Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

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Eine Reise in den Schneesturm von Aarhus

7. 01. 2024  •  21 Kommentare

Schön, dass wir da sind | Es schneit. In großen, weichen Flocken. In kleinen, harten Grieseln. Es schneit von rechts nach links und von oben nach unten, in einzelnen Flocken und in Wolken. Der Wind treibt den Schnee ins Gesicht, in die Augen, von oben in die Jacke. Er lässt die Straßenschilder zittern und klappern, sie vibrieren im Sturm, wüten in ihren Fundamenten. Der Wind drückt den Schnee gegen Fenster und in Hauseingänge, er türmt ihn vor Türen auf. Eiszapfen wachsen; sie wachsen schräg von den Fensterbänken. Auch sie sind auf der Flucht vor dem Wind. Eine Dachlawine stürzt hinab. Mit einem dumpfen Poltern landet sie auf dem Pflaster. Eine Frau springt beiseite, schaut mich an, lacht und sagt etwas auf Dänisch.

Es ist der stärkste Schneesturm seit fast dreißig Jahren in Dänemark, und wir sind dabei. Der Schnee bleibt an der Hose und der Jacke kleben; von hinten sehen wir aus wie immer, von vorne bedeckt uns ein weißes Brett. Ich trage eine Mütze, über der Mütze die Kapuze meines Hoodies, darüber die Kapuze der Jacke. Bis zur Nasenspitze ist alles zugezogen.

Wir kämpfen uns aus Trøjborg hinab in die Stadt. Wir schauen mal, wie weit wir kommen, haben wir gesagt, uns wir kommen ganz gut voran. Es fährt kein Bus, es fährt keine Straßenbahn, aber es fahren auch keine Autos. Kaum jemand wagt sich hinaus, nur wir. Wir fühlen uns wie Ernest Shackleton bei unserer Eroberung des Kirkegårdsvej hinein in die Altstadt.

Die Cafés, Restaurants und kleinen Läden, sie alle bleiben heute geschlossen. „Lukket på grund af snestorm“, steht auf handgekritzelten Schildern an den Türen. Nur Supermärkte und staatliche Museen haben geöffnet. Also stapfen wir zum Kunstmuseum ARoS. Bevor wir das Museum betreten, schlagen wir das Schneebrett von uns ab; in kleinen Platten fällt es in die Drehtür. Wir schütteln uns. Eine Frau lacht und und sagt: „Velkommen til ARoS! Dejligt at du er her!“ Schön, dass Ihr da seid! – das finden wir auch.

Auf dem Rückweg frischt der Sturm weiter auf, treibt Eisstücke in unsere Gesichter, schiebt uns über Kreuzungen und die Steigung am Friedhof hinauf.

Die ganze Nacht über pfeift der Wind ums Haus, wirbelt Schnee in alle Ecken, türmt ihn vor den Fenstern auf, auf den Autos und Mülltonnen, deckt Bänke und Fahrräder zu. Erst, als wir am Morgen unsere Köpfe in die Winterluft stecken, haben Sturm und Schnee nachgelassen. Alles ist weiß und leise.


Lakritz und Knäckebrot | Am Tag zuvor sind wir angekommen, mit Umstiegen in Münster, Hamburg, Flensburg und Fredericia. Ohne Verspätung oder anderes Unbill, alles lief glatt. In der dänischen Bahn gab es Kaffee und Lakritz. Auf dem Rückweg werden wir auch Frühstück serviert bekommen, ein Brötchen mit Marmelade und zwei Scheiben Käse auf einem Teller, auf Wunsch auch Knäckebrot. Insgesamt wird es bei den acht Umstiegen keine Probleme geben. Lediglich auf auf dem Rückweg haben wir eine Stunde Verspätung – eine Stunde auf zwanzig Stunden Fahrt, das ist in Ordnung.


Der Junge | Das ARoS Kunstmuseum, in das der Sturm uns hineinweht, hat einen Regenbogen auf dem Dach. Bei schönem Wetter kann man über die ganze Stadt gucken und sie in allen Farben sehen. Heute drückt sich der Wind durch die Ritzen. Der Schnee klebt schwer am Glas. Aber dennoch lassen sich die Strukturen der Stadt erkennen: das alte Aarhus, die Quartiere, die Kirchen.

