Sie sagen: Alle elf Minuten verliebe sich ein Single über Parship.
Ich war 262.000 Minuten lang auf Parship. Ich hätte mich 23.826-mal verlieben können. Ich habe mich kein einziges Mal verliebt.
Die 262.000 Minuten, in denen ich mich nicht verliebte und in denen sich, zumindest meiner Kenntnis nach, auch niemand in mich verliebte, haben mich 346 Euro Mitgliedsgebühr gekostet. Von diesen 346 Euro hätte ich mir, wenn wir von einem Preis von sechs Euro pro Glas ausgehen, 58 Gin Fizz kaufen können. Je nach Zustand des Zielobjekts benötige ich drei bis fünf Gin Fizz, um mir einen Mann schön zu trinken. Ich hätte mir also für die 346 Euro, die ich für Parship ausgegeben habe, 19 mittelschöne und zwölf unterdurchnittlich schöne Männer sehr schön trinken können. Selbst im ungünstigsten Fall wäre ich also mindestens ein dutzend Mal verliebt gewesen. Das ist zwölfmal mehr, als ich in 262.000 Parship-Minuten geschafft habe.
Warum es mit dem Verlieben nicht geklappt hat, kann ich nicht genau sagen. Ich kann nur sagen, dass es diesen Mann gab, mit dem ich ganz vielversprechend hin und her schrieb. Er schrieb ganze Sätze mit Subjekt, Prädikat, Objekt, und nach einer Zeit fragte ich ihn, was er in seiner Freizeit mache. Er antwortete, dass er Landwirtschaftssimulator spiele. Ich sagte: „Landwirtschaftssimulator, aha, was macht man denn da so?“, weil es wichtig ist, dass man sich für die Hobbies des Anderen interessiert, auch wenn man schon ahnt, dass die Erklärung einen an den Rand der emotionalen Möglichkeiten bringen wird. Er antwortete, dass er Felder bestelle und Mähdrescher führe, dass er jeden Abend seine Schweine füttere und seine Kühe melke. Nicht wirklich natürlich, es sei ja nur eine Simulation, aber virtuell, dafür aber mit Dolby Surround. Er sagte, er habe sein Schlafzimmer umgebaut und habe daraus ein Landwirtschaftszimmer gemacht, mit Tapeten aus Kornfeldern und mit Sound von allen Seiten, so dass das Blöken und Grunzen und vor allem die Motoren des Mähhdreschers richtig mit Wumms kämen, das sei fantastisch. „Aha“, sagte ich, „und was machst du, wenn du nicht Landwirtschaftssimulator spielst?“ – aber er verstand die Frage nicht. Denn so ein Bauernhof ist schließlich eine Verpflichtung fürs Leben, deshalb, so sagte er, schlafe er auch auf seinem Hof. Ich entschied mich gegen ein Leben auf dem Land.
Dann war da dieser Mann, der genauso wie der virtuelle Bauer zunächst sehr nett war, bis er meinte: Eine Sache müsse er mir sagen, das habe vor mir leider viele Frauen abgeschreckt. „Aha“, sagte ich, „was ist es denn?“ Er sagte, dass er eine Tochter habe, dass er seine Frau und seine Tocher aber verlassen habe, nachdem er festgestellt habe, dass Vatersein nichts für ihn sei. Weil Vatersein nichts für ihn sei, wolle er auch keinen Unterhalt für seine Tochter zahlen, denn das könne er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren. „Mit welchem Gewissen?“, fragte ich, und er antwortete: mit seinem Gewissen sich selbst gegenüber, denn er wolle mit sich im Reinen sein, man könne nicht einerseits Hü und andererseits Hott sagen, Vaterschaft ablehnen und durch Unterhaltszahlungen das Vatersein doch für sich anerkennen, das habe auch etwas mit Konsequenz sich selbst gegenüber zu tun. Ich war daraufhin auch konsequent.
Irgendwann telefonierte ich mit einem Mann. Keiner von den zwei Genannten – mit einem Dritten. Er brach nach nur zwei Minuten in Tränen aus. Er sagte, seine Frau habe ihn verlassen und seine Mutter sei gestorben und weil er nun überhaupt keine Frau mehr in seinem Leben habe, keine Ehefrau und keine Mutter, fühle er sich sehr allein. Ich fragte, wie frisch das denn alles sei, und er sagte, dass der Tod seiner Mutter nun drei Jahre und das Ende seiner Ehe vier Jahre her sei, und er weinte so bitterlich, dass ich mich nicht traute aufzulegen. Ich hörte mir also 45 Minuten lang seine Lebensgeschichte an, von der Kindheit bis zur Ehe bis zur Trennung, auch das Verhältnis zu seiner Schwester war schwierig, und ich riet ihm, sich in eine Therapie zu begeben. Er sagte, das hätten ihm schon zahlreiche Menschen gesagt, er fände es aber folgerichtiger, seine Wunden mit einer neuen Beziehung zu heilen, denn ihm fehle ja nur eine Frau, eine Partnerin, die ihm Geliebte und Mutter sein könne. Ich wünschte ihm viel Glück.
