Gelesen im Februar 2015:
Ceridwen Dovey. Der Koch, der Maler und der Barbier des Präsidenten
(Aus dem Englischen von Sabine Roth)
Ein nicht näher benanntes Land. Der Präsident wird gestürzt. Sein Koch, sein Maler und sein Barbier dienen ab sofort dem neuen Herrscher. Sie und ihre Frauen erzählen ihre Sicht der Dinge. Keiner von ihnen hat Namen, weshalb das Buch den Anspruch einer universellen Moral erhebt. Für mich war es kein Höhepunkt. Die Idee hat mich zwar anfangs gereizt, doch letzten Endes fehlte mir der Tiefgang, das Besondere.
Anne Holt. Schattenkind
(Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs)
Der kleine Sander ist tot. Er wurde acht Jahre alt. Polizeipsychologin Inger Johanne Vik kennt die Eltern. Sie geht auf Spurensuche. Schnell wird der Verdacht der Kindesmisshandlung laut. Doch die Spuren sind nicht eindeutig. Ein durchschnittliches Buch, ein vorhersehbarer Plot. Nichts Besonderes.
Charlotte Link. Die Stunde der Erben
Der dritte und letzte Band der Sturmzeit-Trilogie nach „Sturmzeit“ und „Wilde Lupinen“. Nicht ganz so stark wie der zweite Teil, aber dennoch durchweg prima. Die Handlung spielt im Deutschland der 1970er Jahre. Die Geschichte umfasst wieder das Leben mehrerer Mitglieder der Familie Lombard-Marty: Die Matriarchin Felicia ist alt, sie übergibt ihre Firma an ihre Enkelin Alexandra. Die jedoch hat ihre eigenen Probleme. Cousine Julia lebt in der DDR und versucht zu fliehen. Alexandras Bruder Chris lebt im Umfeld der Anti-Atom-Bewegung. Ein unterhaltsames Gesellschaftsportrait, keine hohe Literatur, aber dennoch ein Buch, das sich gut weglesen lässt.
Jo Nesbø. Leopard.
(Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob und Maike Dörries)
Harry Hole, Ermittler mit Alkohol- und Drogenproblem, entlaufener Familie und auch sonst maximal gebeuteltem Dasein, löst seinen achten Fall. Gesucht wird der Mörder dreier Frauen. Schnell wird die Gemeinsamkeit zwischen den dreien deutlich. Dann gibt es auch schon das nächste, bestialisch ermordete Opfer. Die ersten 300 Seiten sind prima, dann entwickelt die Geschichte deutliche Längen – 700 Seiten sind für einen Krimi einfach zu viel. Dazu die geschundene Ermittlerseele und unglaubwürdige Zufälle. Alles ein bisschen over the top.
Samuel Shem. House of God
(Aus dem Amerikanischen von Heidrun Adler)
Roy ist Assistenzarzt im ersten Jahr, ein sogenannter Intern. Gemeinsam mit fünf anderen tritt er sein Internship im House of God an. In der Ausbildung geht es nicht um Medizin. Vor allem die vielen alten, dementen Patienten sind eine Herausforderung; die Interns nennen sie „Gomers“: Go Out Of My Emergency Room. Die erste Regel lautet: „Gomers sterben nicht.“ Die zweite Regel: „Gomers gehen zu Boden.“ Weitere Regeln: „Sie können dich immer noch mehr quälen.“ Und: „Die einzig gute Aufnahme ist eine tote Aufnahme.“ Das Buch ist ein Klassiker aus den 70ern, ein ernüchternder Roman über den Klinikalltag. Unglaublich bissig, unglaublich bitter. Und sicherlich nicht unwahr.
Paolo di Stefano. Giallo d’Avola.
(Keine deutsche Übersetzung)
Nach einer wahren Begebenheit: Nachkriegszeit in Sizilien, die Welt der Kleinbauern. Salvatore Gallo wird verdächtigt, seinen Bruder getötet zu haben, gemeinsam mit seinem Sohn. Beide kommen ins Gefängnis. Dabei gibt es nicht einmal eine Leiche, der Bruder ist nur verschwunden. Irre Geschichte, vor allem wegen des überragenden Gesellschaftsportraits. Die Sprache spiegelt die brodelnde Gerüchteküche wider: archaisch, verschachtelt, undurchdringlich. Allerdings hat der Plot einige Längen und Redundanzen. Deshalb Abzüge in der B-Note.