Panoramaaufnahme: Zentral der Regenbogengang, rechts und links Blick hinunter in die Stadt

In den Stockwerken darunter: der Boy von Ron Mueck, der mir unterschiedliche Gesichtsausdrücke zeigt, je nachdem, wo ich stehe; die Bilder dänischer Maler, Werke von Dalì, Installationen zu Natur und Umwelt. Und ein Café. Wir werden in den kommenden Tagen feststellen, dass kaffe og kage, Kaffee und Kuchen, hier in Dänemark mehr sind als ein Getränk und eine Speise: Sie sind eine Lebenskunst.


Tausche Stroh gegen Schaf | Unsere Wohnung hat kein WLAN – also: Eigentlich schon, aber nicht, während wir dort sind. Der Fernseher läuft auch über Internet, will heißen: Er läuft aktuell nicht. Wir sind auf uns selbst zurückgeworfen, während sich draußen der Schnee türmt. Im Regal steht ein Karton „Siedler von Catan“, dänische Version; wir können die Regeln auch ohne Sprache und spielen drei Partien.


Eisbaden | Zwei Tage später sitzen wir in einem Café am Havnebadet, dem Freibad im Hafenbecken, in dem das Wasser gerade zu Eis gefriert. Dünne, noch nicht weiße, noch transparent gepuderte Platten schwimmen auf der Oberfläche, durchzogen von Rissen. Wir kommen von draußen, vor uns steht kaffe og kage. Es hat inzwischen minus sechs Grad dort draußen, im Windchill auch weniger, minus zehn, minus elf. Unsere Wangen sind gerötet, wir sind grad am Meer entlang spaziert, die Promenade auf Ø entlang, dem Stadtteil im alten Hafengebiet, dessen Namen aus nur einem Buchstaben besteht. Wir haben Architektur geguckt: den Isbjerget, den Eisberg, und das 142 Meter hohe Lighthouse, für dessen Verankerung sie achtundzwanzig Betonpfähle siebzig Meter tief in die Erde gerammt haben.

Plötzlich, wir schauen von unserem Gebäck auf, stehen draußen Zwei in Badekleidung. Dampf steigt von ihren Körpern auf. Sie legen sich nieder in den Schnee, wälzen sich von dem Rücken auf den Bauch wie Seehunde, bewerfen sich mit Schneebällen. Der Reiseleiter beißt in seine Zimschnecke und brummt „Forrüffte!“ Vielleicht meint er „Verrückte“, aber er hat den Mund voller Kanelsnegle; man kann ihn nicht gut verstehen.

Später sehen wir: Das Freibad hat geöffnet, kostenlos. Wir könnten, wenn wir wollten.

Freibad im Hafenbecken mit gefrierendem Wasser

Filmtheater | Einmal gehen wir abends ins Kino oder besser gesagt: in ein Filmtheater. Es hat wieder geöffnet nach dem Schneesturm, und ein zweiter Siedler-Abend wäre zu fade, ganz ohne Erweiterungen.

Kino-Foyer mit Retro-Lampen und einer blau schimmernden Uhr, einem alten Filmplakat und Sofa und Stühlen

Das Foyer empfängt uns mit der Vergangenheit, der Kinosaal selbst hat nur vier Reihen. Es läuft Napoleon, den wir ohnehin noch sehen wollen, Englisch mit dänischen Untertiteln. Sprache erweist sich allerdings als nicht wichtig in diesem Film: Es wird hauptsächlich gemetzelt, und wenn nicht gemetzelt wird, wird geschnackselt. Wir können gut folgen.


Street Food | An drei von vier Abenden essen wir in der Street-Food-Halle an der Rutebilstation, dem Busbahnhof. Ein Industriehalle, darin Seecontainer, vor den Seecontainern Biertischgarnituren, garniert mit ein paar Eimern Farbe, Lichtern, Girlanden und etwas Street Art. Empfehlung: der große indische Teller mit Paneer Tikka Masala, Samosas, Mango Chutney und zweierlei Brot – und als Dessert ein Crêpes mit Vanillezucker.


