Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Von Chipude auf den Garajonay | Heute fuhr ich mit dem Auto den Berg hinauf. Zunächst eierte ich meine Piste hoch. Das ging im Gegensatz zu gestern gut. Dann fuhr ich nach Chipude. Das liegt auf 1.000 Metern Höhe. Es war sackkalt dort oben.

Aber hilft ja nichts. Ich packte diverse Klamotten in den Rucksack und wanderte auf den Garajonay, den höchsten Berg La Gomeras (1487 Meter).

Zuerst ging es Richtung Fortaleza. Das ist ein sattelförmiger Berg direkt beim Dorf Chipude.

Sattelförmiger Felsen, darunter ein kleines Haus

Danach marschierte ich am Hang stetig bergan, bis ich auf den Höhenweg nach Igulaero kam. Zu meinen Füßen war der Baranco de Erque.

Panoramabild: Blick auf die Fortaleza, davor das tief eingeschnittene Tal. Am rechten Rand der Höhenweg.

Igualero ist das höchste Dorf der Insel. Dort war es auch kalt.

Die ganze Gegend hier ist Waldbrandgegend: 2012 sind bei Waldbränden 20 Prozent des Nationalparks abgebrannt. Die Natur erholt sich immer noch. Das Unterholz ist schon wieder dicht. Bei den Bäumen treiben die Kiefern an den verkohlten Stämmen aus. An vielen Stellen stehen aber noch Gerippe.

Je höher ich kam, desto mehr lief ich in Bewölkung hinein. Der Wind blies ordentlich und trieb die Wolken in dicken, nassen Fetzen um den Berg.

Auf dem Gipfel des Garajonay gab es dann nichts zu sehen außer Weiß. Eine Aussicht war nicht im Angebot.

Der Weg nach oben war trotzdem schön. Überall roch es gut, und ich fühlte mich sehr lebendig.

Ich blieb allerdings nicht lange oben. Selbst mit Jacke und Mütze war’s zu schattig auf knapp 1.500 Metern, ich hatte beim Aufstieg auch ordentlich geschwitzt, und ein windgeschütztes Plätzchen für eine Pause gab es nicht.

In etwa eineinhalb Stunden stiefelte ich zurück nach Chipude, durch ehemaligen Kiefernwald, Terrassenfelder und durch das Dorf Los Manantiales.

Infos zur Tour: Rother Wanderführer, Tour 23 / 12,5 Kilometer / 550 Höhenmeter / 4 Stunden reine Gehzeit (passte auch)

Ich wundere mich, dass ich mit der Gehzeit hingekommen bin. Ich fühlte mich wahnsinnig langsam. Was die Kondition angeht, war beim Bergauflaufen deutlich Luft nach oben (Haha, Wortspiel!). Andererseits: Zwischendurch wars auch nicht schlecht steil.


Hinterzimmermarkt | In Chipude gibt es einen kleinen Supermarkt. Mit „klein“ meine ich: wirklich klein. Ein Raum, kleiner als mein Wohnzimmer. Er ist räumlich mit der Kneipe des Ortes verbunden: Man kann ihn nur durch den Schankraum betreten. Die Kneipe selbst ist deutlich größer ist als der Supermercado.

Wenn ich mich jemals über die Sortierung in meinem Rewe echauffiert habe, nehme ich hier und jetzt alles zurück: Es gibt im Hinterzimmermarkt von Chipude zwar eine grobe Sortierung nach Genre (Lebensmittel oder Putzmittel / muss gekühlt werden oder nicht), gleichzeitig scheint es mir auch, dass man die Ware dorthin legt, wo grad was frei ist.

Am Ende gab’s alles, was ich brauchte – und das war gar nicht mal so wenig. Faszinierend.


Gewohnheiten | Daheim: Chillout in der Hängematte. Das wird mir zur lieben Gewohnheit: Am Abend, wenn die Sonne über dem Meer steht, nochmal in die Hängematte und den Tag ausschaukeln.

Füße in einer Hängematte, dahinter das Tal und die tief stehende Sonne mit Wolken

Guayaba | Dank eines Blogkommentars habe ich gelernt, dass die Frucht, die ich gestern geschenkt bekam, eine Guave ist. Die Schale kann man mitessen, habe ich ausprobiert. Auch zwei hintereinander richten keinen Schaden an.


Vollmond | Gestern Nacht war krass Vollmond. Hier im Nirgendwo war es so hell, dass ich die ganzen fünf Kilometer bis zum Meer gucken konnte.

Vollmond am Himmel mit Wolken
22:30 Uhr

Gelesen | Ein Apotheker hat ein paar Infos über Ibuprofen aufgeschrieben.

Entdeckt | DeepL Translator. Alternative zum Google-Übersetzer (via Herr Paul).

Palmen-Office | Gestern Palmen-Office, freiwillig. Bei Sonne, Wind und Schäfchenwolken beantwortete ich Mails, delegierte ein bis zwei Aufgaben weg und arbeitete mich in mein Buchprojekt zurück.

Laptop und Notizbücher auf Holztisch, im Hintergrund Palmen und Himmel mit Schäfchenwolken, Blick ins Tal

No way out | Heute Palmen-Office, unfreiwillig. Am frühen Vormittag hatte es zu regnen begonnen. Ich setzte mich trotzdem ins Auto, um zu schauen, was auf der anderen Bergseite so geht. Ich kam aber ohne Allrad mein Tal nicht hinauf. Die erste Etappe schon, dort ist der Weg steinig, dort griffen die Räder. Auf der zweiten Etappe, dem Erdweg, nicht. Dort oben auf 600 Metern, im Nebel der Wolke, war Matsch, und ich schlingerte so sehr, dass ich keine Chance sah, die Steigung hochzukommen. Ich drehte an der nächsten Einbuchtung und rollte wieder heimwärts.

