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Vier Jahre nach Bildungsbandscheibe

9. 01. 2017  •  24 Kommentare

Bisweilen werde ich gefragt: Wie geht’s eigentlich deiner Bandscheibe? Meist von Leuten, die einen Bandscheibenvorfall haben, unter akuten Schmerzen leiden und auf der Suche nach einem Strohhalm der Hoffnung sind.

Deshalb hier mal mein Fazit vier Jahre nach Bildungsbandscheibe – zum Mutmachen:

Ausgangssituation:

Bandscheibenvorfall an der Lendenwirbelsäule mit Bewegungsstörungen und Taubheit im Bein. Ich hatte sehr starke Schmerzen, wirklich, wirklich stark. Bei bestimmten Bewegungen, vor allem reflexhaftem Husten, stand ich, ich übertreibe nicht, kurz vor der Ohnmacht. Das war … beeindruckend.

Erstversorgung:

Hausarzt und MRT. Durch Vitamin B bin ich binnen 24 Stunden an einen MRT-Termin gekommen. Rückblickend hat das erheblich zur Heilung beigetragen.

Das MRT war eindeutig; auch für mich als Laiin war dort zu erkennen, was los ist. In Absprache mit dem Hausarzt verzichtete ich auf eine Überweisung zum Orthopäden, denn mal ehrlich: Beim Orthopäden sitze ich dann vier Stunden im Wartezimmer (oder stehe vielmehr, sitzen geht ja nicht), er guckt zwei Minuten auf die Bilder, sagt mir, dass ich einen Bandscheibenvorfall habe und verschreibt mir Physio.

Der Hausarzt und ich beschlossen, dass wir das auch können – wobei eher ich den Hausarzt in seiner Diagnose und Therapieempfehlung unterstützt habe als umgekehrt.

Das Thema „Operation“:

Direkt im ersten Gespräch kam der Hausarzt auf das Thema „Operation“ zu sprechen – in dem Sinne, dass er sagte, es gebe halt die konservative Methode und immer auch die Möglichkeit einer OP. Ich besprach mich mit ihm und belas mich im Internet zu dem Thema. Die Meinungen dort: Man kann operieren, es ist aber oft überflüssig. Im Grunde geht es bei einem Bandscheibenvorfall nämlich erstmal darum, dass der Körper Wasser abtransportiert und dass Entzündungen und Verkrampfungen zurückgehen müssen. Das lindert dann schon die Symptome. Dafür benötigt er körperliche und seelische Entlastung, Bewegung und später: Sport und Muskelaufbau.

Faszienmassage und Spazierengehen:

Schon zwei Tage nach Bandscheibe begann ich, spazieren zu gehen. Sitzen ging eh nicht, liegen so lala, also 600er Ibu eingeworfen und los. Ich bekam außerdem Faszienmassage bei der Physiotherapeutin. Falls Sie solch eine Behandlung noch nicht genießen durften, aber auf Nahtoderlebnisse stehen, kann ich sie wärmstens empfehlen: Wenn die Folterkraft das Bindegewebe vom Muskel schiebt, ist das wie lebendig häuten. Eine super Sache für Freunde von Grenzerfahrungen.

Faszienmassage hilft allerdings sehr gut (langfristig, währenddessen muss man sich das leise vorsummen), und ich habe gelernt, dass die Faszien bei mir tatsächlich ein Schwachpunkt sind, auch heute noch – bei Belastung im Garten oder wenn ich mich seelisch und körperlich verspanne.

Die Entscheidung „keine OP“:

Nach zwei Wochen hatte ich das Thema „Operation“ abgehakt. Ich war noch weit entfernt davon zu sagen: „Mir geht es gut“, aber ich spürte, dass das, was ich tat, das Richtige und alles nur eine Frage der Zeit war. Meine sportliche Erfahrung hat mir sicherlich dabei geholfen, dieses Selbstbewusstsein und das Vertrauen in meinen Körper zu haben. Wenn Sie das nicht haben, seien Sie versichert: Ihr Körper kann das auch. Trauen Sie ihm etwas zu.

Die Komplikation „Piriformissyndrom“:

Immer, wenn ich jemandem vom Piriformis erzähle, sagt er: „Piri- was?“ Und: „Das denkst du dir doch aus.“ Der Name ist tatsächlich seltsam, wenn man aber Probleme mit dem Piriformis-Muskel hat, sind diese sehr real und total un-komisch.

Durch mein Durch-die-Gegend-Gelatsche hat sich der Muskel im Po bei mir so verkrampft, dass er schlimmere Symptome als der Bandscheibenvorfall selbst hervorgerufen hat: Ich konnte nicht mehr liegen, stechender Schmerz zog über viele Wochen in Kniekehle und Wade. Am Ende half: dehnen, dehnen, dehnen und sich auf einen Tennisball legen. (Diese Tennisballsache trägt nicht grad zur Versachling des lustigen Muskelsyndroms bei.)

Medikamente:

Haben Sie keine Angst davor, Schmerztabletten zu nehmen. Dröhnen Sie sich zu. Je nach Konstitution dürfen Sie bis zu 2.400 mg Ibuprofen pro Tag nehmen. Ich habe das voll ausgenutzt. Anders geht es nicht, und nur so bildet sich kein Schmerzgedächtnis. Also hauen Sie rein.

Außerdem habe ich Keltican genommen (Marketingseite des Herstellers), dessen Wirkung allerdings nicht erwiesen ist.  Ich hatte das Gefühl, dass es ein bisschen was bringt. Das kann aber auch Einbildung gewesen sein.

Erste richtige Besserung:

Geringe Besserung nach zwei Wochen. Weitere Besserung nach vier Wochen. Wirkliche Besserung nach drei Monaten.

Tiefschlag Hexenschuss:

Nach einem halben Jahr sowie nach einem Jahr hatte ich jeweils einen Hexenschuss. Beim ersten Mal eher leicht, beim zweiten Mal so, dass ich mich kein Mü mehr bewegen konnte. Echt: Es ging nix, ich konnte mich nicht selbst herumdrehen, mich nicht selbst aufsetzen, nicht gehen. Pflegestufe 3.

Beim ersten Mal hat mir mein Arzt ein Medikament verschrieben, dessen letzte Tablette ich wie meinen Augapfel hüte. Es heißt Tolperison, ist ein nicht-sedierendes Muskelrelaxans und wird zum Beispiel bei Spastiken nach Schlaganfall eingesetzt. Das Zeug kann zu schweren Überempfindlichkeitsreaktionen führen; ich hatte nix, bei mir wirkte es Wunder: Nach nur einer Tablette und vier Stunden warten konnte ich mich wieder bewegen. Wahnsinn, was mit den richtigen Drogen alles möglich ist. Es war auch meine Rettung, denn ich war gerade in einer Berghütte in Spanien.

Nach dem Hexenschuss hatte ich fortwährend Muskelprobleme im Rücken – kleine Feuerstöße wie vor einem Krampf. Dafür nehme ich regelmäßig Magnesium, das hilft.

Sport:

Ja. Bewegung, Bewegung, Bewegung. Wenn ich micht nicht bewege, kriege ich Probleme. Dinge zu Fuß erledigen, joggen, gezielt den Rücken stärken. Und den Bauch! An dem geht nix vorbei. In jeder Fitti-Runde und auch zu Hause mache ich Übungen für die Bauchmuskeln.

Nach Hexenschluss #2 hatte ich mir geschworen: Erst, wenn ich ein Jahr lang keine Rückenprobleme habe, fange ich wieder mit dem Handball an. Zweieinhalb Jahre nach Bandscheibe war es soweit. Erst trainierte ich sehr vorsichtig, ich hatte eine riesige Blockade im Kopf. Die ist mittlerweile weg – auch wenn ich immer noch sehr sensibel auf meine Rückenmuskulatur lausche.