Die Summe der kleinen Dinge | In der Street-Food-Halle gibt es eine Kinderecke. Im Bahnhof von Fredericia gibt es einen Wartesaal mit Sofas und Pflanzen – und mit einer Kinderecke. Die Bibliothek von Aarhus, Dokk1, hat Parkplätze für Kinderwagen; die ganze erste Etage ist Kindern gewidmet. Sie können Lego bauen, haben einen Toberaum, einen Kinderspielplatz, Rampen zum Rennen, Eisenbahnen zum Spielen, ihre Steckenpferde haben Ställe, es gibt Konsolen zum Zocken und einen Maker Space für Jugendliche.

Die Mülleimer haben eine extra Ablage für Pfandflaschen, serienmäßig, um es Pfandsammlern einfacher zu machen.

Pfandregal am Mülleimer

In der Stadt stehen viele Bänke, lange Bänke zum Verweilen und Draufliegen. Der öffentliche Raum gehört – ebenso wie die Bibliothek – den Menschen.

Die meisten Museen, Cafés und Restaurants haben Unisex-Toiletten.

Noch während des Schneesturms wurden die Radwege geräumt. Während der gesamten vier Tage, die wir dort waren, waren viele Radwege frei. Auch Gehwege – zum Beispiel auf dem Friedhof – wurden geräumt. Die Straßen fanden kaum Berücksichtigung. Sie wurden von den Autos freigefahren – oder auch nicht.

Geräumter Radweg

Wir benötigten kein Bargeld. Wir haben auch kein Geld abgehoben, besaßen also keine Dänischen Kronen in Scheinen oder Münzen. Bargeldzahlung war nirgendwo vorgesehen; bisweilen gab es nicht einmal Bargeldkassen. Wir konnten (und mussten) immer und überall mit Karte bezahlen.

Altstadt mit Lichter-Schneeflocken und erleuchteten Geschhäften

Aarhus hat Wikinger-Ampelmännchen.

Als am Freitagnachmittag die Busse wieder fahren, sind alle Menschen glücklich. Es ist ein Abenteuer, über die Schneehaufen zu steigen, die die Haltestellen von den Fahrbahnen trennen: ein Haufen vor dem Radweg, ein weiterer vor dem Bus, beide oberschenkelhoch – es ist nicht einfach hineinzugelangen. Doch man hilft sich. Überhaupt sind alle guter Laune.


Gender-Gaga | Wir besuchen auch das Gender Museum Denmark, ein Wunsch des Reiseleiters. Ehemals das Frauenmuseum, widmet es sich nun allen Geschlechtern. Man spürt noch den ehemaligen Schwerpunkt, denn es geht vor allem um Frauen, um Frauen im Verhältnis zu Männern und nur ganz am Rande um Transmenschen und andere Geschlechter.

Interessant ist, dass Dänemark im Gleichstellungsindex gar nicht mal so gut dasteht: Was die wirtschaftliche Gleichstellung und Bildungsgerechtigkeit angeht ja, nicht aber in Bezug auf die politische Teilhabe. Auch hier sind Frauen unterrepräsentiert. Die Daten für viele Länder kann man im Global Gender Gap Report nachlesen.

Kaffe og kage im Gendermuseum:

Antikes Café-Ambiente, auf dem Tisch eine Kerze, ein Milchkaffee und Kuchen, außerdem eine Limonade


Gelesen | Ich hatte etwas Zeit im Zug und las Texte rund um die Proteste der Bauern. Oder sind es eher Proteste von Rechtsradikalen, die sich der Bauerndemonstrationen bemächtigen? Der Bauernverband scheint an einer Klarstellung nicht interessiert. Tatsache ist: Rechtsextreme träumen von einem Tag-X-Szenarion, dem Tag des großen Generalstreiks. Dafür kapern sie jedes sich bietende Thema, von Migration über Pandemie, Energieversorgung bis hin zur Subventionierung der Landwirtschaft, verdichten alle Themen zu „Wir gegen die Eliten“, legitimieren damit ihre Aktionen und verschieben mit jeder Aktion Grenzen – wie bei der Bedrohung der Privatperson Robert Habeck in Schlüttsiel. Das Ziel: Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung und schlussendlich Machtübernahme.

Aber zurück zu den Landwirt:innen und dem, was ich las.