Ich baute unterm Dach der Terrasse mein Arbeitslager auf und setzte die Arbeit vom Vortrag fort. Es regnete dann auch bis in den Nachmittag hinein.

Blick ins Tal: Regen, tief hängende Wolken, Palmen im Wind.

Vermieterin M meinte: „When it’s raining, you can do things at home.“ So einfach ist das.

Dabei gibt es durchaus noch eine zweite Möglichkeit, aus dem Tal rauskommen: Man kann ganz runter zum Meer holpern und dann über Alojera wieder hochfahren. Ich hielt es allerdings mit M. Man kann sich auch einfach mal den Gegebenheiten hingeben.


Talspaziergang | Mitte des Nachmittags klarte es auf, ich schnürte meine Wanderstiefel, ging einige Kilometer hinunter in Richtung Alojera und bestaunte das Tal.

Panoramaaufnahme des Tals: Berge mit Licht und Schatten und Terrassenfeldern

Es gibt einen Weg, der durch den Barranco führt, also durch die Schlucht. Den entdeckte ich aber erst auf dem Rückweg. Der Weg durch die Schlucht ist natürlich kürzer als entlang des Fahrwegs, der in Schleifen den Hang entlang führt – dafür auch steiler.

Tal mit Terrassenfeldern. Blick in Richtung Meer.

Irgendwann werde ich mal ganz runtergehen – bis nach Alojera. Ich muss schließlich recherchieren, ob es dort Eis gibt. Dafür war es heute aber zu spät. Ich wollte in jedem Fall vermeiden, dass es dunkel wird, während ich noch unterwegs bin. Denn dann ist es im Tal stockfinster, und es wird schwierig, nach Hause zu finden. Straßenbeleuchtung gibt’s ja nicht.


Geschenk | Als ich heimkam, kam auch M von einem Ausflug heim – und brachte mir von einer Freundin Eier und Früchte mit.

Eier und runde, gelbe Früchte in einer Schale

Deshalb gab es am Abend Nudeln mit Gemüse und Ei. Die Früchte habe ich auch probiert – und gegoogelt, was es sein könnte. Ich tippe auf Passionsfrucht. Schmeckt jedenfalls lecker.


Zeitloch | Es ist erstaunlich, wie schnell die Zeit hier rumgeht. Tagsüber, meine ich. Besonders an Tagen im Eremitenhäuschen. Kaum bin ich aufgestanden, habe gefrühstückt und ein bisschen auf den Liegemöglichkeiten rumgelümmelt: zack, 14 Uhr. Das muss irgendwas Physikalisches sein.

Falls Sie hier übrigens große philosophische Ergüsse von mir erwarten, weil Sie denken, es ereilten mich in der Abgeschiedenheit, beim sinnierenden Blick ins Tal ungeahnte Ideen: Nope. Ich denke im Wesentlichen nichts. Auch mal schön.


Politnavi | Bei Herrn Paul habe ich das Politnavi gefunden und die 40 Fragen zur politischen Einstellung beantwortet und was soll ich sagen? Pazifistisch, weltoffen, umweltbewusst, laizistisch und maximal weit von der AFD entfernt.


Angeguckt | Oder mehr angehört wegen schlechten Internets: Unser Kind. Katharina und Ellen sind verheiratet und haben ein Kind miteinander, Ellen hat aber (noch) kein Sorgerecht. Als Katharina stirbt, entwickelt sich zwischen dem biologischen Vater und Samenspender Wolfgang, Katharinas Eltern (den biologischen Großeltern des Kindes) und Ellen ein persönlicher und menschlicher Kampf um das Kind.

Gelesen | Ulli Eicke: Lena Stern – Thanatos. Ein Dortmund-Krimi um eine Ermittlerin, erschienen im Selbstverlag (Vermutung) – jedenfalls enthält das Buch einige Rechtschreibfehler. Alles in allem ein solider Krimi, allerdings mit holzschnittartigen Charakteren. Auch die Stadt Dortmund kommt eher stereotyp weg. Teil Zwei werde ich mir wohl noch geben. Ob ich die ganze Serie vertrage, bezweifle ich.

Gelesen | Frank Glanert hat nochmal nachgelegt und seinen Artikel zur Vier-Tage-Woche ergänzt: Vier Gründe, die dagegen sprechen

Gelesen | Das Designtagebuch analysiert und kommentiert den Relaunch von spiegel.de.

Nichts gemacht | Am Vormittag war es kalt. Ich habe nichts gemacht. Ich war in einer Kältestarre.

Am Nachmittag kam ein bisschen die Sonne raus. Ich ging hinaus und wippte mit den Zehen. Dazu aß ich ein Brötchen. Krümel fielen auf den Boden. Ameisen transportierten sie ab. Das war interessant. Drei Ameisen trugen den Krümel. Eine lief drumherum und korrigierte die Richtung.

Danach legte mich in die Hängematte. Weil man auch mal die Perspektive wechseln soll, legte ich mich anders herum als an den ersten vier Tagen – mit den Füßen nach Osten, nicht nach Westen.

Ein Teil der Hängematte, dahinter grüne Berge, davor Palmen. Am Himmel Wolken.

So schaute ich nicht auf die Küste, sondern in die Berge. Brachte aber keine neuen Erkenntnisse.

Dann ging die Sonne unter.

Panoramabild vom Sonnenuntergang mit Wolken, die vom Berg zur Küste ziehen.

Angeguckt | Spiegel Online ist jetzt Der Spiegel, mit neuem Layout und neuem Redaktionssystem im Hintergrund. Erscheint mir auf den ersten Blick gelungen.

Angeguckt | Australian fires: A visual guides to the bushfire crisis. Gute Aufbereitung von der BBC.