Yoga und Gymnastik:

Ich mache regelmäßig Übungen, mit denen ich auch in der Lage bin, Blockaden selbst zu lösen. Sollten Sie nicht nachmachen, deshalb hier keine Details. Zwischendurch habe ich mal Yoga gemacht. Das ist gut für den Rücken, ich habe das nach jeder EInheit positiv bemerkt. Aber insgesamt ist es nicht meine Sportart. Sollten Sie Yoga mögen, ist das ’ne tolle Sache.

Wenn Sie Fragen oder Ergänzungen haben: gern.

2017 als Fragebogen

2. 01. 2017  •  25 Kommentare

Mit dem Zurückblicken habe ich es nicht so. Deshalb gibt es hier nichts über 2016. Dafür eine Vorschau auf 2017. Fragebogen in Anlehnung an Don Dahlmann.

Beste Entscheidung:
Freiberuflich arbeiten. Im Februar geht’s los.

Schlechteste Entscheidung:
Freiberuflich arbeiten. Ich werde fluchen. Ich werde zweifeln. Ich werde hadern. Und am Ende wird alles gut werden. Das ist der Plan.

Beste Anschaffung:
Das Auto, das ich mir kaufe. Es ist mein erstes Auto – was sich ein bisschen seltsam anfühlt, immerhin fahre ich seit mehr als 20 Jahren, und ich fahre nicht wenig, sowohl Auto als auch Bahn, aber ich habe noch niemals ein Fahrzeug gefahren, das auch auf meinen Namen angemeldet war. Ich werde es jeden Morgen streicheln und vielleicht auch in aller Öffentlichkeit mit einem Mikrofasertuch abfeudeln. Ich kann für nichts garantieren.

Dämlichste Anschaffung:
Vermutlich ein Kleidungsstück, das mir fast passt. Nur noch minus fünf Kilo.

Schönster Absturz:
Ich stürze nicht ab. Ich betrinke mich nur intensiv. Nur zur Sicherheit, damit keine Gerüchte entstehen: nicht als regelmäßige Einrichtung. Manchmal halt. Mit Genuss. Es wird auch 2017 vorkommen. Und es wird super werden.

Dämlichster Absturz:
Ich bin eine nur eine begrenzt hemmungslose, vielmehr kontrollierte, dabei aber ausgesprochen freudige Nicht-Abstürzerin.

Bestes Getränk:
Cocktails von Björn. Sie sind allesamt gerne eingeladen, die Cocktails von Björn zu toppen und mich auf etwas Besseres einzuladen. Wird aber schwierig.

Ekelerregendstes Getränk:
Seit ich mit mir überein gekommen bin, dass Tomatensaft und Filterkaffee in meinem Leben keine Rolle spielen, ist die Gefahr eines ekelerregenden Getränks geringer geworden. Vielleicht wird es etwas Asiatisches sein. Wenn ich es denn bis nach Indonesien schaffe. Steht aber auf meiner Liste für 2017.

Bestes Essen:
Viele Mahlzeiten, die ich esse, sind fantastisch. Das Projekt „Gut essen“ habe ich schon vor längerer Zeit begonnen und ziehe es durch. Ganz vorne sind natürlich Essen in Gesellschaft, dazu zählt der Stammtisch aus – haha! – Essen, der Handballerstammtisch aus Dortmund, der Stammtisch mit Herrn und Frau F. und überhaupt: Kochstammtische! Ich koche aber auch gerne alleine. Im Winter ist eine Neuauflage meiner einmal jährlichen Sauerbratenaktivitäten geplant, außerdem Rotkohl und Rouladen, im Sommer wieder Zucchinipuffer und ach .. Sie ahnen es alles gar nicht. Nicht zu vergessen die Sushi-Verabredungen.

Schlimmstes Essen:
Unterwegs. Irgendein Nothefeteilchen.

Beste Musik:
Konzert. Phil Collins im Juni in Köln.

Schlimmstes Gejaule:
Mein eigenes Brummsummen beim Singen mit Frau Höpker im Februar. Aber hey – es geht nicht ums Können, es geht ums Tun. Wie bei so vielen Dingen.

Eigene, schönste musikalische Wiederentdeckung:
Dr. Alban auf der 90er-Party. Muss, ne.

Beste Idee/Frage:
Noch ein Buch?

Dämlichste Idee/Frage:
Alpenüberquerung?

Beste Lektüre:
Meine Amazon-Wunschliste ist lang, außerdem gibt es noch eine Kindle-Wunschliste. Dazu viele gute Blogbeiträge, journalistische Reportagen – ich bin sicher, ich werde literarisch glücklich werden. Manche Geschichten darf man ja auch ansehen, als Film, das ist nicht ganz so fantasievoll wie lesen, dafür emotional kompakter. Beides wird mich ergreifen. Ich freue mich schon.

Langweiligste Lektüre:
Es gibt Menschen, die Bücher gnadenlos zu Ende lesen, ohne Rücksicht auf Verlust der Lebenszeit oder möglicher alternativer Erlebnisse, zum Beispiel Kuchen backen. Ich gehöre nicht dazu. Wenn mir ein Buch nicht gefällt, lege ich es weg.

Schönster Moment:
Bestimmt etwas mit Liebe und Knutschen.

Schlimmster Moment:
Es wird einen geben – natürlich. Vermutlich an einer Stelle der eigenen Biographie, wo ich ihn am wenigsten erwarte. Sonst wäre das Leben nicht das Leben. Vielleicht werden es auch mehrere. Ich bin mir selbst sehr dankbar, dass ich in den vergangenen Jahren eine gesunde Resilienz entwickelt habe. Wirklich – ich bin gut darin, Dinge wegzustecken. Ich kann aber auch darauf verzichten.

Zunehmen oder abnehmen:
Abnehmen. Nicht, weil ich mich schlimm finde. Mit Freude habe ich vor ein paar Tagen dazu Journelles Beitrag gelesen, „Vom Glück eine dicke Frau zu sein“. Ich möchte aber gerne meine Fitness steigern, fluffiger um den See laufen, öfter laufen, länger laufen, weiter laufen, viel Sport machen, stark sein. Das geht dann automatisch mit Gewichtsverlust einher.

Haare länger oder kürzer:
Die Problemfusseln haben 2016 ihre Idealfrisur getroffen.

Kurzsichtiger oder weitsichtiger:
Die Entwicklung geht unweigerlich in Richtung gleitsichtiger. Wird aber nicht 2017 passieren, hoffe ich.

Mehr ausgeben oder weniger:
Ich gebe immer so viel aus, wie ich zur Verfügung habe – minus ein paar Kröten für Rücklagen. Es kommt also darauf an, wie die beruflichen Pläne anlaufen. Das meiste Geld werde ich ohnehin in Reisen investieren; die sind anpassungsfähig. Auf einer Skala zwischen Schlafsack und Ritz Carlton bin ich frei skalierbar, kann alles genießen und bin in jeder Situation glücklich. Einzige Bedingung: Geschlafen wird im Liegen.

Der hirnrissigste Plan:
Ich mache manchmal ungewöhnliche Pläne. Oft mache ich gute Pläne. Genauso oft mache ich aber auch gar keine Pläne, sondern habe nur ein ungefähres Ziel vor Augen und folge dann meinem Instinkt und den Möglichkeiten, die sich bieten. Das hat bislang gut funktioniert und macht mich allein schon dadurch zufrieden, weil ich nicht wirklich scheitern kann.

Die gefährlichste Unternehmung:
Ach, was ist denn schon wirklich gefährlich?

Die teuerste Anschaffung:
Das Auto.

Die meiste Zeit verbringen mit:
Mir. Am Schreibtisch. Im Garten. In Projekten bei Kunden. In Seminaren. Beim Laufen um den See. Im Fitnessstudio. Auf Reisen.

Die schönste Zeit verbringen mit:
Reisen. Es sind Ausflüge nach Bern und nach Sankt Petersburg geplant, vielleicht nach Jakarta. Ob Namibia etwas wird, dahinter steht ein großes Fragezeichen. Alles zusammen wäre auch ein bisschen viel. Innerhalb Deutschlands wird es zur re:publica nach Berlin gehen, sicherlich mehrmals nach Heidelberg und ins Osnabrücker Land, vielleicht in die Münchener Gegend und an noch viele weitere Orte.