Fabio Volo. Il tempo che vorrei
(Deutsch: Zeit für mich und Zeit für dich)
Vorab: Der italienische Titel „Die Zeit, die ich möchte“ passt deutlich besser zur Geschichte als die deutsche Übersetzung „Zeit für mich und Zeit für dich“, die pilchereske Assoziationen auslöst. Das gleiche gilt für den deutschen Klappentext. Lassen Sie sich davon also nicht abschrecken.
Lorenzo weiß nicht zu lieben: Seine Beziehung ist gerade in die Brüche gegangen. Er trauert seiner Ex-Freundin nach, möchte sie zurückhaben. Zweite Baustelle in seinem Leben ist die Beziehung zu seinem Vater, ein einfacher Mann, der die Zuneigung zu seinem Sohn nicht auszudrücken vermag. Dann erkrankt der Vater.
Fabio Volo erzählt leise und unglaublich großartig, mit feinem Sinn für Zwischentöne. Er lässt seine Figuren sprechen, drängt sich nicht auf. Ich bin absolut hingerissen von diesem Buch. Auch, weil man es wirklich bis zum letzten Satz lesen muss, um tatsächlich ans Ende der Geschichte zu gelangen. Ein seltenes Glück.
Ich streiche mir in Büchern selten Textstellen an. Bei diesem Buch schon. Zum Beispiel:
„Quando leggi un libro che ti piace, quelle pagine un po‘ ti cambiano; quando rileggi, sei tu che cambi loro.“ (p. 103)
„Wenn du ein Buch liest, das dir gefällt, verändern dich die Seiten ein bisschen; wenn du es ein weiteres Mal liest, bist du es, der sie verändert.“
So ist es, ja: Lese ich ein Buch noch einmal, lese ich es immer anders. Denn ich bin eine andere geworden in der Zwischenzeit. Zugegeben, nicht viele Bücher lese ich zweimal. Oft stöbere ich eher in den Büchern, die ich behalten und nicht weggegeben habe. Trotzdem.
Übers Kennenlernen:
„Una volta per corteggiare una donna dovevi prima convincerla a uscire, poi dovevi cercare di farti conoscere il più possibile, parlando per delle ore e mettendo un sacco di carne al fuoco. Oggi con il SMS puoi creare subito un rapporto e darle un’idea di te, di che tipo sei. La prima volta che ci esci a cena, se ti sei messaggiato un po‘ con lei, sai già più o meno con chi hai a che fare. La cena è divantata la finale, non è più una partita delle qualificazioni.“ (p. 181)
„Wenn du dich seinerzeit um eine Frau bemüht hast, musstest du sie erst überzeugen, mit dir auszugehen. Dann musstest du versuchen, dass ihr euch so gut wie möglich kennenlernt, du hast stundenlang geredet und eine Menge in die Waagschale geworfen. Heute, mit SMS, kannst du sofort eine Beziehung aufbauen und ihr eine Vorstellung davon vermitteln, was für ein Typ du bist. Das erste Mal, wenn du dann mit ihr essen gehst und nachdem du ein bisschen mit ihr geschrieben hast, weißt du mehr oder weniger, mit wem du es zu tun hast. Das Abendessen ist das Finale geworden, es ist kein Qualifikationsspiel mehr.“
(Bitte entschuldigen Sie die stümperhafte Übersetzung, ich bin Laie.)
Bis zu dieser Textstelle hatte ich noch nie darüber nachgedacht, aber ja. Das Schreiben von E-Mails und Nachrichten kann eine sehr intime Sache sein, auch wenn manche Botschaft nur aus zwei, drei oder vier Wörter besteht. Es reduziert und komprimiert die Kommunikation und den Menschen, der dahinter steckt; es ist ein Extrakt und deshalb bisweilen unglaublich intensiv. Und ja: Man kann sich über diese Nachrichten ineinander verlieben. Neu oder auch immer wieder.