Gelesen | „Daten von Schwangeren zählen zu den wertvollsten überhaupt.“ Ein Interview zu Zyklus-Apps und warum sie ein einträgliches Geschäft sind.

Winter | Heute war es bitterkalt. Also, für gomerische Verhältnisse. In der Nacht hat es ausufernd gewindet. Ich bin mehrmals aufgestanden, um zu schauen, ob alles noch an Ort und Stelle ist, um die Hängematte abzunehmen (damit sie nicht nassregnet), um Fenster und Türen zu schließen und wieder zu öffnen. Denn zu ist nicht unbedingt gut, dann zieht’s durch die Ritzen, und alles klappert. Auf ist natürlich auch nicht gut, denn dann windet es durch die ganze, kleine Bude. Wie man’s macht!


Der Weg zur schönen Aussicht | Am späten Vormittag fuhr ich nach Valle Gran Rey. Das liegt im Westen der Insel. Ich wollte etwas einkaufen und tanken. Mich macht es nervös, wenn sich Dinge dem Ende zuneigen. Ich könnte schließlich unverschuldet von der Welt abgeschnitten werden – und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wenn ich nur noch eine halbe Packung von dieser köstlichen Käsecreme und eine kleine Banane im Hause habe. Nicht gut.

Außerdem wollte ich nach meinem gestrigen Wandertag etwas nicht allzu Anstrengendes unternehmen, aber trotzdem raus, also: ganz raus. Gestern bin ich ja nur einen Teil des holprigen Weges hinauf gefahren, habe drei Kilometer oberhalb meiner Unterkunft geparkt und bin von dort aus weitergelaufen. Heute fuhr ich den holprigen Weg bis zur Straße zurück – und, wie gesagt, weiter nach Valle Gran Rey.

Damit Sie einen Eindruck haben, wie die Fahrt zu meinem Eremitenhäuschen aussieht, habe ich auf dem Heimweg Bilder für Sie gemacht. Abgeschiedenheit und schöne Aussicht gibt’s hier nicht für umme: Man muss Einsatz zeigen.

Die sechs Kilometer lange Fahrt über die Piste dauert etwa 25 Minuten. Zwischendurch kommt auch eine Strecke, die zum Teil ashpaltiert ist. Da geht’s für einen Moment schneller voran. Alles in allem braucht’s aber Beherztheit, Schwindelfreiheit und in bisschen Gefühl im Gasfuß, besonders bergauf in den steilen, erdigen Kurven.


Im Tal des Großen Königs | Auf dem Weg zum Valle Gran Rey hielt ich am Mirador und schaute hinunter ins Tal.

Blick ins lang gezogene, terrassierte Tal

Im Tal parkte ich an der nächsten Straßenecke und marschierte zu Fuß weiter, ging die Küste entlang, stromerte durch die Gassen und trank einen Kaffee. Dazu gab’s eine Waffel, die ich nicht fotografieren konnte, die Gründe erzähle ich gleich.

Die Waffel war mit Mangosorbet und Sesampaste dekoriert. Beides war köstlich. Die Waffel selbst war allerdings aufgetaut und bekommt deshalb nur lieb gemeinte fünf von zehn Punkten, wenngleich Farbe und Geschmack grundsätzlich stimmten.

Dass ich kein Foto von der Waffel habe, liegt an meinem Sitznachbarn. Der Herr gesellte sich zu mir und einer mir unbekannten Dame an den Tisch. Die Dame war etwa in meinem Alter, sie las ein Buch, ich fragte, ob ich mich dazusetzen dürfe, sie nickte, und fortan ignorierten wir uns höflich.

Dann kam der Herr, ein Mann im frühen Renten-, vielleicht auch späten Erwerbsalter. Er fragte ebenfalls, ob er sitzen dürfe, wir nickten, und fortan begann er der lesenden Dame zu dozieren.

Warum er mir nicht dozierte, kann ich nicht sagen. Die Lesende erfuhr, dass er seit zwei Wochen auf der Insel wohnt, wie hoch die Wellen üblicherweise sind, was er zum Frühstück isst (Joghurt-Smoothie) und warum (Verdauung), dass es heute besonders kalt ist (ach was), dass das im Januar aber vorkommen kann (sapperlot) und warum (Wetter), dass Wellen mit Wind höher sind als ohne (na sowas) und allerlei anderes Insider-Wissen.

Um seine Aufmerksamkeit nicht auf mich zu ziehen, sah ich davon ab, mein Essen zu fotografieren. Einen Vortrag über Handysucht und den Fluch sozialer Medien wollte ich unbedingt vermeiden.


Too many Germans | Nach der Waffel kaufte ich ein, tankte und fuhr heim. Wieder in Tazo, traf ich auf meine Vermieterin M.

„How was Valle Gran Rey?“
„Nice Landscape but too many Germans.“
„Right.“

Denn allerorten schwäbelte es heute, hier Yoga, dort Schwangerschaftsmassage, Meditation, Trommelerfahrungen, irgendwas für die Chakren und sogar ein Reformhaus gibt’s im Valle, eine deutsche Metzgerei, eine deutsche Bäckerei (Vollkorn, auch glutenfrei) und überall Menschen in Strickstulpen und weiten Baumwollhosen, die sehr achtsam Dinge tun.

In dem Zusammenhang gelernt: Alt-Hippietum und die Freizeit Revue schließen sich nicht aus.

Zeitschriftenständer mit deutscher Yellow Press

Gehört | Der Moskau-Nizza-Express. Eine Reportage des Deutschlandfunks über einen russischen Nachtzug, der 3300 Kilometer durch sieben Lämder fährt, 49 Stunden lang, jeden Donnerstag: von Moskau nach Nizza.

Gehört | „Was ist Deine Wahrheit?“ Kriminalbiologe Mark Benecke zu Gast im Hotel Matze.