Vorherrschendes Gefühl 2017:
Freudige Anspannung.

2017 zum ersten Mal tun:
Man sollte immer ausreichend Dinge zum ersten Mal tun. Das ist überhaupt das Tolle am Älterwerden: Man hat viele Dinge genügend oft getan, um erste Male mit Ruhe und Gelassenheit zu überstehen. Ich bin sicher, dass sich genügend erste Male auftun werden. Ich freue mich!

2017 nach langer Zeit wieder tun:
Unterrichten.

2017 wird mit einem Wort:
Genuss.

Podien, Männer, Frauen und Wut

29. 11. 2016  •  6 Kommentare

Am vergangenen Freitag besuchte ich den DWNRW Summit 2016, den Tag der Digitalen Wirtschaft NRW, auf der Zeche Zollverein.

Aus vielen Gründen war das eine gute Veranstaltung: breites Themenspektrum, Vorstellung der neu entstehenden Hubs in Nordrhein-Westfalen – darunter das hub.ruhr – und eine tolle Location, die das reflektiert, worum es geht, den Strukturwandel. Eine Konferenz, die dem Ruhrgebiet gut zu Gesicht steht.

Doch eine Anmerkung möchte ich machen – exemplarisch für viele Veranstaltungen:
51 Vortragende, davon 45 Männer.

Das macht mich wütend.

Homogenität hemmt, wenn man Fortschritt gestalten möchte. In einem Markt, der heterogene Innovationen erfordert, weil Kundenwünsche immer individueller werden. In Unternehmen, die auf crossfunktionale Teams setzen, um aus unterschiedlichen Richtungen auf Produkte und Prozesse zu blicken – damit möglichst ganzheitliche Lösungen herauskommen. In einer Welt, in der wir alle leben. Und alle konsumieren.

Wenn es sich um die Jahreshauptversammlung pensionierter Bergleute oder um die „Fachkonferenz Hodenhochstand“ handeln würde: geschenkt. Aber doch nicht bei Themen wie digitale Transformationpolitische Kommunikation, meinetwegen auch Thrombose oder, ganz ironiefrei, die Macht des tradierten Denkens.

Die Unterrepräsentation von Frauen hat unter anderem mit der Sehnsucht nach Vorständen bei der Besetzung von Podien zu tun. Vorstände können mir interessante Dinge über strategische Ausrichtungen von Konzernen sagen. Sie sind damit aber auch nur eine Perspektive von vielen. Ich höre genauso gerne denen zu, die an der Basis arbeiten und operativ umsetzen.

Entsprechend waren beim DWNRW Summit die interessantesten Wortbeiträge diejenigen, in denen MacherInnen auf der Bühne standen: der Geschäftsführer von Foto Koch in Düsseldorf, der sein Einzelhandelsgeschäft umkrempelt. Oder Robin Metz, der mit Helmade online Individualisierungen für Motorradhelme anbietet. Die Haltung, möglichst viele aus der A-Riege auf der Bühne zu haben, damit es eine gute Konferenz wird, erschließt sich mir nicht. Es macht auch die anschließende Kontaktaufnahme und den kommunikativen Austausch schwierig. Denn möchte man MittelständlerInnen zusammenbringen, damit sie gemeinsam an Herausforderungen wachsen, hilft Augenhöhe – und nicht das Manifestieren von Hierarchien mittels unidirektionaler Vortragsformate mit Alpha-Entscheidern in Richtung einer breiten, lauschenden Masse. Paradoxerweise betonen alle in jeder Session, dass flexible Netzwerke unbedingt traditionelle Hierarchien ersetzen sollen, um innovatives, grenzenloses Denken zu fördern.

Ich möchte nicht behaupten, dass Frauen die klügeren Wortbeiträge haben. Es geht um etwas anderes: Da ist einmal die weibliche Perspektive, die bei gesellschaftlichen Debatten ebenso wie bei Produktentwicklungen und Prozessen fehlt. Genauso wie es Perspektiven aus verschiedenen Kulturkreisen und Altersgruppen gibt, basierend auf unterschiedlicher Erfahrung, unterschiedlichen Denkmustern, unterschiedlicher Prioritätensetzung und unterschiedlichen Bedürfnissen in unterschiedlichen Lebensphasen. Diversität zu berücksichtigen – und damit die Bedürfnisse verschiedener Kundengruppen, ist bares Geld.

Zum anderen ist da die Sache mit der Identifikation. Ich bin eine Frau, und ich möchte repräsentiert sein. Ich möchte mich identifizieren können. Ich möchte Meinesgleichen, die auf Podien sitzen, und mir zeigen, was sie geleistet haben. Oder: womit sie gescheitert sind. Und meinetwegen auch: wie dumm man auch als Frau daherquatschen kann.

Es ist wie seinerzeit an der Uni, als Nicht-Akademikerkind, als ich mich plötzlich in einer Welt mit einem fremden Habitus wiederfand, mit einer anderen Haltung gegenüber Wissen, das nicht direkt der handwerklichen Anwendung dient, und Studiengängen, die zu keinem Berufsabschluss führen. Ohne familiären Wegweiser. Ohne Vorbilder, die einem sagen, wie man’s macht und wozu man’s braucht. Oder die einfach nur da sind, als Wegmarke, die man auch erreichen möchte.

In einem Land, dessen Rohstoff Ideen und Wissen sind, brauchen wir Köpfe, die aus unterschiedlichen Richtungen Lösungen erdenken.

Ich identifiziere mich nicht gleichermaßen mit einem Mann. Männer mögen das nicht nachvollziehen können, denn sie sind auf Veranstaltungen ja immer repräsentiert. Versuchen wir es deshalb einmal so, Männer: Haben Sie gegenüber den Beachvolleyball-Olympiasiegerinnen das gleiche Gefühl wie bei gegenüber den männlichen Sportlern? Schauen Sie zu ihnen auf, sind sie ein Idol, geben Sie Ihnen eine Richtung vor? Oder orientieren Sie sich, was Erfolg angeht, doch eher am eigenen Geschlecht?

Symbolbild:

https://twitter.com/Dr_Mama_/status/788285269170647040

Mehr zum Thema: 

Von Pubertät und Podien (Wolfgang Lünenbürger-Reidenbach)

„Um es klar zu sagen: Ich halte es für eine Veranstaltung für schädlich, wenn sie an einem Format festhält (also vor allem Vorträge, Vorträge, Vorträge, dieses pubertäre Format), das systemimmanent nicht nur überwiegend uninteressant ist, sondern auch viele Frauen, die ich kenne und für gute Lehrerinnen und Erzählerinnen halte, ausschließt.“

Mädchen mit Spielzeugen und ablenkende attraktive Wissenschaftlerinnen (Markus Pössel)

„Während solcher Karriere selbst gibt es dann viele andere kleine Puzzlesteine. Als einzige Studentin unter lauter Männern in Vorlesung oder Seminar zu sitzen. Dumme Sprüche zu hören bekommen. Häufig von männlichen Kommilitonen unterbrochen zu werden, wenn man etwas sagt. Sobald man darauf einmal begonnen hat, zu achten: Noch eine Podiumsdiskussion ohne weibliche Teilnehmer. Und noch eine. Und noch eine.“

Frauen zählen (Anne Schüßler)

„Wir leben nach wie vor in einer Welt, in der uns an jeder Ecke vermittelt ist, dass Mannsein der Normalzustand ist und Frausein das andere. Es ist ein bisschen subtiler geworden und man muss ein bisschen genauer und bewusster gucken (und zählen), aber dann ist es doch sehr einfach zu erkennen.“

Die Wahl der Entmachteten

10. 11. 2016  •  48 Kommentare

Schaut man aufmerksam hin, ist es nicht überraschend: dieses Rücken nach Rechts, das Suchen nach Extremen, der Wunsch nach jemandem, der die sichere, kleine Welt ins eigene Leben zurückholt. In den USA nicht, und hier in Deutschland auch nicht.