  • Die deutsche Landwirtschaft unterliegt seit Jahren einem starken Strukturwandel. Agrarunternehmen verdrängen kleine, familiengeführte Bauernhöfe. Mit der Übernahmen steigt die Produktivität – dank Monokulturen und Düngemittel. Laut Angaben des Umweltbundesamtes war die deutsche Landwirtschaft im Jahr 2018 unmittelbar für 7,4 Prozent der deutschen Treibhausgas-Emissionen verantwortlich – unter anderem wegen des hohen Methanausstoßes aus der Viehhaltung (Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung). Die EU fördert also große Flächen und sponsert riesige Ställe und Maschinen. Das Ziel: billige Nahrung.
  • Der Vorsitzende des Deutschen Bauernverbandes, Joachim Rukwied, bewirtschaftet im Nebenerwerb 350 Hektar Ackerfläche und bekommt dafür Agrarsubventionen in Höhe von rund 100.000 Euro (Wikipedia via Spiegel Online). Rukwied hält überdies acht vergütete Mandate in Aufsichts- und Verwaltungsräten, darunter bei Südzucker und dem Agrarhandelskonzern BayWa (Bauernverband).
  • EU-Förderungen, die Landwirtschaft klimafreundlicher machen sollen, laufen seit Jahren ins Leere.
  • Zum Argument „Landwirte sichern unsere Ernährung“: Mehr als die Hälfte unserer Äcker, 58 Prozent, nutzen wir zur Produktion von Tierfutter, weitere 17 Prozent für Energie. In Deutschland gehen jährlich 4,5 Millionen Tonnen Soja in den Futtertrog von Nutztieren, hinzu kommen weitere Getreide. Es braucht drei Kilogramm Getreide, um ein Kilogramm Fleisch zu erzeugen. Deutschland produziert – auch durch die starke Nutzung von Ackerflächen – jährlich 7,3 Millionen Tonnen Fleisch. Davon gehen drei Millionen Tonnen in den Export.

Ich habe den Eindruck: Es soll das öffentliche Bild entstehen, dass es bei dem Protest rund um Dieselsubventionen und Kfz-Steuer um Hans und Helga und ihren kleinen Milchviehbetrieb in Niedersonthofen geht. Möglicherweise geht es aber auch viel darum, Pflöcke einzuschlagen für den Erhalt des Status Quo, weniger für Hans und Helga, sondern für große Flächen und riesige Ställe, für Massentierhaltung, für die Agrarunternehmen, für die Menschen in ihren Aufsichtsräten und alle, die profitieren – vor allem Konserative und Rechte. Dass es in der Bauernschaft auch andere Stimmen gibt, zeigt sich in diesem Aufruf und im Video der Jungen Arbeitsgemeinschaft bäuerlicher Landwirtschaft. Einen weiteren seriösen Einblick gibt der Kontoauszug eines angestellten Landwirts bei ZEIT Online. Mir scheint: Es ist wie immer kompliziert, Bauern sind nicht gleich Bauern, Landwirtschaft ist heterogen. Aber: Es gibt deutlichen Reformbedarf. Nur anders, als konservative Bewahrer und Großbetriebe es sich wünschen.

Ergänzung, 8. Januar: Dazu auch ein sehr lesenswerter Newsletter von Ann-Kathrin Büüsker – Warum die Bauernschaft wütend ist

Gelesen | Recherche „Jule Stinkesocke“: In 2023 kam heraus, dass eine Bloggerin und Behindertenaktivistin mit mehr als 70.000 Followern und etlichen initiieren Spendenaktionen, nicht die ist, die sie vorgibt zu sein. Stattdessen ist „Jule“, die seit 2014 im Internet aktiv ist, wohl ein männlicher Übungleiter, der mit behinderten Jugendlichen gearbeitet hat. Er baute über knapp zehn Jahre und mit großem Aufwand den Fake „Jule“ auf. Dass „Jule“ im Blog ausführlich behinderungsbezogene Fetischen darlegt, macht die falsche Identität noch verstörender. Die Redaktion von Imperialcrimes hat aufwändig Fakten gecheckt.