Gelesen | Ingenieur Frank Glanert hat seine Arbeitszeit reduziert. Er arbeitet nur noch vier Tage pro Woche. Warum er das tat und wie es ihm damit geht, erzählt er.

Wetter I | Heute Nacht hat es geregnet. Am Morgen hingen die Wolken tief in den Bergen. Ich musste Socken anziehen wegen fußkalt.


Zu Fuß | Am Vormittag verließ ich mein Eremitenhäuschen für eine Unternehmung. Ich machte eine kleine, dreizehnkilometrige Akklimatisierungswanderung. Ich ging zur Kirche Santa Clara und von dort über einen Bergkamm, bis ich an einen Mirador kam – und wieder zurück.

Der Aussichtspunkt bot wirklich eine großartige Aussicht. Ich konnte ins 600 Meter tiefe Tal gucken – und auf Teneriffa mit dem Teide.

In der Ferne Teneriffa, rechts von viele Berge und ein tiefer Taleinschitt, alles bewaldet. Die Sonne scheint.

Auf dem Weg sah ich tolle Sachen: eine blaue Libelle, die hubschrauberähnliche Ausmaße hatte. Ein blaues, kleines Schneckenhaus. Aeonium, groß wie ein Männerkopf. Farn, der sich entrollt. Bunte Pflanzen, deren Namen ich nicht kenne.

Spannend war auch: Auf der einen Seite des Berges, dort wo ich losging, war Mützenwetter mit Schatten, kühlem Wind, Wald, Flechten und Pfützen. Je weiter ich um den Berg herum ging, desto mehr änderten sich Klima und Pflanzen hin zu Wüstenbewuchs. Ich legte die Mütze ab, wechselte Shirt und Hose auf kurz und holte Sonnenbrille und Bandana aus dem Rucksack.

Panoramabild: links Lehmpfad und ein Hügel, in der Mitte das Meer.

An der Kirche Santa Clara wohnten Katzen und Hühner. Soweit ich das beurteilen kann, gehen die Hühner dort keiner Erwerbstätigkeit nach. Sie lungern vielmehr am Kirchlein herum und warten darauf, dass Touristen Krümel fallen lassen. Kaum saß ich, um meine Hosenbeine abzuschrauben, kamen sie. Sie versuchten, diskret zu wirken, näherten sich aber so auffällig unbeteiligt, dass kein Zweifel darin bestand, welche Hoffnung sie hegten.

Erstaunlich war, dass die Hühner die Oberhand über die Katzen hatten. Kam eine Katze angeschlichen, machte der Hahn den Dicken, marschierte auf die Katze zu, und die Katze trollte sich.


Happy Bloggeburtstag | Vergessen: Vor zwei Tagen hatte das Kännchenblog Geburtstag. Es ist nun 14 und schwer pubertär.


Lange Leitung | Das Internet ist heute schlecht in Tazo. M sagt, das sei so, weil Feiertag ist – Heilige Drei Könige. Alle Leute seien in ihren Häusern und guckten Youtube.

Alles in allem ist das Internet aber sehr gut. Ich habe hier im Nirgendwo drei Balken LTE, das WLAN kann leidlich Video, und auch auf der heutigen Wanderung, weit jenseits jeder Zivilisation, hinter den sieben Bergen, hatte ich durchgehend LTE oder 3G.


Wetter II | Heute Abend zog es sich wieder zu.

Im Vordergrund, dahinter Berge mit Wolken

Während ich diesen Beitrag schreibe, pfeift der Wind ums Haus, es zieht durch die Ritzen, und die Palmen rascheln wild.

Liegefortsetzung | Den Morgen brachte ich damit zu, noch einmal ausführlich den Liegeplatz „Hängematte“ zu testen. Er kam gestern zu kurz, und ich möchte meine Sache gründlich machen.

Ich verbrachte den Vormittag also schaukelnd und lesend. Ich las „Das Geburtstagsfest“ von Judith W. Taschler zu Ende. Ein gutes Buch, prima runterzulesen, wenngleich kein leichtes Thema: Es geht um Kambodscha und die Roten Khmer, um Schuld und um Trauma, um Familiengeschichte und um die Frage, wie viel Schweigen das Miteinander verträgt. Das alles erzählt Judith Taschler mit einer handvoll Figuren, darunter Kim und Tevi, die als Kinder nach Österreich kamen, ohne Besitztümer, aber dennoch mit einem großen Rucksack.

Ich unterbrach zuweilen mein Lesen, um die Wolken zu beobachten. Sie kamen übers Haus getrieben, sehr klein, sehr dünn. Einmal sah eine Wolke aus wie eine Ameise, mit sechs Beinen, die nach links und rechts auseinandertrieben und sich auflösten. Aus dem verbleibenden Ameisenkörper wurde eine Katze. Die Katze bekam erst ein Loch im Bauch, dann löste auch sie sich auf. Dasselbe geschah mit einem Drachen, einem Hund, dem Berliner Fernsehturm und anderen Wolken. Eine sah aus wie Donald Trump. Auch er löste sich auf. Es war beruhigend, der allgemeinen Auflösung zuzusehen.


Unterm Baldachin | Heute Nacht bin ich mehrmals aufgewacht, weil die Palmen so laut rauschten. Es hörte sich wie Regen an, doch es war kein Regen. Der Wind pfiff ums Haus, schüttelte die Palmwedel und das Pfeifen hörte sich mal wie ein Ozeandampfer, mal wie ein Teekessel an.

Bevor ich einschlief, verstand ich, warum ein Moskitonetz über dem Bett hängt. Die erste Mücke erwischte ich im Flug. Die zweite auf frischer Tat. Ihre Kumpels sirrten dennoch weiter an meinem Ohr, und so entfummelte ich das Moskitonetz, legte mich darunter, und schon war Ruhe.