Es ist die Summe kleiner Niederlagen, die viele Menschen hinnehmen müssen – und es ist der Finger, der nach jeder Niederlage auf sie zeigt: selbst schuld. Egal, ob sie arbeitslos oder alleinerziehend werden. Ob ihre Rente nicht ausreicht oder sie so wenig verdienen, dass sie eben zurechtkommen. Die gesagt bekommen: Hättest du mal mehr geleistet, wärst nicht so unflexibel, hättest einen anderen Beruf gewählt, hättest du einen anderen Arbeitgeber gewählt, etwas Sinnvolleres studiert, wärst du nicht so unbedacht schwanger geworden, hättest zurückgesteckt und mehr für deine Ehe gekämpft, dann ginge es dir jetzt besser. Andere schaffen es doch auch.

Sie hören, wie immer und immer wieder an ihre Eigenverantwortung appelliert wird, während andernorts Menschen auf Positionen sitzen, weil sie den Habitus der Etablierten von Klein auf erlernt haben und in ihn hineinerzogen werden, weil sie von den Kontakten profitieren, die ihre Herkunft ihnen verschafft, weil sie nicht nur einen besseren Start hatten, sondern auch, weil es Helfer gibt, die ihnen die Hindernisse aus dem Weg räumen, in die andere hineinrennen.

Doch wenn sie dies ansprechen, hören sie das zweite Argument nach „Selbst schuld!“. Es ist: „Du bist doch nur neidisch!“

Dabei geht es nicht um Neid. Nur die wenigsten Menschen sind neidisch auf diejenigen, die sich ihren sicheren Wohlstand mit Arbeit, Bildung und Cleverness, ja sogar mit dem Glück des Zufalls erarbeiten. Es geht nicht um das, was die anderen haben. Sondern um das, was viele auch mit bester Leistung niemals erreichen können. Dem Anderen Neid zu unterstellen, weil er Kritik übt, ist das gleiche wie der Verweis auf die Eigenverantwortung: die Umkehrung der Kritik zur Wahrung des Ungleichgewichts.

Denn bei allem geht es um soziale Ungleichheit. Und es geht um Verhältnismäßigkeit. Dem Verhältnis vom Durchschnittsgehalt zum Gehalt des Bankvorstandes, dem Verhältnis der eigenen Mühen zu den Mühen derjenigen, die als Funktionäre auch nach kläglichem Versagen immer neue Posten angedient bekommen, dem Verhältnis des Erbes, das die Kinder dieser Funktionäre und Vorstände erhalten, zu dem Erbe, das die Kinder von Thomas Mustermann erwartet, nachdem sie ihren Vater gepflegt und ihre Mutter im Heim versorgt haben.

Jener Thomas Mustermann, der als Maschineneinrichter oder Industriekaufmann, als Ingenieur oder als Krankenpfleger arbeitet, der zwei Kinder hat, geschieden ist, der mit der Scheidung das Eigenheim der Frau überlassen musste und trotz 40-Stunden-Job, mit Wechselschicht und Überstunden, nur mittelmäßig über die Runden kommt. Thomas, der jedes Jahr seinen Rentenbescheid bekommt, auf dem die Zahl 1.413 steht – wenn nichts dazwischenkommt, kein Krebs, kein Rückenleiden und keine Frühverrentung, denn noch hat er 14 Jahre, und von der Zahl 1.413 muss er später noch etwas an seine Ex-Frau abdrücken, Versorgungsausgleich, da bleibt nicht mehr viel. Thomas Mustermann schaut mit Sorge auf seinen Arbeitgeber, der umstrukturiert, abbaut und outsourced, der vor der Übernahme durch ein ausländisches Unternehmen steht. Best of both, sagen sie dort, das Beste aus beiden Unternehmen wird das Neue formen. Thomas war noch nie der Beste. Was soll aus ihm werden, wenn er jetzt, mit 51, entlassen wird? Seine Tochter hat vergangene Woche erfahren, dass sie nach ihrer Ausbildung nicht übernommen wird, wie soll er sie unterstützen? Sein Sohn hat den zweiten befristeten Vertrag – und das trotz guten, naturwissenschaftlichen Studiums. Dabei ist der Junge 28 – ein Alter, in dem Thomas schon ein Haus gebaut und zwei Kinder gezeugt hatte.

Dieser Thomas Mustermann hat einst SPD gewählt. Doch die SPD hat ihn verraten, hat ihm die Angst vor dem sozialen Abstieg eingebrockt. Wenn Thomas arbeitslos wird, hat er nicht einmal zwei Jahre, dann wird er seine Wohnung kündigen, in eine kleinere ziehen, sein Auto verkaufen und von 404 Euro im Monat leben müssen. Was soll er nächstes Jahr also tun? Die Grünen wählen, die sich um Veganer und Windräder kümmern? Die Linke, diese Kommunisten aus dem Osten? Die FDP kommt nicht in Frage und auch nicht die CDU, die nur eine Partei der Unternehmer und neuerdings auch der Asylanten ist.

Er fühlt sich machtlos, denn egal, was er tut: Er kommt nicht weiter. Es ist niemals richtig nach oben gekommen, es geht in letzter Zeit eher nach unten, und auch seine Kinder werden nicht weiter aufsteigen, wenn sie denn überhaupt so weit kommen, wie er gekommen ist. Ein Eigenheim kann sich ja heute kaum noch jemand leisten, in den Großstädten, dort, wo die Arbeit ist und wo sein Sohn wohnt. Der kann ja kaum die Miete bezahlen. Und als ob das alles nicht schon ungerecht genug wäre, hört und liest er in den Medien nur: „Arbeitslosigkeit auf Rekordtief“, „Fachkräftemangel bremst Firmen aus“, „Wohlstand in Deutschland so groß wie nie“.

Was aber will er eigentlich, der Thomas? Er lebt in einem Sozialstaat, er hat eine Arbeit, eine Krankenversicherung, eine Wohnung. Er kann sogar einmal im Jahr in den Urlaub fahren, zehn Tage Griechenland in der Nebensaison. Er wird auch im Alter versorgt werden – nicht üppig, aber dennoch: auskömmlich. Was hat er also, dieser undankbare Mann?

Er hat Angst. Er hat Wut. Und er hat niemanden, der ihn unterstützt. Wie viel besser würde er sich fühlen, wenn jemand da wäre, der zu ihm hält, der für ihn kämpft. Sein Vater damals – er hat auch malochen müssen. Aber er hatte einen Betrieb, der ihn versorgt hat, einen Firmenchef, der all seine Leute mit Namen kannte. Der Vater bekam zu Weihnachten ein Präsent von der Firma, alle Arbeiter bekamen eins, auch als sie schon in Rente waren, und am Geburtstag hatte er frei. In Thomas‘ Firma  hingegen wurde vor fünf Jahren das Weihnachtsgeld gestrichen, sein Vorgesetzter ist der dritte in vier Jahren, und der Urlaub am letzten Geburtstag wurde ihm verwehrt – zu viel zu tun. Am Ende hat er an dem Tag Däumchen gedreht, Fehlplanung von oben.

Was bleibt also für ihn, Thomas, 51, geschieden und mehr Mittelmaß als Mittelschicht? Er sucht sich jemanden, der ihn vertritt, der laut ist, der gehört wird, dessen Meinung in den Medien widerhallt, der endlich einmal dieses unsägliche System hinterfragt und an den Stühlen der Etablierten wackelt – um sie wach zu rütteln. Er wählt die Rechten, weil es die Linken nicht mehr gibt, weil es keine mächtigen Betriebsräte und Gewerkschaften mehr gibt, weil es die Grenzen nicht mehr gibt, die seinen bescheidenen Wohlstand zusammenhalten, weil es nur noch „Wir schaffen das!“ gibt. Natürlich wird das Land es schaffen – auf seine, Thomas‘, Kosten, so wie es in den vergangenen fünfzehn Jahren immer war. Wenn er Zuspruch bekäme statt immer einen reingewürgt, wenn es noch Moral und Zusammenhalt und Wertschätzung gäbe, dann wäre vieles anders. Aber so? Was soll er auch tun?