Wir sind nun bei Minute 131.000 von 262.000, also bei 173 Euro, und ich beschloss, dass es trotz aller Rückschläge an der Zeit ist, auch mal jemanden persönlich zu treffen. So traf ich den Gymnasiallehrer. Wir tranken einen Kaffee an einem Fluss, und er fragte, wie es mir gehe. Ich antwortete, dass es mir gut gehe, und er sagte: Ihm gehe es sehr! schlecht! – und er erzählte mir von seinem Leben als Gymnasiallehrer, von seinem Kollegium, von verzogenen Schülern, von dummen Abiturienten, von sinnfreier Inklusion und von haarsträubenden Vorurteilen seinem Berufsstand gegenüber. Nach einem halbstündigen Monolog, während dem ich den Nachbartisch beobachtete, an dem ein Paar mit einer großen Dogge saß, die jedesmal die Braue hob, wenn der Gymnasiallehrer in seinem Verdruss laut wurde, fragte er mich, was ich beruflich mache. Ich sagte, dass ich selbstständig sei, und er antwortete, dass er Selbstständigkeit bei einer Frau unweiblich finde – ich weiß nicht, ob er das nur geschäftlich oder auch gesellschaftlich meinte. Nachdem er das gesagt hatte, folgte ein weiterer Monolog, diesmal über den Kapitalismus und seine Auswirkungen auf Gymnasiallehrer. Ich zahlte meinen Kaffee und ging.
Ungefähr bei Minute 200.000 traf ich mich mit einem alleinerziehenden Witwer, der nicht halb so traurig war wie der Weinende, der aber trotzdem keine Worte fand. Wir saßen uns gegenüber, und er schwieg. Ich fragte ihn eine Frage, er beantwortete die Frage und schwieg. Ich fragte die nächste Frage, er beantwortete die Frage und schwieg. Ich fragte die nächste Frage, er beantwortete die Frage und schwieg. Nach vielen Fragen, die er freundlich und in ganzen Sätzen, aber ohne eine einzige Gegenfrage beantwortete, fragte ich ihn, wie ihm unser Treffen gefalle. Es sagte, es sei wunderbar; er habe zum ersten Mal bei einer Frau das Gefühl, dass sie gut zu ihm passe. Denn mit allen anderen Frauen vor mir habe er nur Gesprächspausen gehabt.
Zwischendurch schrieb mir ein Mann, dass er mein Profil sehr ansprechend fände, dass er mich normalerweise auch gerne kennenlernen wolle, dass ich für seinen Geschmack allerdings viel zu groß sei – und fragte, ob sich das ändern ließe. Noch bevor ich ihm zurückschreiben und die Möglichkeiten für ihn aufzählen konnte – Stelzen, orthopädische Schuhe, neben mir auf einem Mäuerchen balancieren -, blockierte er mich.
Bei Minute 220.000 – ich war schon zynisch und hatte niemanden mehr angeschrieben -, schrieb mir ein weiterer Mann. Er war, dessen bin ich mir sicher, der Midlife-kriselnde Dicki Hoppenstedt. Ich klickte mich durch seine Fotos, auf denen er mit Strickpullunder und Playmobil-Frisur posierte. Weil ich unterstelle, dass ein Mensch, der sich auf einer Online-Dating-Plattform anmeldet, nur Fotos von sich hochlädt, die er für vorteilhaft hält, war ich rechtschaffen irritiert. Noch mehr irritierte mich allerdings, dass Bild fünf kein weiteres Bild eines Strickpullunderträgers war, sondern das Foto eines Großpudels, der jedoch frappierende Ähnlichkeit mit einem Strickpullunder hatte. Ich schrieb, mit Zwinkersmiley: „Bild fünf ist aber schon ein Bild von deinem Hund – und nicht von Dir, oder?“ Dicki antwortete sehr ernst: Ja, das sei sein Hund, sein Hund sei der Mittelpunkt seines Lebens, deshalb sei er Teil seines Parship-Profils. Ich fragte Dicki, ob er den Hund zum ersten Date mitbringen wolle. Dicki antwortete: Ja, das würde er sehr gerne, und es freue ihn, dass ich ihn daten wolle. Ich schrieb zurück, dass ich ihn und seinen Hund nur treffen wolle, wenn der Hund ein Kunststück könne. Dicki antwortete: Leider könne der Hund kein Kunststück, aber er wolle noch versuchen, ihm kurzfristig eins beizubringen – was ich mir denn vorstelle. Ich schrieb: „Ein brennender Reifen darf es schon sein.“ Dicki schrieb zurück, dass er bei der Freiwilligen Feuerwehr sei und dass er deshalb wisse, wie gefährlich brennende Reifen seien und dass das nicht in Frage käme. Ich antwortete: „In dem Fall kann nichts aus uns werden.“
Danach gab ich auf und ließ die Minuten 221.000 bis 262.000 ohne weitere Aktivitäten verstreichen. Vielleicht war genau das der entscheidende Fehler, und in diesen Minuten wären meine elf Minuten gekommen, in denen ich mich verliebt hätte.
Das alles ist nun mehr als sechs Monate her, und all diese Begegnungen hat es wirklich gegeben. Ich habe all in den Monaten allerdings nur einen Gin Fizz getrunken. Das ist vielleicht das eigentliche Problem.