Dorfcheck | Am Nachmittag des heutigen Tages fühlte ich mich bereit, die Umgebung mit einem Spaziergang zu erkunden. Ich ging einmal um den Berg.

Pfad hinauf, führt rechts um einen Felsen herum

Mein Reiseführer weiß über den Ort, in dem ich wohne:

Hier ist rein gar nichts los

Terrassenfelder stapeln sich zu Dutzenden Berg hinauf. […] Durch menschenleeres Gelände verläuft eine Piste von Tazo nach Alojera. Nach starken Regenfällen kommt es in diesem Gebiet manchmal zu Erdrutschen.

Dumont Reise-Taschenbuch La Gomera, S.147f.

Hier sind sie, die Terrassenfelder – der weiße Punkt oben rechts ist das Häuschen, in dem ich wohne:

Panoramaaufnahme von Terrassenfeldern, darüber blauer Himmel mit vereinzelten Wolken, in der Ferne das Meer

Das Internet weiß außerdem, dass es in diesem Gebiet 12.000 Palmen gibt. Sie werden dafür verwendet, Palmenhonig herzustellen.

Ich ging um den Berg, stieg zwischen den Häusern auf, traf wieder auf eine Piste, ging die Piste weiter, erreichte eine Anhöhe und stieg wieder hinab, bis ich zurück an meinem Häuschen war.

Auf dem Wege entdeckte ich, dass direkt in meiner Nachbarschaft eine Irin „Wholistic Healing“ betreibt. Ich ging näher an das Schild heran und las, dass es sich um eine Massage handelt, die alles löst: Muskeln und Gedanken und Seele, und ich finde, dass sich das ganz gut anhört.

Straße mit Palmen, daneben ein selbst gemaltes Schild "Wholistic Healing". Daneben ein weiteres Schild: "Playa".

Dem Schild zum Playa werde ich demnächst auch folgen, irgendwann. Ich möchte nichts überstürzen.

DUS – TFS – La Gomera | Mit dem Januar beginnt meine Auszeit. Ich werde den Monat fast vollständig auf La Gomera verbringen, um zu lesen, zu wandern, zu schreiben und in die Gegend zu gucken.

Die Anreise nach La Gomera dauerte 13 Stunden. Erst fuhr mich eine Freundin zum Bahnhof. Vom Bahnhof aus fuhr mich die Deutsche Bahn zum Flughafen. Am Flughafen stieg ich in ein Flugzeug.

Flugzeug im Regen, aus dem Bus fotografiert. Davor ein Mann in neongelber Jacke.

Beim Einsteigen ins Flugzeug waren viele Menschen sehr schlecht gelaunt, weil sie sich untereinander im Weg standen und es ihnen nicht schnell genug ging.

Mit dem Flugzeug flog ich nach Teneriffa.

Auf Teneriffa fuhr mich ein Taxifahrer zum Hafen. Am Hafen musste ich drei Stunden warten, denn die Fähre legte erst um 19 Uhr am Abend ab. Ich ging zum Strand. Das machte das Warten schöner.

Strand, Palmen

Ich aß Tapas, beguckte die Menschen, las in meinem Buch und ließ mich von der Sonne bescheinen. Am Abend bestieg ich die Fähre nach La Gomera.

Seite eine Fähre, Aufschrift "RED.OLSEN". Dahinter ein weiteres Schiff.

Ich stand oben an Deck, Musik dudelte, Autos fuhren unter mir aufs Schiff. Lkws bugsierten sich rückwärts auf verschiedene Spuren des Autodecks.

Von der Fähre aus sah ich den Hafen von Los Cristianos. Mein Aioli-schwangerer Atem trieb Mücken in die Ohnmacht.

Hafen im letzten Licht. Beleuchtete Häuse, Laternen auf dem Kai.

Angekommen auf La Gomera, zerrte ich meinen Koffer zum Hotel in San Sebastián, nahm die Zimmerkarte in Empfang, kaufte mir noch ein Brot und ein Getränk, setzte mich aufs Zimmer und schlief ermattet ein, während Andere über Verbrechen talkten.


Tag Eins auf La Gomera | Heute Morgen weckte mich der Wecker, denn ich wollte pünktlich den Mietwagen abholen. Ich war noch fürchterlich müde, aber die Welt war bunt und sonnig.

Blick auf einem Fenster auf bunte Häuser an einem Berghang. Die Sonne scheint.

Ich frühstückte, checkte aus, zerrte meinen Koffer zurück zum Hafen und übernahm dort den Mietwagen.

Weil ich in den Bergen wohne, dreißig Minuten vom nächsten Supermarkt entfernt und auch sonst von nur wenig Zivilisation umgeben, kaufte ich in San Sebastián erstmal einen Kofferraum voll ein: Wasser, Milch, Saft, Brot, Butter, Müsli, Obst, Gemüse, Nudeln und all das Zeug, was man für eine Lebensmittel-Erstausstattung braucht. Allerdings benötigte ich zwei Runden durch enge Gassen, um zu erkunden, wo denn der ausgeschilderte Supermarkt ist. Von außen war das nämlich nicht erkennbar: Er ist nur durch eine Passage erreichbar, es gibt auch keinen Outdoor-Parkplatz, der Hinweise geben könnte, lediglich eine Tiefgarage, deren Einfahrt sich Camouflage-artig ins Straßenbild einfügt. Die Tiefgarage ist die engste Tiefgarage Spaniens, dessen bin ich mir sicher. Ich war heidenfroh, nur einen Corsa zu fahren. Ein- und Ausparken gelang in – ich übertreibe nicht – zwölf Zügen. Zwischendurch war ich sicher, für den Rest meines Lebens zwischen einem Pfeiler und einem Renault verweilen zu müssen. Die Servolenkung beantragte noch bei der Ausfahrt ein Sabbatical.