Linktipps:

Trump, eh?
„Diesbezüglich ist die Wahl von Trump auch als Rache am korrupten Neoliberalismus zu lesen, die gleichzeitig den Verlust linker Werte spiegelt: Die Wähler der weißen Mittelschicht verweigern ihren schwarzen und muslimischen Nachbarn die Solidarität und ermöglichen damit letztlich eine Institutionalisierung und Normalisierung rassistischer Strukturen […]“

Was macht die Autoritären so stark? Unsere Arroganz
„Es stimmt ja, wir haben viel Gutes in die Welt gebracht, Gerechtigkeit und Freiheit für Frauen, Migranten, Behinderte, Homosexuelle, das alles ist unsere Tradition. Doch die Klassen haben wir nicht abgeschafft. Wir haben uns nur an die Spitze der Klassengesellschaft gesetzt, und jetzt kommt es uns so vor, als hätten alle Schranken sich geöffnet. Von unten dürfte das Ganze anders aussehen […]“

Meines Vaters Land

21. 09. 2016  •  16 Kommentare

Im Frühjahr habe ich ein Buch geschenkt bekommen. Es heißt „Meines Vaters Land“ und erzählt das Leben Hans Georg Klamroths.

Klamroth war am Stauffenberg-Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 beteiligt und wurde dafür in Plötzensee hingerichtet. Seine Tochter Wibke Bruhns hat seine Biographie aufwändig rekonstruiert.

Ich möchte Ihnen dieses Buch ans Herz legen.

Buchcover: Meines Vaters Land

Zunächst einmal, weil es sich sehr gut runterlesen lässt. Das trifft nicht auf viele Sachbücher zu, auf Biographien schon gar nicht. Das liegt daran, weil Biographien meist von Menschen handeln, die irgendwie berühmt sind, deren Leben aber außer der Sache, deretwegen sie bekannt wurden, wenig hergibt, schon gar nichts Widersprüchliches. Widersprüche machen einen Menschen aber interessant. Man sollte deshalb viel mehr Biographien von unbekannten, aber widersprüchlichen Menschen veröffentlichen, das wäre besser. Doch das ist ein anderes Thema.

Klamroth also. Stauffenberg, den kennt man, aber Klamroth eher nicht. Bis zum Ende des Buches bleibt auch offen, wie genau er am Attentat beteiligt war. Es ist aber auch nicht so wichtig.

Denn was ich am beeindruckendsten an dem Buch fand, waren die Gegensätzlichkeiten in Klamroths Charakter – und die Beschreibung der deutschen Gesellschaft zwischen 1918 und 1939, also zwischen den Weltkriegen. Hier leistet Wibke Bruhns etwas ganz Großes, indem sie am Beispiel ihres Vaters beschreibt, wie man gleichzeitig antisemitisch und freundlich gegenüber Ausländern sein kann, wie man die Nationalsozialisten ablehnt und sich doch stolz zur SS meldet. Da kann man viel übers Heute lernen.

Sie waren keine Antisemiten, jedenfalls nicht mehr als üblich und dem gesellschaftlichen Anstand angemessen. Juden waren nicht ihr Thema. Noch nicht. National waren sie in der Tat. Das schloß den Wunsch nach Verständigung mit anderen Nationen nicht aus, ihre Klassenzugehörigkeit trugen sie über Grenzen. Sie waren nett, rechtschaffen, in Maßen liberal und stolz nicht auf das „Blut“, sondern auf die Leistung der Vorfahren, die ihnen Verpflichtung bedeutete. (S. 218)

Hans Georg Klamroth – Bruhns kürzt ihn mit „HG“ ab – hat im ersten Weltkrieg gedient, hat dort traumatische Erfahrungen gemacht. Empfindet aber auch das tiefe Gefühl einer Niederlage, von Erniedrigung – wie viele Menschen in der deutschen Gesellschaft nach 1918.

HG ist weltoffen – seine Frau hat eine dänische Mutter und dänische Verwandtschaft -, er hat nichts gegen Juden – einige seiner wichtigsten Mitarbeiter sind Juden -, doch er blickt mit Stolz auf seine Vorfahren und das, was sie aufgebaut haben.

Er ist Unternehmer. Seine Familie hat immer in Richtung Adel gestrebt, so war das als Großbürger um die Jahrhundertwende. Er ist Jemand – und er lebt den Klassenunterschied:

Welten liegen zwischen den Deutschnationalen, den Großlandwirten, dem Reichsverband der Deutschen Industrie, die der Restauration das Wort reden, und dem Pöbel der Nazis. Mit denen setzt man sich nicht an einen Tisch. (S. 236)

Sich abgrenzen, das ist HG wichtig. Vor allem nach unten. Und unten: Da sind die Nazis. Mit denen möchte er nichts zu tun haben. Aber er muss auch ein Unternehmen führen, muss Gewinne machen, sich gut stellen. Er möchte wahren, was er und seine Vorfahren aufgebaut haben.

Die Atmosphäre im Land empfindet HG als „zunehmend schwül“. Das ist die verheerende wirtschaftliche Situation, die Konkurse häufen sich, Theater schließen aus Geldmangel. […] Ich sehe HG ratlos und auf der Suche nach Orientierung. (S. 239)

Die alte Ordnung bricht zusehends auseinander. Es gibt keinen Adel mehr, zu dem er aufschauen kann; keinen Kaiser, der alles regelt, der die Welt im Griff hat.  Die Alternative: Parteien. Doch sind sie eine Alternative?

Ich spüre die Vermeidungsstrategie hinsichtlich Hitlers Mannen. Was soll er auch machen, wenn ihm der Weg zu Sozialdemokraten oder – Gott behüte – Kommunisten versperrt ist? Katholisch ist er nicht, als fällt das „Zentrum“ aus, mit Bayern hat er auch nichts zu tun, das verschließt ihm die „Bayerische Volkspartei“. (S. 241)

Das ist mit dem Heute nicht vergleichbar. Es gibt keine vor Kurzem erlittene, verheerende Kriegsniederlage – die letzte ist lange her, und es besteht kein Zweifel, das es eine gute war. Aber da ist dieser Verlust an Orientierung: Niemand, der aus einer natürlichen Ordnung heraus für die Geschicke des Volkes verantwortlich ist. Niemand, der eindeutig sagt, wo es langgeht. Es gibt keine Identifikationsfigur, nichts, wo man hinstrebt. Alles ist plötzlich verhandelbar.

Wenn Parteien sich zu Wort melden, dann sind es nicht solche, von denen man sich etwas vorschreiben lassen möchte. Es sind solche, die fern vom eigenen Leben sind.

Und man muss ja auch ans eigene Wohlergehen denken!

Aber wenn schon dabei sein, dann besser frühzeitig, wird HG sich gedacht haben. Wie war das noch, als er seiner Einberufung zuvorkommen musste, damit er Junker werden konnte und nicht bei den Pionieren ohne Prestige landete? […] Frühzeitig also, sonst sind die Führungsposten besetzt. Und HG steht nach seinem Selbstverständnis eben vor einer Kompanie, nicht in der dritten oder siebten Reihe unter Leuten, die alle gleich aussehen. Fürs Geschäft ist es auch nicht verkehrt. (S. 249)

Klamroth schließt sich also den Nazis an, was soll es auch. Letztendlich bringt es nur Vorteile, und man muss ja nicht jede Haltung teilen.

Dabei gäbe es, wenn man genau hinguckte, tief Beunruhigendes zu entdecken. Da dürfen Juden, deutsche Staatsbürger, nicht mehr wählen […]. Juden wird die Lizenz als Dolmetscher, Wirtschaftsprüfer, Amtstierarzt und Schornsteinfeger entzogen […]. Juden können nicht mehr promovieren, Studenten ist es untersagt, bei jüdischen Repetitoren zu lernen. […] Doch wer guckt schon hin? Wer in einer Bevölkerung von 70 Millionen kennt denn einen jüdischen Repetitor oder einen jüdischen Schornsteinfeger bei bloß einer halben Million Juden in Deutschland, von denen 125.000 schon weg sind? Die Deutschen sind froh über die Nürnberger Gesetze von 1935, weil seither der Vandalismus der immer wieder aufflackernden Pogrome aufgehört hat und das Verhältnis zwischen Juden und Deutschen irgendwie ordentlich geregelt scheint. (S. 278)

Vieles ist heute, in 2016, anders als in den 1920er und 1930er Jahren. Unsere Großeltern und Urgroßeltern wurden in eine andere Gesellschaft hineingeboren, haben andere Erlebnisse und andere Werte gehabt.

