon klingelte. „Nee, Marianne, dat wird heut‘ nix mehr! Wir sind noch nichma in Nottuln!“ – „Der fährt nich‘ nach Nottuln!“ Tumult.
Südlich von Münster erneut ein Knarzen, erneut der Lokführer. Er habe eine gute und eine schlechte Nachricht, sagte er. Man fahre bis Düsseldorf, das sei gut, aber bis dorthin würden Halte ausfallen, viele, fast alle. Wer nach Recklinghausen, Wanne-Eickel, Gelsenkirchen, Essen oder Mülheim wolle, der … tja, das könne er auch nicht sagen. Man bemühe sich um Schienenersatverkehr. Im Waggon nur Müdigkeit. Vereinzelt gezückte Handys: Wer jemanden kannte, der in Bereitschaft saß, kommunizierte Abholwünsche.
Wir stiegen in unserem Städtchen aus – der letzte Bahnhof, der angefahren wurde, bevor es auf die lange Umleitung ging. Wir fuhren noch sechs Kilometer bis daheim und machten damit die 110 voll.
Haltern Pride | In der Stadt war Christopher Street Day, bunt und fröhlich. Der Bürgermeister hielt eine Rede, die Stadtbücherei präsentierte queere Bücher, die evangelische Kirche bot Rätsel, Basteln und Gespräche, allerlei Organisationen waren am Start, außerdem die Grünen und die SPD. Drag Queens aus der Gegend traten auf.
Später am Nachmittag trat Marian Kuprat auf, ein Singer und Singwriter, der mir bislang unbekannt war. Welch eine schöne Entdeckung!
(In dem Zusammenhang ein Hinweis auf Jolante, die Band eines ehemaligen Mit-Abiturienten. Er postete jüngst in unserer Abi-Gruppe, dass er sein erstes Album veröffentlicht habe: „Wir sind seit Freitag schon von 4 monatlichen Hörern auf satte 32 gestiegen! Sei die Nummer 33!“ Diese hoffnungsvolle Aufforderung gebe ich weiter – und den Link zu Spotify.)
Nochmal Broterwerb | Diese Woche telefonierte ich zu Tagesbeginn mit meinem Webworker Christian, der gerade meine berufliche Website aufhübscht. Sie ist nun fünf Jahre alt, und es muss mal beigegangen werden. Die Seite fühlt sich an wie ein Kleidungsstück, dessen Stil und Farben zwar noch prima sind; gleichzeitig kneift es seit einiger Zeit unter den Armen, während es um den Hintern schlabbert. Wir nehmen einmal neu Maß und passen ein paar Nähte an.
Danke! | Ein herzliches Dankeschön geht raus an einen langjährigen Leser für ein Geschenk vom Wunschzettel.
Ein letztes Mal Broterwerb | Zum Ende der Woche habe ich zweimal wundervolles Lob von Kunden erhalten. Es kamen die Worte „motivierend“ und „Begeisterung“ vor. Es gab ein ehrliches Dankeschön. Das war super. Danach fuhr ich sofort den Rechner runter und machte Wochenende, denn besser konnte es nicht werden.
Hairlich! | Ich war beim Friseur, eine halbe Stunde zu spät. Ich hatte mir den Termin für 9 Uhr notiert, im Kalender des Salons stand ich allerdings eine halbe Stunde früher. Die Friseurin war so freundlich, mir dennoch Strähnchen zu machen, auf Zeitgründen nur Oberkopf, aber das reichte völlig. Wichtiger war es zu schneiden. Es war alles außer Form und fusselte mir um Kopf und Hals.
Sowas kommt ja immer ganz plötzlich. Man steht morgens auf und – zack! Mit einem Mal hat man keine Frisur mehr, sondern nur noch Haare. Dabei war gestern noch alles in Ordnung! Drei Wochen lang litt ich, umfusselt von formlosen Keratinfäden, bis der Termin kam, den ich schon bei meinem letzten Besuch ausgemacht hatte. Eine Wohltat. Ein Hoch auf das Friseurhandwerk!