Danach verließ ich San Sebstián. Blick auf die Hauptstadt der Insel, im Hintergrund Teneriffa:

Blick von einem Aussichtspunkt in die Weite: karge Berge, eine Stadt am Meer, im Hintergrund die Insel Teneriffa.

Rund eine Stunde fuhr ich in Kurven über die Insel, überholte Radsportler, wurde von Einheimischen überholt, fuhr durch Nebelwald und durch Vulkangestein, bis ich nach Epína kam. Dort bog ich auf einen breiten, rumpeligen Feldweg ab. Für die sechs Kilometer zum Ziel brauchte ich fast eine halbe Stunde, so holprig, ausgewaschen und uneben war die Straße. Dafür, liebe Leute, gibt es SUVs. Und nur dafür.

Dann kam ich an dem kleinen Studio in den Bergen an. Die Tür stand offen, ich ging durchs Tor auf die Terrasse. Nice, sagt man wohl.

Überdachte Terrasse, Blick auf Berge, dahinter das Meer, eine Hängematte baumelt im Sonnenschein.

Als ich gerade begonnen hatte auszuladen, kam die Vermieterin M, eine sehr schöne, ältere Dame. Sie wohnt direkt neben mir, wie in einem Reihenhaus, nur in viel kleiner.

Den Rest des Tages verbrachte ich damit, die verschiedenen Möglichkeiten zu testen, wo man an diesem Ort zu liegen kommen kann. Die erste Möglichkeit ist das Bett:

Füße, dahinter eine Terrassentür, dahinter grüne Berge und Sonnenschein.

Die zweite Möglichkeit sind die Liegen vor dem Bett. Dort lag ich auch, habe aber kein Foto gemacht.

Die dritte Möglichkeit sind die Sonnenliegen neben dem Haus. Dort ist es am Nachmittag sehr schön, wenn die Sonne schon weiter im Westen steht.

Terrasse, Sonne, Blick aufs Meer

Die vierte Möglichkeit, zu liegen zu kommen, ist die Hängematte. Sie erwies sich als ausgesprochen gemütlich, zumal sie an ein Geländer grenzt, mit dem man sich Anschwung geben kann. Dort werde ich in den nächsten Tagen länger liegen.

Heute ging die Sonne unter, kaum hatte ich mich niedergelassen.

Händematte, im Hintergrund Sonnenuntergang

Abends kochte ich mir Nudeln. Dann begann ich zu bloggen. Das Internet hier ist vorhanden, aber nicht das schnellste. Videos abspielen geht manchmal, manchmal auch nicht. Fotos hochladen dauert.

Während ich diesen Beitrag schrieb, hörte ich Podcasts, darunter einen BR-Talk mit dem SAP-Personalchef Cawa Younosi, der als Teenager aus Afghanistan floh und mit nichts in Deutschland ankam. Beeindruckende Biografie und gute Ansichten.

Jahresende | Gestern habe ich mich erneut angekleidet und bin Silvester feiern gegangen.

Wir haben uns Burger gebaut und haben Blokus gespielt. Das habe ich letztens von meiner Wunschliste geschenkt bekommen; ein großartiges Spiel. Es hat lediglich eine einzige Regel: „Lege alle Deine Plättchen ab, aber nur Ecke an Ecke.“ Ich liebe es, wenn Spiele so einfach sind.

Außerdem schauten wir in die Zukunft. Im Knallbonbon war die Ziffer Drei. Außerdem habe ich die abgebildeten Dingsis gegossen.

Ziffer Drei aus Plastik, daneben undefinierbare Zinngussteile.

Um Mitternacht tranken wir Prickelndes, schwenkten Wunderkerzen und schauten versonnen aufs Feuerwerk.


Rückblick | Es hat in diesem Internet Tradition, einen Jahresendfragebogen auszufüllen. Dann mache ich das auch mal. Blick zurück ins Jahr 2019:

Wofür bist du dankbar?

Dass ich in den vergangenen drei Jahren nur zwei kleine Erkältungen hatte und ansonsten pumperlgesund bin. Dass meine Lieben ebenso gesund sind. Dass ich viele sehr tolle Menschen um mich habe. Für eine prima Scheidung. Dass ich lieben kann. Dass ich arbeiten darf, woran ich Freude habe. Dass ich damit Geld verdiene.

Was war im vergangenen Jahr deine Lieblingsbeschäftigung?

Mit Freunden zusammensein. Schwimmen. Im Garten sitzen und den Dompfaffen zugucken. Sex. Die Reihenfolge kann variieren.

Was war dein größter Fehler? 

Die Frage hört sich so anklagend an. Fehler sind dazu da, um gemacht zu werden und daraus zu lernen. Aber einen größten Fehler? Gibt’s nicht. Ich habe mir in der zweiten Jahreshälfte die Arbeit zu eng getaktet. Dass möchte ich im kommenden Jahr anders machen.

Wann warst du glücklich?

In sehr vielen Momenten. Wenn ich anderen Menschen etwas geben konnte. Im Beisammensein mit Freunden. Wenn Ideen funktioniert haben. Beim Schwimmen. Wenn ich etwas gelernt habe. Mit C und den Jungs. Wenn ich nach einem anstrengenden Tag im weichen Bett lag. Wenn die Sonne schien und ich frei hatte. Auf dem Schatöchen. Nach einem heißen Tag unter der Dusche. Bei Spaghettieis. Und in vielen anderen Situationen.

Was hat sich verändert?

Mehr Sicherheit.

Vorherrschendes Gefühl 2019?

Das krieg ich schon irgendwie hin.

Worauf bist du stolz?