Doch manches ist gleich: Plötzlich öffnet sich die Welt, öffnen sich physische wie soziale Grenzen. Die Folge: Alles wird komplexer, jede Alltäglichkeit. Entscheidungen werden diskutiert. Lösungen sind kompliziert. Zwischen Schwarz und Weiß ist viel Grau – und das Grau, für das ich mich entscheide, kann ein anderes Grau als das meines Freundes sein; und doch ist es für den jeweiligen Menschen das richtige Grau. Das muss man differenzieren, und das muss man aushalten.

Vielen Menschen ging es damals nicht gut – und es ist nicht mehr gottgegeben: Armut ist nicht mehr von Kaisers Gnaden, Armut ist plötzlich selbstverschuldet. Es könnte uns besser gehen, wären wir selbst besser – besser in unserem Tun, besser im Sein. Auf der einen Seite also: die Verantwortung; die wirkliche oder die zugeschobene, das tut nichts zur Sache. Auf der anderen Seite: die Machtlosigkeit; die wirkliche oder die empfundene.

Denn die Lebensumstände seinerzeit sind tatsächlich schwierig: Inflation statt Wohlstand, Verlust statt Gewinn. Damals das Gleiche wie heute: Wer nicht vorne mit dabei ist, hat es schwer. Das ständige Gefühl, abgehängt zu werden. Da versucht jeder das zu kriegen, was er kann. Auch, wenn es zu Lasten des Nachbarn geht.

Dazu der verletzte Stolz. Früher, da war man wer. „Ich bin Deutscher“, das war ein Machtwort. „Ich bin bei Hoesch“, das war wie ein Orden. Doch jetzt? Ist es schwieriger mit dem Prestige. Hat man nichts, was man vorzeigen kann. Oder man hat weniger als andere – das ist fast noch schlimmer. Jetzt schwingt Scham mit, wenn man von sich erzählt. Die Gewinner, das sind die anderen.

Wie nur holt man sich am besten Selbstbewusstein? Indem man sich mit denen vergleicht, denen es noch schlechter geht. Oder die außen vor stehen, die nicht dazugehören. Gibt es niemanden, der draußen steht, grenzt man jemanden aus. Dann hat man sie: die Vergleichsgruppe, die man dringend braucht, gegenüber der man der Bessere sein kann, derjenige, der Recht hat.

Das bringt auch einen schönen Nebeneffekt: dieses kuschelige Gemeinschaftsgefühl, das bislang fehlte – beim Kampf um die knappen Ressourcen; beim anstrengenden Unterscheiden der Grautöne. Endlich mal wieder etwas Weißes und etwas Schwarzes. Endlich ein gemeinsames Ziel.

Am Ende, ich schrieb es weiter oben, wird der stolze Deutsche Klamroth von noch stolzeren Deutschen hingerichtet. Weil die Zweifel, die in ihm waren, neu erwachten.

Mögen unsere Zweifel niemals schweigen.

Liebe Eltern, habt keine Bedenken aufzufallen

5. 09. 2016  •  22 Kommentare

Liebe Eltern,

die ihr euch manchmal genauso fühlt wie Claudia, die schreibt,

… wie anstrengend es ist, mit einem Kleinkind Bahn zu fahren. Wie sehr der Druck und die Angst einem ständig im Nacken sitzt, vielleicht negativ aufzufallen, zu laut zu sein, zu stören. Die genervten Blicke, der Widerwillen, der an der Grenze zum Hass wandelt und sich stumm und vorwurfsvoll durch die Sitze bohrt.

Ich möchte euch Mut machen: Habt keine Bedenken aufzufallen.

Wenn wir mehr als einer im Raum sind, fällt der eine dem anderen eben auf. Wenn der eine dann noch ein Kind ist, das nicht gut drauf ist, dann fällt es mehr auf. Aber deshalb direkt negativ? Ist es nicht bedenklicher, wenn ein Kind bei einer Fünf-Stunden-Zugfahrt gar nicht auffällt?

Es ist nicht schlimm für mich, wenn euer Kind quengelt, wenn es weint, wenn es nölig ist. Zugfahrten sind einfach langweilig, wenn man drei oder fünf oder sieben Jahre alt ist. Sie sind es auch noch, wenn man 38 ist – wobei man mit 38 langweilige Zugfahrten durchaus schön finden kann, zum Beispiel weil man selten Langweile hat, obwohl man Langweile mag.

Ich gehöre zu den Menschen, die Langeweile sehr mögen. Blöder als im Zug sitzen ist es deshalb für mich, wenn ich im Supermarkt an der Kasse stehe und wenn die Schlange lang ist. Schlimm wird es dann noch, wenn ich einen blöden Tag hatte, wenn ich Hunger habe und müde bin und es nicht vorangeht. Ich fühle mich dann schlecht und habe keine gute Laune, aber ich habe gelernt, damit umzugehen. Euer Kind noch nicht – deshalb habe ich Verständnis, dass es quengelt. Macht euch also keine Gedanken.

Wenn sich euer Kind nicht benimmt – wie man so sagt, dabei benehmen sich Kinder immer, nämlich wie Kinder, deshalb formuliere ich es mal neutraler: Wenn euer Kind die Situation gerade nicht kompensieren kann (und manchmal, na klar, sich auch noch nicht mal bemüht), dann habt keine Bedenken, dass ihr negativ auffallt. Leben wird nicht zu Hause gelebt und auch nicht nur auf Spielplätzen und in eingezäunten Kinderparks, sondern im Zug, im Supermarkt und Restaurant – dort, wo Menschen zusammenkommen. Ich persönlich finde es erfreulich, wenn Erziehung stattfindet.

Und manchmal, das weiß ich, ist es keine Frage der Erziehung: Fünf Stunden Zugfahrt sind einfach lang, irgendwann hilft nichts mehr. Auch wenn einige von euch Eltern es mir nicht zutrauen: Auch ich kann  Trotzheulen von Müdigkeitsquengeln von richtigem Weinen unterscheiden. Genauso sehe ich, wenn ihr euch abmüht und wenn manchmal gar nichts mehr geht. Dann fühle ich mit euch. Lasst uns dann einfach einander anlächeln.

Es ist toll, dass ihr euch kümmert. Danke dafür.

Das kleine Wochenendglück

11. 07. 2016  •  9 Kommentare

Am Samstag war ich im Baumarkt.

Bummeln im Baumarkt ist besser als Bummeln in der Innenstadt. Die Menschen sind in tatkräftiger Welterneuerungsstimmung und verteilen sich auch, wenn sie viele sind, angenehm gleichmäßig zwischen Holzzuschnitt, Pfettenankern und Zierteichpflanzen.

Außerdem gibt es im Baumarkt immer etwas  Interessantes zu entdecken: modular erweiterbare Werkbänke, saisonale Blühstauden, neue Exzenterschleifer – Produkte, in denen man sich als fantasiebegabte Kundin rettungslos verliert, für Stunden. Allein die vielen Brausearmaturen, mit denen man sich in die Bäder dieser Erde träumen kann!

Ich kann also auch einfach mal so in den Baumarkt fahren.

Gerade am Samstag ist es im Baumarkt ausnehmend super. An keinem anderen Tag ist das Publikum so gemischt:

In einem Gang der sensible Erstanstreicher mit Beratungsbedarf im Dispersionsfarbensegment. Eine Reihe weiter die Laienfliesenlegerin nach VHS-Kurs-Erfahrung, aber ohne eigenen Gummirakel. Wieder zwei Gänge weiter, kurz vor dem Außengelände, eine Kleinfamilie in diskursiver Auseinandersetzung zwischen Motivtapeten und herablassend augenrollendem Präpubertier. An der Hauptkasse: die alliterative Quengelwarenzielgruppe „humorvoller Hobbyhandwerker“ vor dem Namenszollstockregal – auf der Suche nach dem eigenen Ich.