Wetter | Erst bizarre Hitze, dann eine Gewitterzelle überm Dorf mit Blitzen, Donnern und einem grotesk lauten Knall. Sowas habe ich bislang nur einmal gehört: als in mein Haus ein Blitz einschlug, damals in Dortmund. Was eine Kraft. Hier vor Ort war aber alles gut, nur wenige Kilometer weiter standen allerdings Straßen unter Wasser, es hagelte, und Bäume wurden entwurzelt.
Frühschwumm | Wegen Wetter ging ich zum Frühschwimmen ins Freibad, 7 Uhr 30 – mit dem Gedanken, dass dies die einzige Zeit sei, in der das Becken nicht voll sein würde. Ein Irrtum: Auf der Wasseroberfläche schwebten dreißig, fünfzig, ein ganzes Geschwader weißer Köpfe. Frühschwimmer-Ballett! Alle schwammen diszipliniert hintereinander – anders als nachmittags, wenn auf den Schwimmerbahnen heitere Gruppenrunden stattfinden, Poolnudeln geritten werden und man wild rudernd planscht. Insofern war trotz hohen Füllstands ein guter, kurzer Schwumm möglich. Die Körperkerntemperatur war auch unten. Ein prima Start in den Tag.
Garten | Ich erntete und aß.
Broterwerb | Ich bin nun wieder bei der Arbeit, also: vollends. Die Post-Urlaubs-Wiedereingliederung habe ich erfolgreich abgeschlossen. Es gibt auch direkt gut zu tun: Koordinationsarbeit in einem Projekt, das ich für einen Kunden begleite, Termin- und Workshopvorbereitungen, Coachings zu privaten und beruflichen Fragestellungen. Fühle mich beschwingt.
Gelesen |Die 1000 Leben der Sifan Hassan. Ein kurzes Portrait der Marathon-Olympiasiegerin aus den Niederlanden, die einst aus Äthiopien flüchtete und für sich einen Weg gefunden hat, Leistungssport und muslimischen Glauben miteinander zu vereinen.
Gelesen | Hitze ist teuer, also macht endlich mehr Schulden: fürs Klima. Ich würde ja nicht sagen „fürs Klima“, denn Klima ist einfach, das gibt es, es ist die Gesamtheit aller Wetterereignisse. Wir investieren in uns Menschen, in unsere Lebensgrundlage und – jetzt ganz stark sein, liebe Konservativen – in unsere Freiheit und unseren Wohlstand.
Leibesübung | Das erste Mal seit Langem bin ich 3.000 Meter durchgekrault, 60 Bahnen, butterweich und meditativ. Das war großartig. Zwei Tage später nochmal 2.000 Meter, auch sehr fluffig, Atmung passte super. Es wird, es wird.
Heute dann Rad gefahren, um das Handball-Olympia-Finale bei der Torfrau in Mühlheim zu schauen. Der Reiseleiter plante eine Tour, 63 Kilometer, und wir fuhren über Trassen und Wirtschaftswege von Haltern ins Ruhrgebiet. Das ging sehr zügig. Wir machten nur zehn Minuten Pause am Erzbahnkiosk, dann ging es weiter. In weniger als 3 Stunden 30 waren wir dort.
Die ausgebauten Trassen sind wirklich fantastisch, ebenso der Radschnellweg RS1 zwischen Essen und Mülheim. Das sind Radautobahnen; da geht ohne Probleme eine 24er-Schnitt mit dem Trekkingrad. Was rollt, das rollt. Die schlechte Seite: Wenn man nicht über eine Trasse fährt, ist Radfahren im Ruhrgebiet eine Vollkatastrophe. Die Politik geht offensichtlich davon aus, dass Menschen, die Rad fahren, das nur zum Freizeitvergnügen tun, im Kreis. Tatsächlich möchten Menschen aber manchmal auch irgendwohin, ganz unfreizeitlich, zu Zielen, die zufällig nicht auf einer alten Bahntrasse liegen.
