Meines Vaters Land
Im Frühjahr habe ich ein Buch geschenkt bekommen. Es heißt „Meines Vaters Land“ und erzählt das Leben Hans Georg Klamroths.
Klamroth war am Stauffenberg-Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 beteiligt und wurde dafür in Plötzensee hingerichtet. Seine Tochter Wibke Bruhns hat seine Biographie aufwändig rekonstruiert.
Ich möchte Ihnen dieses Buch ans Herz legen.
Zunächst einmal, weil es sich sehr gut runterlesen lässt. Das trifft nicht auf viele Sachbücher zu, auf Biographien schon gar nicht. Das liegt daran, weil Biographien meist von Menschen handeln, die irgendwie berühmt sind, deren Leben aber außer der Sache, deretwegen sie bekannt wurden, wenig hergibt, schon gar nichts Widersprüchliches. Widersprüche machen einen Menschen aber interessant. Man sollte deshalb viel mehr Biographien von unbekannten, aber widersprüchlichen Menschen veröffentlichen, das wäre besser. Doch das ist ein anderes Thema.
Klamroth also. Stauffenberg, den kennt man, aber Klamroth eher nicht. Bis zum Ende des Buches bleibt auch offen, wie genau er am Attentat beteiligt war. Es ist aber auch nicht so wichtig.
Denn was ich am beeindruckendsten an dem Buch fand, waren die Gegensätzlichkeiten in Klamroths Charakter – und die Beschreibung der deutschen Gesellschaft zwischen 1918 und 1939, also zwischen den Weltkriegen. Hier leistet Wibke Bruhns etwas ganz Großes, indem sie am Beispiel ihres Vaters beschreibt, wie man gleichzeitig antisemitisch und freundlich gegenüber Ausländern sein kann, wie man die Nationalsozialisten ablehnt und sich doch stolz zur SS meldet. Da kann man viel übers Heute lernen.
Sie waren keine Antisemiten, jedenfalls nicht mehr als üblich und dem gesellschaftlichen Anstand angemessen. Juden waren nicht ihr Thema. Noch nicht. National waren sie in der Tat. Das schloß den Wunsch nach Verständigung mit anderen Nationen nicht aus, ihre Klassenzugehörigkeit trugen sie über Grenzen. Sie waren nett, rechtschaffen, in Maßen liberal und stolz nicht auf das „Blut“, sondern auf die Leistung der Vorfahren, die ihnen Verpflichtung bedeutete. (S. 218)
Hans Georg Klamroth – Bruhns kürzt ihn mit „HG“ ab – hat im ersten Weltkrieg gedient, hat dort traumatische Erfahrungen gemacht. Empfindet aber auch das tiefe Gefühl einer Niederlage, von Erniedrigung – wie viele Menschen in der deutschen Gesellschaft nach 1918.
HG ist weltoffen – seine Frau hat eine dänische Mutter und dänische Verwandtschaft -, er hat nichts gegen Juden – einige seiner wichtigsten Mitarbeiter sind Juden -, doch er blickt mit Stolz auf seine Vorfahren und das, was sie aufgebaut haben.
Er ist Unternehmer. Seine Familie hat immer in Richtung Adel gestrebt, so war das als Großbürger um die Jahrhundertwende. Er ist Jemand – und er lebt den Klassenunterschied:
Welten liegen zwischen den Deutschnationalen, den Großlandwirten, dem Reichsverband der Deutschen Industrie, die der Restauration das Wort reden, und dem Pöbel der Nazis. Mit denen setzt man sich nicht an einen Tisch. (S. 236)
Sich abgrenzen, das ist HG wichtig. Vor allem nach unten. Und unten: Da sind die Nazis. Mit denen möchte er nichts zu tun haben. Aber er muss auch ein Unternehmen führen, muss Gewinne machen, sich gut stellen. Er möchte wahren, was er und seine Vorfahren aufgebaut haben.
Die Atmosphäre im Land empfindet HG als „zunehmend schwül“. Das ist die verheerende wirtschaftliche Situation, die Konkurse häufen sich, Theater schließen aus Geldmangel. […] Ich sehe HG ratlos und auf der Suche nach Orientierung. (S. 239)
Die alte Ordnung bricht zusehends auseinander. Es gibt keinen Adel mehr, zu dem er aufschauen kann; keinen Kaiser, der alles regelt, der die Welt im Griff hat. Die Alternative: Parteien. Doch sind sie eine Alternative?
Ich spüre die Vermeidungsstrategie hinsichtlich Hitlers Mannen. Was soll er auch machen, wenn ihm der Weg zu Sozialdemokraten oder – Gott behüte – Kommunisten versperrt ist? Katholisch ist er nicht, als fällt das „Zentrum“ aus, mit Bayern hat er auch nichts zu tun, das verschließt ihm die „Bayerische Volkspartei“. (S. 241)
Das ist mit dem Heute nicht vergleichbar. Es gibt keine vor Kurzem erlittene, verheerende Kriegsniederlage – die letzte ist lange her, und es besteht kein Zweifel, das es eine gute war. Aber da ist dieser Verlust an Orientierung: Niemand, der aus einer natürlichen Ordnung heraus für die Geschicke des Volkes verantwortlich ist. Niemand, der eindeutig sagt, wo es langgeht. Es gibt keine Identifikationsfigur, nichts, wo man hinstrebt. Alles ist plötzlich verhandelbar.