Mein Lieblingsbaumarkt ist so riesig, dass man ihn am besten durchquert, indem man mit dem Einkaufswagen Anschwung nimmt, sich auf den Griff stützt und dann in schwebendem Dreisprungschritt durch den Hauptgang elft.

https://www.instagram.com/p/BHpFrbUjxm-/

 

Leider war am vergangenen Wochenende nicht der erhoffte Schlussverkauf, was bedauerlich, aber nicht weiter schlimm war. Denn just in dem Moment, in dem ich den Baumarkt betrat, fiel mir siedend heiß ein, dass ich ja schon seit Wochen und nunmehr sehr dringend ein neues Handschüppchen brauchte (Sollbruchstelle in der Kelle nach drei Jahren Garteneinsatz!). Wie gut, dass ich mich auf den Weg gemacht hatte.

Mit so einem Schüppchen ist es natürlich nicht getan: Einzugrabende Pflanzen sind auch wichtig, als Initiationsritus fürs Werkzeug und überhaupt – seelischer Ausgleich. Blumen holen mich ja nochmal ganz anders ab. Ein emotionales Feuerwerk, so eine Gartenabteilung.

Weshalb ist das erzähle? Deshalb:

Hier also ist er, der Report: Schüppchen und Blumen.

Bleibt noch zu erwähnen, dass mein Lieblingsbaumarkt im Foyer einen Kartoffelbrötchenbäcker hat, der sich auch hervorragend aufs Waffelhandwerk versteht: Ohne enttäuschende Sortimentsvariationen backt er warme, eckige Waffeln, die zuverlässig eine leidenschaftliche Neun auf der internationalen Waffelskala erreichen. Waffel-Champions-League!

Blumen, Werkzeug, Waffeln. Was braucht es mehr fürs kleine Wochenendglück!

Integrative Obstarbeit

8. 07. 2016  •  9 Kommentare

Die Obst- und Gemüseabteilung ist gut besucht. Es ist Freitag, das Wetter ist gut, die Leute wollen grillen. Sie kaufen Salat und was sie sonst noch brauchen können – Tomaten, Gurken, Paprika und dererlei Dinge. Mancher auch Obst. Die Erdbeeren sind in den letzten Zügen.

Die zwei Männer betreten die Abteilung sehr bedächtig. Sie schlurfen hinein und bleiben stehen, Seite an Seite. Als sie sich umsehen, der eine nach links, der andere nach rechts, stehen sie Rücken an Rücken aneinander – zwei Ritter vor dem Angriff der Zuchhiniarmee.

Die Zwei, sie haben nackte Füße und tragen lederne Schlappen und einen Rock. Oder nein, das ist kein Rock, es sieht nur so aus. Das ist eine Art Gewand – ein etwas schmuddeliges Gewand, darüber eine Weste. Ihre Haare sind schwarz, ihr Bart auch. Sie sind sehr hager und unverkennbar nicht von hier, doch woher sie kommen, das kann man nur ahnen.

Die Leute starren sie an, eingefroren in der Bewegung, ihre dünne Plastiktüte haltend, vorgebeugt im Griff nach einer Birne. Zwei, vielleicht drei Sekunden geht das so, in denen die Obstabteilung stillsteht – dann setzt die Zeit wieder ein, die Birne kommt in die Tüte, die Tüte zur Waage, der Aufkleber auf die Tüte, die Tüte in den Einkaufswagen.

Die beiden Männer – sie beobachten einen Augenblick das Treiben, nehmen sich dann einen Apfel, gehen zur Waage, starren aufs Display mit dem Nummernfeld, starren auf den Apfel und wieder aufs Display und nehmen den Apfel ratlos in die Hand.

„Darf ich mal“, fragt eine alte Frau ohne Fragezeichen, wummst ihre Wassermelone aufs Blech, drückt die Drei und die Eins und „Eingabe“, das Klebeetikett surrt heraus, und sie wuchtet die Melone zu den Erdbeeren in den Wagen.

Die beiden Männer blicken sich an, legen ihren Apfel zurück auf die Waage, drücken die Drei und die Eins und „Eingabe“, das Klebeetikett surrt heraus, und die Frau sagt ohne zu atmen: „Dat is’n Apfel, keine Melone, dat is’ne andere Nummer, dat kennt’a nich‘ woll, kommt ma‘ mit, dat is’n bissken kompliziert hier.“

Sie marschiert voran, mit dem Arm die Männer resolut hinter sich herwinkend. Die Zwei schluffen hinterdrein. Die Alte nimmt ihnen den Apfel aus der Hand, hält ihn gegen die anderen Äpfel, hält ihn vor das Schild mit der Zweiundzwanzig, sagt: „Twäntituu“, die Drei gehen wieder zur Waage, Zwei, Zwei und „Eingabe“, und sie drückt dem Linken den etikettierten Apfel in die Hand, während der Rechte lächelt und wild nickt und etwas sagt.

„Wat braucht’a noch?“, fragt die Oma, wirbelt mit der Hand über dem Kopf, die Obstabteilung durchkreiselnd, die Augenbrauen hochgezogen.

Sie etikettieren noch einen Apfel und zwei Bananen und zwei Feigen, die Männer lächeln und nicken und sagen Dinge, die Frau sagt „Wan!“ und „Fortifoar!“ und „Twäntituu ägän!“ und „Habt’a getz verstanden, woll?“ Dann schiebt sie mit ihrer Wassermelone von dannen, und ich höre sie murmeln: „Na bitte, dat war dann wohl Intigrazjon.“

Haushaltshilfe gesucht

15. 06. 2016  •  58 Kommentare

Vor eineinhalb Jahren schrob ich über die Unmöglichkeit, legal eine Putzfrau zu beschäftigen.

Das Projekt „legale Haushaltshilfe“ ist seither eine Unternehmung mit Höhen und Tiefen. Derzeit mehr Tiefen als Höhen. Aber ich gebe nicht auf. Nach zahlreichen Enttäuschungen suche ich weiterhin Verstärkung.

Ich stelle ein:

Haushaltshilfe (m/w)

für Reinigungsarbeiten im Privathaushalt.

Ich biete:

  • einen fairen Lohn deutlich oberhalb des gesetzlichen Mindestlohns
  • Fahrtzuschuss/Erstattung der Anfahrt innerhalb des Stadtverkehrs
  • familienfreundliche Arbeitszeiten, flexibel einteilbar
  • ein gepflegtes Arbeitsumfeld ohne Ekelerlebnisse
  • alle Arbeitsmaterialien
  • Urlaubsanspruch und Entgeldfortzahlung im Krankheitsfall
  • Beiträge zur Sozialversicherung
  • Absicherung bei Arbeitsunfällen

Klingt gut? Dann freue ich mich über Ihre Bewerbung!