Gelesen | Zsusza Bánk: Schlafen werden wir später. Márta ist Schriftstellerin. Sie lebt mit ihrem Mann, Dramaturg, und drei Kindern in der Großstadt. Ihre Freundin Johanna ist Lehrerin, lebt im Schwarzwald und arbeitet sich an einer Dissertation über Annette von Droste-Hülshoff ab. Die beiden schreiben sich Briefe – oder nein: Es sind eher Tagebucheinträge, die sie an die jeweils andere richten, Ergießungen in poetischer Sprache, immer wieder mit Einspengseln literarischer Zitate. Beide begehren, was die jeweils andere tut und hat, während sie sich selbst bemitleiden. Das ist schwer zu ertragen, vor allem vor dem Hintergrund der Sprache. Ich wollte die beiden fortwährend schütteln und sie anschreien: „Jetzt reiß dich zusammen und krieg den Hintern hoch!“ Gegen Ende der fast 700 Seiten bewegt sich dann doch was bei den Frauen, immerhin.

Gelesen | Anke Gröner, Kunsthistorikerin, zur Geschichte des Automobils. Es gibt einen interessanten Aspekt.


Und sonst | In den sozialen Medien sah ich kürzlich das Video eines Bären, wie er, zottelig vom Winterschlaf, aus seiner Höhle tapst, benommen und sichtbar unorientiert. So wird es mir am Montag gehen, wenn ich an den Schbreitisch zurückkehre. Genaugenommen wird es schon heute Abend losgehen, wenn ich mich frage, auf welche Uhrzeit ich den Wecker stellen soll.

Die letzten Tage in Südtirol: Das Messner Mountain Museum, immer wieder neue Menschen, ein UFO, ein See und noch ein Bergpanorama

18. 10. 2023  •  2 Kommentare

Leute | Bevor ich Sie erneut mit einem Bergpanorama belästige, einige Bemerknisse zu den Umständen, unter denen ich in Südtirol residierte.

Die Urlaubsplanung verläuft bei uns so: Wir einigen uns grundsätzlich auf die Art des Urlaubs (Wanderurlaub, Fahrradreise, Pool & Entdecken etc.) und eventuell auf die Region, im konkreten Fall Südtirol. Der Reiseleiter erfragt dann im Sinne eines guten Projektmanagaments die Requirements & Constraints, also die Anforderungen an einen zufriedenstellenden Urlaub und die Einschränkungen, denen wir unterliegen. Die Anforderungen an den Südtirol-Urlaub waren: Wellness, Wandergebiete und leckeres Essen, entweder im Hotel oder durch fußläufig erreichbare, kulinarische Infrastruktur. Einschränkungen: per Bahn erreichbar, Nähe zu öffentlichen Verkehrsmitteln.

Der Reiseleiter fand unser Hotel mit Pool und Saunalandschaft, mit der Almencard für die kostenlose Nutzung des Südtiroler ÖPNV und mit Dreiviertelpension, also mit Frühstück, Nachmittagsjause und abendlichem 4-Gänge-Menü. Wir buchten.

Die Wahl stellte sich als hervorragend heraus. Das ist aber nicht das, was ich erzählen möchte. Es ist nur relevant für den Kontext. Wir hatten also dieses Hotel gebucht, für elf Nächte. Elf Morgende und Abende lang saßen wir beim Essen am selben Tisch. Das hatte hotelorganisatorische Gründe und brachte eine interessante Perspektive mit sich: Alle – ja, tatsächlich alle – Menschen blieben nur zwei, drei oder vier Tage, wir hingegen blieben die gleichen. Wir entwickelten ein Angela-Merkel- und Wolfang-Schäuble-Gefühl: Während wir an unseren Sesseln klebten und Knödel aßen, wechselte beständig das Kabinett.

Für vier Tage war zum Beispiel der Schnitzelmann Teil des Geschehens: Anstatt es seiner Begleiterin gleichzutun und seine Hauptspeise aus drei wohlkomponierten Gerichten zu wählen – Fisch, Fleisch oder vegetarisch, moderne Interpretationen Tiroler Küche – aß er jeden Abend SchniPo: Schnitzel und Pommes. Ich bewunderte ihn für seinen unterschütterlichen Mut zur Adilette.

Am Fenster für drei Tage ein Pärchen, er Baggy-Jeans und eine 80er-Jahre-Aviator-Brille (ich musste die modische Bezeichnung wieder nachschlagen, #bildungsblog), sie mit Wuscheldutt auf dem Kopf, weite Wolpullis. Sie unterhielten sich allabendlich; ich verstand nicht, was gesprochen wurde, hörte nur die Tonalität: Ihre Stimme problemschwer, ins Nörgelige driftend, er beschwichtigend, manchmal seufzend.