Wenn Parteien sich zu Wort melden, dann sind es nicht solche, von denen man sich etwas vorschreiben lassen möchte. Es sind solche, die fern vom eigenen Leben sind.
Und man muss ja auch ans eigene Wohlergehen denken!
Aber wenn schon dabei sein, dann besser frühzeitig, wird HG sich gedacht haben. Wie war das noch, als er seiner Einberufung zuvorkommen musste, damit er Junker werden konnte und nicht bei den Pionieren ohne Prestige landete? […] Frühzeitig also, sonst sind die Führungsposten besetzt. Und HG steht nach seinem Selbstverständnis eben vor einer Kompanie, nicht in der dritten oder siebten Reihe unter Leuten, die alle gleich aussehen. Fürs Geschäft ist es auch nicht verkehrt. (S. 249)
Klamroth schließt sich also den Nazis an, was soll es auch. Letztendlich bringt es nur Vorteile, und man muss ja nicht jede Haltung teilen.
Dabei gäbe es, wenn man genau hinguckte, tief Beunruhigendes zu entdecken. Da dürfen Juden, deutsche Staatsbürger, nicht mehr wählen […]. Juden wird die Lizenz als Dolmetscher, Wirtschaftsprüfer, Amtstierarzt und Schornsteinfeger entzogen […]. Juden können nicht mehr promovieren, Studenten ist es untersagt, bei jüdischen Repetitoren zu lernen. […] Doch wer guckt schon hin? Wer in einer Bevölkerung von 70 Millionen kennt denn einen jüdischen Repetitor oder einen jüdischen Schornsteinfeger bei bloß einer halben Million Juden in Deutschland, von denen 125.000 schon weg sind? Die Deutschen sind froh über die Nürnberger Gesetze von 1935, weil seither der Vandalismus der immer wieder aufflackernden Pogrome aufgehört hat und das Verhältnis zwischen Juden und Deutschen irgendwie ordentlich geregelt scheint. (S. 278)
Vieles ist heute, in 2016, anders als in den 1920er und 1930er Jahren. Unsere Großeltern und Urgroßeltern wurden in eine andere Gesellschaft hineingeboren, haben andere Erlebnisse und andere Werte gehabt.
Doch manches ist gleich: Plötzlich öffnet sich die Welt, öffnen sich physische wie soziale Grenzen. Die Folge: Alles wird komplexer, jede Alltäglichkeit. Entscheidungen werden diskutiert. Lösungen sind kompliziert. Zwischen Schwarz und Weiß ist viel Grau – und das Grau, für das ich mich entscheide, kann ein anderes Grau als das meines Freundes sein; und doch ist es für den jeweiligen Menschen das richtige Grau. Das muss man differenzieren, und das muss man aushalten.
Vielen Menschen ging es damals nicht gut – und es ist nicht mehr gottgegeben: Armut ist nicht mehr von Kaisers Gnaden, Armut ist plötzlich selbstverschuldet. Es könnte uns besser gehen, wären wir selbst besser – besser in unserem Tun, besser im Sein. Auf der einen Seite also: die Verantwortung; die wirkliche oder die zugeschobene, das tut nichts zur Sache. Auf der anderen Seite: die Machtlosigkeit; die wirkliche oder die empfundene.
Denn die Lebensumstände seinerzeit sind tatsächlich schwierig: Inflation statt Wohlstand, Verlust statt Gewinn. Damals das Gleiche wie heute: Wer nicht vorne mit dabei ist, hat es schwer. Das ständige Gefühl, abgehängt zu werden. Da versucht jeder das zu kriegen, was er kann. Auch, wenn es zu Lasten des Nachbarn geht.
Dazu der verletzte Stolz. Früher, da war man wer. „Ich bin Deutscher“, das war ein Machtwort. „Ich bin bei Hoesch“, das war wie ein Orden. Doch jetzt? Ist es schwieriger mit dem Prestige. Hat man nichts, was man vorzeigen kann. Oder man hat weniger als andere – das ist fast noch schlimmer. Jetzt schwingt Scham mit, wenn man von sich erzählt. Die Gewinner, das sind die anderen.
Wie nur holt man sich am besten Selbstbewusstein? Indem man sich mit denen vergleicht, denen es noch schlechter geht. Oder die außen vor stehen, die nicht dazugehören. Gibt es niemanden, der draußen steht, grenzt man jemanden aus. Dann hat man sie: die Vergleichsgruppe, die man dringend braucht, gegenüber der man der Bessere sein kann, derjenige, der Recht hat.
Das bringt auch einen schönen Nebeneffekt: dieses kuschelige Gemeinschaftsgefühl, das bislang fehlte – beim Kampf um die knappen Ressourcen; beim anstrengenden Unterscheiden der Grautöne. Endlich mal wieder etwas Weißes und etwas Schwarzes. Endlich ein gemeinsames Ziel.
Am Ende, ich schrieb es weiter oben, wird der stolze Deutsche Klamroth von noch stolzeren Deutschen hingerichtet. Weil die Zweifel, die in ihm waren, neu erwachten.
Mögen unsere Zweifel niemals schweigen.