Das sollten Sie mitbringen:

  • Sie denken mit: Falls Sie schummeln, dann putzen Sie die Regalbretter immerhin in Augenhöhe der Auftraggeberin (1,80 m) – und nicht ausschließlich in der eigenen (1,50 m).
  • Sie haben einen miesen Geschmack. Wenn Sie schon heimlich meine Süßigkeiten aufessen, dann bitte das Mon Chéri.
  • Sie nehmen, um zur Arbeit zu gelangen, immer den Bus in die richtige Richtung. Falls nicht, bemerken Sie es rechtzeitig und nicht erst, wenn Sie bereits in Bochum sind. Weil: Dann lohnt es sich ja nicht mehr umzukehren! Schließlich wohnt dort Ihre Schwester, mit der Sie ohnehin verabredet waren.
  • Ihnen entfällt auch nicht spontan und nach Monaten, wo ich wohne. Falls doch: kein Problem! Fragen Sie gerne jederzeit nach. Aber fahren Sie nicht ziellos in der Stadt umher und erzählen Tage später in blumigen Worten von Ihren Erlebnissen. Wenn hier einer blumige Sachen bloggt, dann bin ich das.
  • Sie haben ein gutes Zeitmanagement: Falls Sie weniger arbeiten als Sie abrechnen – kein Ding! Solange Sie es geschickt tun. Ich sollte niemals früher nach Hause kommen und es bemerken.
  • Sie sind pragmatisch und weitgehend ohne eigene innenarchitektonische Ansprüche. Wenn Sie trotzdem umdekorieren möchten, weil Ihnen mein Stil in den Augen brennt, dann sagen Sie zumindest Bescheid, wo Sie was hingestellt haben. Es sei denn, es ist Ostern. Dann suche ich natürlich gern!
  • Nach dem Fensterputzen kann ich besser durch die Fenster durchgucken als vorher. Streifenfreiheit wäre schön, muss aber nicht. Der Erhalt der Bausubstanz zählt! Alles andere ist Ritz-Carlton.
  • Falls Sie einfach mal vorbeikommen möchten – außer der Reihe, weil Sie etwas vergessen haben oder noch ein paar Mon Chéri naschen möchten: Herzlich willkommen! Aber sagen Sie vorher Bescheid, damit ich mir etwas anziehen kann. Oder klingeln Sie.
  • Falls Sie beim Überraschungsbesuch Ihren Mann mitbringen, klingeln Sie bitte erst recht.

Besondere Fähigkeiten im Saubermachen sind nicht erforderlich. Wir können gemeinsam an der Aufgabe wachsen. Der Weg ist das Ziel!

Bewerbungen unter Angabe der zeitlichen Verfügbarkeit und der Gehaltsvorstellung bitte an fraunessy (at) vanessagiese (punkt) de.

Nachwuchs

5. 06. 2016  •  22 Kommentare

Sie betreuen die beiden Jungs nun schon fast ein Jahr, den kleinen etwas länger. Die beiden Kinder, einer 7, einer 14, sind über die Balkanroute gekommen, mit einem Cousin, der auch noch keine 18 ist. Niemand weiß so genau, wie. Jetzt sind sind jedenfalls da.

Die zwei Erwachsenen – Freunde von mir – haben die Vormundschaft für sie übernommen. Einer muss es ja tun, sagen sie sich – sich kümmern um diese Kinder, deren Eltern noch in der Türkei sind und dort festsitzen, vielleicht aber auch gar nicht kommen wollen. Auch das weiß niemand so genau. Jetzt sind sie jedenfalls nicht hier.

Sie taten sich erst schwer, die Jungs wie auch die Erwachsenen, die jetzt die Verantwortung für sie tragen, die Formulare für sie unterschreiben und sie am Wochenende aus der Heimgruppe abholen; die dafür sorgen, dass sie in die Schule gehen, in eine richtige Klasse auf einer guten Schule, eine mit Integrationkonzept und Menschen, die willens sind, das Beste aus dem zu machen, was aktuell geht.

Der Kleine – er spielt und lacht und spricht, auch unsere Sprache schon: Es reicht für den Bolzplatz, fürs Schwimmbad und meistenteils sogar in der Schule – ganz schnell ging das. Der Große hat es nicht so leicht. Deshalb fragen die Erwachsenen ihn: „Was gefällt dir? Wofür interessierst du dich?“, und er antwortet: „Tauben.“

In Syrien, sagt er, und der kleine Bruder übersetzt, habe er Tauben gehabt. Er habe sie fliegen lassen, und sie seien wieder zurück gekommen. Es seien besondere Tauben gewesen, teure Tauben – solche, wie sie nur wenige in Damaskus haben.

„Dann bist du ja hier im Ruhrgebiet ganz richtig“, sagen sie, und durchforsten das Internet nach Taubenzüchtern in der Nähe. Beim ersten, den sie anrufen, nimmt ein Frau ab. Es tue ihr leid, sagt sie, ihr Mann sei bereits seit Jahren tot. Sie rufen den nächsten an, der sagt: Drei Schlaganfälle habe er gehabt, und deshalb nun keine Tauben mehr. Sie rufen beim dritten an, tragen ihr Anliegen vor und hören sofort: Er freut sich. „Wissen Sie“, sagt er, „wir haben ein Problem mit der Jugend. Oder die Jugend mit uns.“ Doch welch glücklicher Zufall: „Am Wochenende, da haben wir Jahrestagung, da können Sie direkt vorbeischauen.“

Die beiden, die jetzt die Verantwortung tragen, nehmen die Jungs und fahren hin. Sie finden die Wiese, auf der Bierbänke stehen, in Reih und Glied, auf denen alte Männer sitzen, sehr alte Männer. Schon die beiden Erwachsenen wären aufgefallen, aber als sie mit den Kindern auftauchen, diesen beiden Jungs mit ihren schwarzen Haaren und ihrem dunklen Teint, verstummen sofort alle Gespräche. Biergläser werden abgesenkt und leise auf die Tischen gesetzt. Insekten summen im Gras. Jemand hustet in seine Hand.

Dann steht einer auf. „Schön, dass ihr da seid“, sagt er. Es ist der, mit dem sie telefoniert haben.

Sie fragen: „Wo sind denn die Tauben?“

Die Tauben, erklärt er, seien schon in ihren Schlägen. In Nürnberg seien sie heute morgen losgeflogen, nun vergleichen die Besitzer nur noch die Listen. „Aber“, sagt er, und beugt sich hinab zu den Jungs, „wir haben Grillwürste. Wollt ihr welche?“

Die Jungs setzen sich auf eine Bank trinken Cola, denn die Würste sind aus Schweinefleisch, und es ist alles etwas komisch. Die Alten schauen sie die ganze Zeit an; sie unterhalten sich zwar wieder, aber dennoch: Ihre Köpfe recken sich unentwegt nach den Jungs.

Die Erwachsenen mühen sich indes im Small Talk. Eigentlich können sie das gut, nur heute nicht, nicht mit diesen Alten, deren Hobby ihnen so fern ist. Das Gespräch verebbt schnell. Schade, denken sie. Aber einen Versuch war’s wert.

Dann steht zwei Bänke weiter noch einer auf. „Mein Schlag ist ganz in der Nähe“, sagt er zu den Jungs. „Wenn ihr wollt, können wir hingehen und die Tauben anschauen.“ Der Kleine übersetzt, und der Große beginnt zu lächeln.

Als sie zwischen den Tauben stehen, die flattern und Staub und Federn aufwirbeln, ist das Lächeln immer noch da. Der große Junge erzählt dem alten Mann von seinen Tauben, der kleine übersetzt. Viele Worte fehlen, doch es ist nicht schlimm: Sie deuten auf Federn, machen Gesten und nicken. Erst, als der alte Mann einmal gar nicht verstehen will, holt der Junge sein Handy heraus, tippt und hält es dem Alten hin, zeigt auf das Bild mit den Vögeln, wischt weiter, noch ein Bild, und wischt weiter. Er hat auch Videos, tippt sie an, und die Tauben fliegen wieder durch Damaskus. Der alte Mann nickt anerkennend. „Schöne Tiere“, sagt er – und fragt dann: „Wie habt ihr sie gezähmt?“

Der Große erzählt und formt die rechte Hand, als sitze darin eines der Tiere. Dann nimmt er die linke und bewegt sie um die rechte. „Tesafilm“, übersetzt der Kleine. „Flügel mit Tesafilm. Eine Woche. Dann wissen Tauben, wo sie wohnen.“

Das Alte wird blass und hebt die Brauen. Dann sagt er: „Das machen wir hier anders.“ Er sagt es nicht böse. Aber mit Nachdruck.

Als sie sich zum Abschied alle die Hände schütteln, vereinbart er einen Termin mit den Erwachsenen. Nächste Woche könne er nicht, sagt er, aber danach solle der Junge ruhig wieder vorbeischauen. Nachwuchs, sagt er, sei immer willkommen.



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