Ich tue mich schwer damit, auf etwas stolz zu sein. Ich mache nichts Besonderes und kann nichts Besonderes. Wenn ich in etwas gut bin, ist das nur ein Ergebnis von … ja, was? Dem Mut, es einfach zu tun, Fokus, etwas Talent, etwas Fleiß, stetiger Verbesserung.

Vielleicht bin ich stolz darauf, dass ich irgendwie klarkomme. Denn mehr ist es ja nicht, das Leben: Man versucht, irgendwie klarzukommen und dabei glücklich zu sein.

Mit wem hättest du gern mehr Zeit verbracht?

Mit vielen Menschen. Ich habe sehr viel Zeit mit Arbeiten verbracht – und gefühlt noch mehr mit dem Pendeln zwischen Städten. Sie fehlte für Freunde, fürs kleine Partymädchen, fürs großen Patenkind, für vieles.

Haare länger oder kürzer?

Etwas kürzer, glaube ich. Ich halte das nicht nach.

Was hast du zum ersten Mal gemacht?

In Weimar gewesen. Mehrere hundert Meter durchgekrault. In Brandenburg gewesen. Die Methodik meiner Dissertation bei einem Kunden angewendet. Vor 80 Führungskräften gesprochen. Mit Lego-Serious-Play gearbeitet. Einen Buchfink gestreichelt. Und viele, viele andere Dinge.

Worauf hättest du gut verzichten können?

Mit der Arbeit am Anschlag und dazu Liebeskummer from hell. Wie eine Kerze, die an zwei Enden brennt. Ich konnte nur atmen. Und an manchen Tagen nicht einmal das. Drei Monate tieftraurig und dazu (und auch deswegen) unendlich erschöpft.

Kurzsichtiger oder weitsichtiger?

Gleich. Aber mit neuer Brille.

Mehr ausgegeben oder weniger?

Geschäftlich: mehr Einnahmen, höhere Beiträge, deutlich höhere Kosten. Privat habe ich mir Terrassenmöbel gekauft. Außerdem habe ich gut gelebt, gut gegessen, beim Einkaufen nicht auf den Preis geachtet. Das empfinde ich als großen Luxus.

Die teuerste Anschaffung?

Geschäftlich: iPad pro mit Apple Pen. Seither täglich im Einsatz. Außerdem ein iPhone XR. Privat: Schatöchen für mich und Andere, Kleidung.

Das beeindruckendste Buch?

„Tausend Zeilen Lügen“ von Juan Moreno. Unglaublicher Spannungsbogen. Sehr pointiert. Auf vielen Ebenen lehrreich und aussagekräftig, nicht nur, was den Journalismus, sondern auch was unsere Gesellschaft betrifft. Insgesamt habe ich 2019 zu wenig gelesen.

Der beeindruckendste Film?

„Der Junge muss an die frische Luft“, das Portrait des jungen Hape Kerkeling.

Magst du dein Leben?

Ja. Sehr.

Mit welchen Sätzen lässt sich dein Jahr zusammenfassen?

L’unica goia al mondo è cominciare.
È bello vivere perché vivere è cominciare,
sempre, ad ogni istante.
Quando manca questo senso
– prigione, malattia, abitudine, stupidità , –
si vorebbe morire.

– Cesare Pavese

Die einzige Freude auf der Welt ist das Anfangen.
Es ist schön zu leben, weil Leben Anfangen ist,
immer, in jedem Augenblick.
Wenn dieser Sinn fehlt
– Gefängnis, Krankheit, Gewohnheit, Dummheit -,
möchte man sterben.

– Cesare Pavese


Bilder geguckt | Herr Giardino war neujahrsspazieren.

Gelesen | Warum Obdachlose nicht in Notunterkünfte gehen

Gelesen | Kerstin Hoffmann und ihr Mann Ulrich Heister setzen sich regelmäßig zusammen und machen als Paar eine Vision von ihrem gemeinsamen Leben. Was es damit auf sich hat und wozu das gut ist.

Dolce far niente | Am 20. Dezember habe ich den Wecker ausgestellt. Seither wache ich auf, wenn ich aufwache, und inzwischen, nach mehr als einer Woche, steuere ich mehr und mehr auf eine leichte Verwahrlosung zu. Nur Sozialkontakte ermutigen mich, mich anzukleiden und das magische Dreieck zwischen Bett, Sofa und Kühlschrank zu verlassen. Ich sah Sissi und eine Dokumentation über die neue Seidenstraße, las ein Buch, hörte Musik, pflegte aber im Wesentlichen die Kunst des Nickerchens. Man soll nicht meinen, dass es nach elf Stunden Nachtschlaf noch möglich ist, tagsüber ein Auge zuzutun. Es bedarf jedoch nicht einmal großer Anstrengung. Es passiert einfach.


Heiligabend | Ein Grund, mich anzukleiden, war Heiligabend. Ich schaffte es, ein Mahl zuzubereiten. Es gab traditionell Fondue.

Gedeckter Tisch mit Kerzen. Darauf Tomate-Mozzarella, ein Fonduetopf, Gurkensalat und Fleisch.

Zuvor hatte ich Fenster geputzt, bei Regen und Sturm. Wenn es mich packt, dann packt es mich. Dann darf ich es nicht aufschieben, dann muss ich die Fenster putzen, jetzt und hier, denn das nächste Packen wird erst in vielen Monaten über mich kommen.

Es stellte sich überdies heraus, dass es durchaus praktisch ist, bei Regen Fenster zu putzen. Denn die Fenster sind bereits nass, ich musste die Nässe nur gut verteilen, mit Spüli mischen und abziehen. Danach war alles sauber. Nur der Wind war hinderlich, aber irgendwas ist ja immer. Das Ergebnis ist jedenfalls zufriedenstellend, auch nach Betrachtung am nächsten Morgen. Lassen Sie sich also nichts einreden, was Fensterputzbedingungen angeht.


