Es mag nun anmuten, als könne ich nicht genießen.
Diesen Gedanken möchte ich sogleich zurückweisen. Vielmehr beschäftigt mich ein ganz bestimmter Umstand. Es geht um das Gefühl der Ruhelosigkeit, das mich ab der Hälfte eines Buches ergreift.
Beginne ich ein Buch, so dauert es meist einige Seiten, bis ich hineinfinde. Manch eine Geschichte, meist sind es die guten, schafft es schneller, andere benötigen länger, was nicht per se gegen sie spricht. Zwei Drittel meiner Bücher lese ich noch analog, nicht elektronisch; das ist keiner Nostalgie, sondern dem Umstand geschuldet, das ich in meiner Mittagspause gerne auf Rabatttischen von Buchhandlungen stöbere und auf diese Weise, wenn ich den Laden erst einmal betreten habe, eins zum anderen kommt.
Halte ich also tatsächlich ein Buch in der Hand, eins aus Papier, schaue ich viel aufs Lesezeichen. Zu meinem Lesezeichen habe ich eine besondere Beziehung; sie währt bereits sieben oder acht Jahre, so lange begleitet es mich schon.
Das Lesezeichen ist nicht nur Mittel zum Zweck, es wacht nicht nur über eine Seite im Buch; es ist mir Anker und Orientierung, gibt mir Auskunft über das, was hinter mir liegt, und das, was mich erwartet. Anders als das Lesebändchen, das Teil der Hardware ist, in gutbürgerlicher Pflichterfüllung lasch unten raushängt, steckt das Lesezeichen fest und stolz oben drin. Es sollte immer ein Stück aus den Seiten schauen, aber nicht zu viel, sonst knickt es in der Tasche um.
Ich lese also die ersten fünfzig oder hundert Seiten. Spätestens dann gucke ich meist: Wo ist die Hälfte? Ich gehe zum Ende, blicke auf die Seitenzahl, geteilt durch zwei, und gehe zu der Stelle, suche dort einen Absatz oder ein Kapitelende – hier ist das Zwischenziel, hier möchte ich hin. Bis dahin geht es bergauf, wie beim Tatort: um 21 Uhr der Break Even, dann kommen die ersten Verdächtigen, dann geht es auf die Lösung zu.
Ab da geht es plötzlich schnell. In raschen Schritten marschiert das Lesezeichen jetzt dem Ende entgegen, forsch und fordernd, und sind es irgendwann nur noch ein Fingerbreit Seiten, wird mein Lesen unsteter, oberflächlicher. Ich überfliege die Wörter, die Sätze, die Dialoge, picke mir nur noch das Wichtigste raus. Ein Schlussspurt, den Zieleinlauf in Sicht – und der Blick schon auf die Zeit danach, aufs nächste Buch.
Die letzten Seiten eines Buches – selten sind sie relevant. Bei Krimis wird kurz noch die Zweithandlung nach Hause gebracht, die Belletristik sucht, nach Klärung aller Konflikte, nach einem bedeutenden Schluss. Und doch bleibt ein fader Beigeschmack, ein Gefühl des Wettlaufs, des Nicht-Genusses.
Mein Vorsatz deshalb: mehr im Hier und Jetzt lesen. Auf allen Seiten.
Kommentare
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Owen Meany.
Sag ich mal so. Ohne die letzten Seiten nur eine Farce. Damit – ein Meisterwerk.
John Irving.
Bin bislang nie auch nur annähernd in die Nähe der letzten Seite gekommen.
Ja, das schrieben Sie schon mal. Er teilt die Leserschaft.
Übrigens: wunderschönes Lesezeichen! Wäre fast zu schade, wenn es mal umknickt (und diese Gefahr schätze ich als fast unvermeidlich ein).
Gelesen wird auch italienisch? Sprachen zu lernen scheint Ihnen leicht zu fallen (*neidisch).
Das Lesezeichen hat schon ein bisschen was einbüßen müssen: Der Kopf ist schon einmal nuddelig geworden, ich habe einen Zentimeter abschneiden müssen.
Ja, ab und an lese ich auf Fremdsprachen. Um die Sprache in meinem Kopf frisch zu halten.
Oft fange ich auch beim Lesen an zu „rasen“ und lese oberflächlich. Da hilft nur: das Buch an die Seite legen, Pause, und dann mit voller Konzentration und mehr Ruhe weiter.
Das nach den Seitenzahlen schauen und Buch halbieren mache ich auch sehr gerne…
Das Lesezeichen ist wirklich sehr schön.
Hilft es, das Buch an die Seite zu legen? Manchmal. Aber manchmal auch nicht: Der Effekt bleibt ja der Gleiche. Nur noch 50 Seiten zum Ziel.
Ich mußte ja kurz lachen, als ich den Abschnitt über das halbieren der Seitenzahlen gelesen habe. Daran habe ich schon zu Anfang des Artikels gedacht, da ich es genauso mache.
Falls ich dann zwischenzeitlich zu einem sehr kaugummiartigen Teil eines Buches komme, dann wandert der Blick kurz zu der Seitenzahl und im Kopf wird gerechnet.
Schön das ich damit nicht der Einzige bin… : )
Diese Fortschrittsanzeige aka Lesezeichen, finde ich erschreckenderweise sehr wichtig. Das geht beim elektronischen Lesen ein wenig abhanden.
Beim elektronischen Lesen gibt’s ja auch eine Fortschrittsanzeige. Aber das Haptische ist dann doch noch etwas anderes.
deswegen sagt man ja auch „haptisch lieb!“
;-)
Oh – noch nie ein Buch gelesen, wo man irgendwann EXTRA langsam wird, weil es so schade ist, wenn ausgelesen? Passiert ja nicht oft, aber schon.
Doch klar.
Manchmal geht es mir auch so, dass ich gerne nicht diese Geschichte weiterlesen möchte (denn die ist ja zu Ende), aber etwas, was genau daran anschließt, das Ganze irgendwie aufnimmt und weiterführt.
Ich lese allerdings viel durchschnittliche Unterhaltungsliteratur, so dass das nicht so oft passiert. Das ist jetzt gar nicht negativ gemeint; ich schätze gute, unterhaltende, nicht zu anspruchsvolle Bücher sehr für denn Alltag in der Bahn und vor dem Einschlafen.