Bei der Torfrau gab es, passend zum Finalgegner Dänemark, Zimtschnecken.
Wir schauten seufzend das Finale und waren am End froh, dass es bei 39 Gegentoren blieb. 40 wären nochmal bitterer gewesen. Aber egal! Tolles Turnier der deutschen Mannschaft, starke Leistung, Silbermedaille.
Gemenge | Der Reiseleiter hat zu Beginn des Sommers eine Wildblumenwiese angelegt: Er hat eine Samenmischung gekauft, den Rasen umgegraben, die Mischung eingearbeitet, geharkt und gewässert. Das Ergebnis war dürftig. Inzwischen kommen ein paar Blümchen, aber alles in allem ist die Wiese nicht sehr wild. In einem Dicounter sah ich nun „Landsberger Gemenge“ auf dem Aktionstisch. Gemenge! Wonach hört sich das an? Das hört sich nach Wildheit an. Nach Getümmel und Gewühl, nach Treiben und Gewimmel. Ich habe es natürlich gekauft. Jetzt geht’s ab!
Daseinsfürsorge | Bei uns im Dorf gab es eine Poststelle in einem Kiosk. Man konnte Pakete hinbringen und abholen und Postdienstleistungen in Anspruch nehmen: Briefe versenden, Briefmarken kaufen, Einschreiben aufgeben, sowas. Seit ein paar Wochen ist die Poststelle geschlossen. Der Service sei nicht mehr wirtschaftlich zu betreiben. Klar, da verabschiedet man sich als Unternehmer von dieser Dienstleistung.
Fürs Dorf ist das allerdings ausgesprochen misslich, denn nun muss ich – müssen alle – fünf Kilometer mit dem Auto oder dem Fahrrad fahren und in eine Fußgängerzone hineingehen, um ein Paket aufzugeben oder abzuholen. Bei großen oder schweren Paketen ist das nochmal unerfreulicher, und wir wissen alle, dass man nicht mal etwas Großes bestellt haben muss, um ein großes Paket zu bekommen. Zwar habe ich einen Ablageort festgelegt und Porto bekomme ich auch online, aber erstens sind mir Klebebriefmarken lieber, zweitens landet doch immer mal ein Paket in der Filiale und drittens möchte ich auch mal Pakete verschicken, ohne das Gefühl zu haben, selbst ein Logistikunternehmen zu betreiben. Die Post verspricht eine Lösung – muss sie auch laut Postgesetz, denn der Ortsteil hat mehr als 2.000 Einwohner. Aber das kann dauern. Ich kann das irgendwie überbrücken, aber Menschen ohne große Digitalkompetenz oder mit Mobilitätseinschränkungen sind echt gekniffen.
Sommer | Das Gute an Hitze ist, dass die Wäsche schnell trocknet. Das Schlechte an Hitze ist … Hitze.
Das Monstrum von Sonnenblume, das sich selbst im Hochbeet gesät hat, hat nun eine Blüte.
Serien schauen | Auf Anraten des Lieblingswebworkers die arte-Mediathek geöffnet und die ersten drei Folgen Dicte geschaut. Bislang gut, habe aber noch keine fundierte Meinung.
Gelesen |Herr Buddenbohm reist ab, teilt wie immer sehr unterhaltsam Beobachtung und tut überdies seine Unlust für Reiseplanung kundt. Als der Reiseleiter in unserer damals noch jungen Beziehung meinte, er würde gerne, wenn mir das recht wäre, die Reiseplanung übernehmen, allerdings wolle er mich keinesfalls bevormunden, er mache das einfach gerne, also nur, wenn es mir nichts ausmache – da habe ich mich lächelnd zurückgelehnt und, begleitet von einer milden Geste, „Ist schon in Ordnung“ gehaucht.
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