Für nur einen Abend saß ein schwules Pärchen neben uns: Er, zwei Meter groß und dünn wie eine Zaunlatte, sein Partner nur knapp einssechzig und ebenso schlank. Sie kamen spät, frühstückten nur einen Espresso, schwiegen sich an und waren wieder fort.

Für zwei Abende war ein Pärchen da, hetero, er drahtig und weißhaarig, Typ Marathon laufender Orthopäde, sie deutlich jünger, vielleicht die Geliebte. Er feierte seinen Geburtstag nach und bekam eine Torte vom Haus, sie erzählte allen, wonach niemand gefragt hatte: dem Reiseanlass („Wir sehen uns nicht oft und gönnen uns ein Wochenende“), von ihrer beruflichen Erfahrung im Tourismus („Ich habe ja auch eine zeitlang in der Hotelerie gearbeitet“), den Ernährungsgewohnheiten (er viele Meeresfrüchte, sie abends nur Rohkost) und ihrem Sportprogramm („Ich jogge viermal in der Woche“). Wir aßen mit Käse gefüllte Knödel.

Während wir dort waren, kamen außerdem drei Busgesellschaften, ebenfalls nur für wenige Tage. Sie kamen jeweils abends an. Das Servicepersonal war gerüstet, lotste zu den Plätzen und durch die vier Gänge. Am darauffolgenden Morgen jedoch, am Frühstücksbuffet, waren die Leute auf sich allein gestellt: Selbstbedienung. Beobachtung: Je mehr Leute, desto mehr stützen sie sich in ihrer Desorientierung: „Der Kaffee …?“ – „Hier drüben.“ – „Nein, nicht hier. Dort. schauen Sie mal, da ist ein Automat.“ – „Aber …“ – „Ach ja, doch nicht.“ – „Woher haben Sie das Spiegelei?“ – „Dort drüben.“ – „Wo?“ – „Da.“ – „Nein.“ – …


Bergpanorama | Jetzt aber endlich schöne Aussicht: die Fane Alm.

Holzhäuser in Bergkulisse unter blauem Himmel mit weißen Wölkchen

Der Reiseleiter näherte sich der Alm von oben, ich von unten.

Weil ich am Morgen noch fürchterlich müde war und allgemeine Schlaffheit verspürte, wollte ich keine lange Wanderung machen und legte mich noch einmal hin. Der Reiseleiter, ein Mann voller Tatendrang, schnallte sich hingegen den Rucksack auf, stieg in den Bus nach Vals und begab sich auf eine Höhenwanderung. Abmachung: Wir treffen uns auf der Fane Alm.

Zwei Stunden später erwachte ich, fuhr mit dem Auto zu einem Wanderparkplatz und erklomm von dort die Serpentinen zur Alm, ein Weg von eineinviertel Stunde; dafür hatte ich gerade noch Kraft. Auf der Alm wartete bereits der Reiseleiter vor einer heißen Zitrone auf mich.

Nachdem wir gemeinsam abgestiegen waren, die Erkenntnis: Ich war mehr Höhenmeter gestiegen als er. Sein Aufstieg bestand aus mehr Bergbahn als Bergmarsch. Na sowas.


Das Ufo | An einem Tag spazierten wir in Meransen umher, ein kleiner Ort oberhalb unseres Quartiers in Mühlbach, Rio di Pusteria. Auf einem Hügel thront ein schwarzes, ovales Objekt. Es nennt sich familiamus, Zitat: „ein Ort für Familien und Kinder in all ihren Formen und Facetten“.

Weniger relevant als die Formen und Facetten scheinen mir die vorhandenen finanziellen Mittel: Die Nacht im Familienzimmer „Happiness“ kostet 310 Euro. Pro Person. Für eine Woche im „magischen Familienreich“ mit „Schatzsuche zu eurem eigenen Ich“ würden wir mit den drei Reiseleiter-Kindern also 7.385 Euro bezahlen. Inklusivleistungen sind unter anderem eine „Snackbar mit raffiniertem Obst- und Gemüse-Fingerfood“ (hier kindliche Würge-Geräusche einfügen) und „Kind- und Jugendprogramme mit Berücksichtigung individueller Entwicklungsbedürfnisse“. Die private Reitstunde ist allerdings – Obacht, Pferdefreunde! – nicht enthalten.