Erster Weihnachtstag | Am ersten Weihnachtstag kleidete ich mich ebenfalls an. Diesmal, um spazieren zu gehen. Ich bin inzwischen in einem Alter, in dem ich Spaziergänge mache, schlendernd, mit taxierendem Blick. Nur die Hände habe ich noch nicht hinter dem Rücken verschränkt – das mindert meine Spaziergeh-Credibility natürlich. Doch es ist unpraktisch, die Hände zu verschränken. Man verliert so schnell das Gleichgewicht.

Ich betrachtete den Strukturwandel in meinem Kiez, die weißen Kästen, frisch gebaut, und die bunten Arbeiterhäuser, abblätternd oder neu angestrichen, dazu Schilf und Graffiti, Baustellen und BVB. Die Trinkhalle ums Eck hatte geschlossen. Der Wind pfiff.


Zweiter Weihnachtstag | Einen weiteren Tag später, es war der zweite Weihnachtstag, beschloss ich, mich nur zwecks Anfahrt anzukleiden. Ich verbrachte den Tag saunierend, schwitzend, schlafend, lesend, schwitzend, schlafend, essend, schwitzend.

Bis tief in den Abend hinein war ich im Aqualand und erlebte Aufgüsse des Todes, Colonia Super Spezial mit vier Durchgängen. Gestandene Männer stiegen mit zusammengekniffenen Augen und aufgeblasenen Backen vom Holz und atmeten erst aus, als sie draußen im Dunst standen. In Schwaden stieg die Hitze von ihren Körpern auf. Schnaufend übergossen sie sich mit Kälte, prusteten wie Walrösser und strichen sich in großen Bewegungen die Nässe von den Bäuchen.

Rundes Gebäude mit bunter Fassade, davor Lichterketten, Beschriftung "Aqualand"

Sitzen blieben nur die Russen. Breitbeinig saßen sie auf den obersten Bänken, Filzhüte auf den Köpfen. Goldketten schwer wie Schiffsschrauben schmiegten sich ins Brusthaar; die Schnauzbärte borstig und dicht wie Baumarktschrubber. Wenn der Saunameister seine Fahne schwenkte und die feuchte Hitze gegen die Körper schlug, hoben sie ihre Arme, segnend wie der Pfarrer in der Christmette, die Augen geschlossen, das Kinn gehoben, der Schweiß troff von ihren Achseln. Zwischen den Aufgüssen legten sie die Hände in den geöffneten Schritt und warteten auf die nächste Runde.

Am Abend dröhnte dazu Musik aus den Boxen. Luis Fonsi schrie „Espacito!“ in die Menge nackter Leiber, es gab Aufguss mit Slibowitz, die Russen klatschten und schunkelten, die Bänke bebten. Wenn es nach ihnen ging, könnte es acht, zehn und mehr Durchgänge geben.


Zwischen den Jahren | Am Samstag kleidete ich mich an, um den Kochstammtisch zu besuchen. Freunde hatten eingeladen. Es gab Reibeplätzchen mit Zwiebeläpfeln, Lammkeule mit Möhren und Buchweizen und zum Nachtisch ein Schoko-Kirsch-Küchlein mit Portweineis. Erst um 2:30 Uhr war ich wieder daheim. Man hält erstaunlich lange durch, wenn man tagsüber ausgiebig Nickerchen macht.

Anwesende Kinder beschäftigten sich undigital mit Webrahmen und Bügelperlen, die niemand bügeln musste. Stattdessen half Wasser. Es war friedlich und schön und lecker.


Gelesen | Charly Kühnast hat zusammengeschrieben, welche Geschichte der Ausdruck „Zwischen den Jahren“ hat.

Gelesen | Gebt den Kindern einen Grund zum Lernen. Einblick in die Unterrichtsstrategien in Neuseeland.

Oh du fröhliche | Ich habe Josef gefixed. Bin jetzt weihnachtsbereit.

Josef-Figur, daneben Sekundenkleber

Letzter Arbeitstag | Um 8 Uhr erwacht. „Wenn ich schon wach bin, kann ich auch einkaufen fahren“, dachte ich mir. Und fuhr einkaufen. Das war sehr schlau. Denn nach mir brach das Inferno los.

Auf dem Heimweg fuhr ich erst hinter dem Bus her. Dann hinter dem Müllwagen. Den Müllwagen konnte ich nicht überholen – Straße zu eng, zu viele parkende Autos. Die Leute hinter mir hupten, setzten zum Überholen an, stellten dann fest, dass sie nicht überholen können, kamen dann nicht mehr vor und nicht zurück. Auf der Gegenfahrbahn: ebenfalls Versuche, sich vorbeizuquetschen, über den Bürgersteig zu fahren, alles scheiterte. Die Müllmänner wuchteten derweil mit beeindruckender Dynamik Tonnen über die Gehwege. Ich summte „Last Christmas“.

Unglaublich, wie unentspannt die Menschen waren. Alle verrückt.

Einkaufskorb mit Limo, 11 Freunde, Burata, Blumenkohl, im Hintergrund Orangen.

Daheim großes Auspacken. Anschließend ausgiebiges Frühstück.

Danach arbeitete ich die letzten Dinge weg, schrieb Rechnungen, füllte Leistungsnachweise aus, buchte Belege, tätigte Überweisungen, sortierte Papier aus, schredderte es, brachte es fort, legte Kundenordner an, sortierte die Inhalte, buchte Belege, heftete Zeug ab und bedruckte Umschläge für meine Neujahrskarten.

Weihnachtsstern, Nikolausfigur, bedruckte Umschläge

Dann war 18 Uhr.

Feierabend. Licht aus. Weihnachten.



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