Warum es mich nervt, dass angefeindet wird, wer mit dem Auto fährt
In den letzten Monaten lese ich viele Artikel zum Thema Mobilität, Parkgebühren, autofreie Innenstädte, Fahrverbote. Und natürlich über Staus.
Vor allem das Stauproblem bewegt mich, denn ich stehe derzeit selbst viel drin. In NRW sind fast ein Drittel aller deutschen Staus. Es nimmt absurde Züge an. Für eine Strecke von Dortmund nach Essen, das sind rund 40 Kilometer, benötigte ich zuletzt eineinhalb Stunden, für eine Fahrt von Dortmund nach Düsseldorf, die eigentlich eine Stunde dauert, benötigte ich zweieinviertel Stunde. In beiden Fällen hatte ich Termine – beim letzten kam ich trotz doppelt angenommener Anfahrtszeit eine Viertelstunde zu spät.
Was soll die Lösung sein? Die eigentliche Reisezeit zukünftig mal drei nehmen – und den Großteil seiner wertschöpfenden Arbeitszeit auf der Autobahn verbringen?
Bahnfahren!, rufen Sie jetzt, nicht wahr? Nun – wenn ich in meiner Region Ruhrgebiet/Rheinland nur von Hauptbahnhof zu Hauptbahnhof fahren möchte, ist alles in Ordnung. Doch ich wohne nicht neben dem Hauptbahnhof – und mein Ziel ist auch selten das Ibis-Hotel.
Nehmen wir also die Fahrt zum Termin nach Düsseldorf: Um zum Hauptbahnhof zu gelangen, steige ich in den Bus, von dort steige ich in die Stadtbahn um, von der Stadtbahn steige ich am Dortmunder Hauptbahnhof in den Regionalexpress und fahre mit ihm nach Düsseldorf. Am Hauptbahnhof Düsseldorf steige ich wieder in eine Stadtbahn um – und von der Stadtbahnhaltestelle gehe ich noch gute zehn Minuten zu Fuß zum Zielort. Das ergibt eine reine Wegzeit mit dem ÖPNV von 2 Stunden 30 Minuten – wohlgemerkt, wenn alle Anschlüsse pünktlich und reibungslos funktionieren, was auf dieser Strecke eigentlich nie passiert. Preis für Hin- und Rückfahrt: fast 60 Euro. Es muss nicht erwähnt werden, dass dieselbe Rechnung nach 20 Uhr, also bei geringerer Taktung, deutlich ungünstiger ausfällt, der Preis aber gleich bleibt.
Menschen, die auf dem Land leben, lachen ohnehin laut auf, wenn sie die Worte „Bus und Bahn“ hören.
Während ich also im Stau stand, machte ich mir Gedanken. Denn es macht mich wütend, dass alleinig dem Autofahrer die Schuld daran gegeben wird, dass er Auto fährt. In vielen Artikeln in Kommentarspalten und in der öffentlichen Diskussion schwingt die Haltung mit: Der Autofahrer ist ignorant. Der Autofahrer ist eine Umweltsau. Der Autofahrer müsste nur mal weniger bequem sein. Soll er doch Rad fahren! Soll er doch Bahn fahren!
Seltsam finde ich, dass alle Kritiker stets nur im Kontext „Verkehr“ argumentieren – und die Lösungen für Verkehrsprobleme lediglich in Verkehrslösungen sehen. Doch liegt die Ursache für unsere Verkehrsprobleme nicht woanders?
- Die Arbeit ist immer weniger planbar. Conti-Schichten, Früh-, Spät-, Nachtarbeiten, Bereitschaftszeiten, spontane Mehrarbeit, Zeitverträge, Zeitarbeit, Aushilfsverträge. Das alles führt dazu, dass Menschen keine Fahrgemeinschaften bilden, dass sie pendeln und dass sie – weil der Vertrag befristet ist – dem Arbeitsplatz erstmal nicht hinterherziehen.
- Beide Partner sind erwerbstätig. Weil sie es müssen, weil sie es wollen und weil sie es wollmüssen – weil ein Einkommen zwar ausreichen könnte, wenn man zu Viert auf 60 Quadratmetern wohnte; weil jedoch im Falle einer Trennung einer der Partner sofort in Hartz 4 und damit in Armut rutschte – von Armut im Alter ganz zu schweigen. Zur Arbeit müssen sie hinkommen, vor allem, wenn sie als Erzieher*in, in der Pflege oder im Einzelhandel in Schichten, in Teilzeit oder als Aushilfen arbeiten.
- Flexibel kollidiert mit starr. Der Arbeitnehmer soll flexibel sein. Die Kinderbetreuung ist es nicht. Das Kind muss pünktlich abgeholt werden, der Chef wünscht aber noch eine spontane Besprechung. Und dann noch auf den Bus warten, der zu spät kommt, wo eh immer alles so knapp ist?
- Der Alltag hat sich verdichtet. Die Schlagzahl auf der Arbeit ist hoch: just in time, Service-Level-Reaktionszeiten, immer weniger Personal. Der Vertrag ist befristet, das Unternehmen wird umstrukturiert. Die Kinder müssen von der Betreuung abgeholt werden, die Mutter ist dement, der Schwiegervater braucht Hilfe im Haushalt. Die Steuererklärung ist überfällig, der Antrag für die Pflegestufe auch, im Keller ist die Wand nass. Der Gatte muss nächste Woche auf Dienstreise – ausgerechnet, wo die große Tochter eine Zahn-OP hat. Und jetzt das Auto stehen lassen und über nicht ausgebaute Radwege 15 Kilometer mit dem Fahrrad zur Arbeit und zurück fahren? Oder das Doppelte der Wegzeit in Kauf nehmen, um mit Sack und Pack in der unklimatisierten Bahn zu sitzen?
- Immer mehr Lastverkehr. Der Personenverkehr hat zwischen 1991 und 2015 zwar um ein Drittel zugenommen – der Güterverkehr aber um zwei Drittel (Quelle). Weil es immer mehr Güter gibt, aber auch, weil diese Güter längere Wege zurücklegen. Wenn man sich durch bilaterale Güterstromanalysen hindurchwühlt, stellt man zum Beispiel fest, dass die Güterströme zwischen den europäischen Ländern allesamt immens zugenommen haben. Woran das liegt? Keine Ahnung. Meine Vermutung: Öffnung des europäischen Binnenmarktes und preiswertere Produktionsorte. Güter durch die Lande zu karren ist eben preiswerter als einen Standort in West-Europa zu unterhalten (oder Güter zu lagern). Dafür fahren immer mehr Menschen mit der Bahn, auch wenn es sich auf der Straße nicht so anfühlt. Wer mal zu Stoßzeiten im RE1 durchs Ruhrgebiet fahren möchte: Bon voyage im Viehtransport.
Wenn wir das Verkehrsproblem lösen möchten, müssen wir gesamtwirtschaftliche Themen lösen. Das ist politisch, nicht indivuell. Ein bisschen mehr Fahrrad zu fahren, mag im Einzelfall richtig und hilfreich sein. Aber die große Herausforderung löst es nicht.