Ich lasse Sie damit mal allein. Wenn Sie sich spontan entscheiden und noch für den aktuellen Monat buchen, ist ein Kind inklusive. Das zeigt die Website aber bei der Preisberechnung nicht an, ein kleiner Fauxpas. Da müssten Sie dann mal nachhaken.


Seespaziergang | Am letzten Tag in Südtirol war es uns zu kalt für große Höhen. Wir fuhren nach Toblach und liefen einmal um den Toblacher See.

Toblacher See mit einem im Wasser auf Stelzen stehenden Restaurants

Toblach ist eine Wasserscheide von europäischer Bedeutung: Die Rienz fließt dort in Richtung Westen und mündet über Eisack und Etsch in der Adria. Die Drau fließt nach Osten, dort in die Donau und ins Schwarze Meer.


MMM | Die Almencard, die wir vom Hotel bekamen, erlaubte nicht nur die Nutzung des Nahverkehrs, sondern auch den kostenlosen Besuch eines Museums. Nach einer Woche bekamen wir eine neue Almencard und konnten ein zweites Museum besuchen. Wir entschieden uns für zwei Standorte des Messner Mountain Museums (MMM): Das MMM Corones auf dem Gipfelplateau des Kronplatzes widmet sich der Geschichte des Bergsteigens. Das MMM Ripa zeigt eine Ausstellung über die Bergvölker der Welt.

Das MMM Corones, Architektur von Zaha Hadid hat beeindruckende Räume: parallele Gänge im Hang, abfallende Wege, verborgene Ecken, Aussichten.

Das MMM Ripa auf der Burg Bruneck: historische Mauern und ein interessanter Einblick in das Leben von Bergvölkern auf allen Kontinenden – mit überraschenden Parallelen.

Die Initialkosten für das Messner Mountain Museum, 30 Millionen Euro, haben zur Hälfte das Land Südtirol und Reinhold Messner getragen. Das Land finanzierte den Ausbau der alten Gemäuer, während Messer sich dazu verpflichtete, seine Austellung für die nächsten 30 Jahre aufrecht zu erhalten, auf eigene Kosten (Wikipedia).


Gelesen | Der Guardian beschäftigt sich mit der Deutschen Bahn: It’s the same daily misery: Germany’s terrible trains are no joke for a nation built on efficiency Dazu passt ein – Oldie, but Goldie – Cicero-Artikel aus dem Jahr 2019.

Gelesen | Frau Novemberregen beschreibt ihren Umgang mit Teenagerleichtsinn.

Gelesen | Fabio Volo: La vita nuova. Paolo ist ein Mann mittleren Alters: Verheiratet, ein Kind, die Ehe kriselt, seine Eltern werden pflegebedürftig. Sein Freund Andrea ist ein Lebemann: Nach wechselnden Beziehungen hat er nun zwar schon länger eine Beziehung, er lebt aber weiterhin in einer eigenen Wohnung und nimmt alles nicht so ernst. In einem alten Fiat 850 Spider fahren die beiden durch Italien, um Paolos Vater mit dem Wagen zu überraschen. Eine Roadstory mit Männergesprächen, spontanen Halten und einer Entwicklung. Leichte Lektüre, aber nicht flach. Gerne gelesen.

Tage in Südtirol: Influencer auf Felsen, ein Höhenweg und viele Friedhöfe

15. 10. 2023  •  12 Kommentare

Drei Zinnen | In den Bergen lernt man viel über Menschen. Über sich selbst und über andere. Zum Beispiel unterhalb der Drei Zinnen, jenem dominanten Gebirgsstock in den Sextner Dolomiten; ein dankbares Motiv für Kühlschrankmagnete und, ja, Influencer. Nun mag es sein, dass ich auch irgendwie Influencerin bin; vielleicht Waffel- oder, seit Jüngstem, Meerschweinchen-Influencerin. Jedenfalls lassen das Zuschriften vermuten, die ich erhalte.

Unterhalb der Drei Zinnen tritt eine Art von Influencer:innen auf, die, nun ja, Überraschung hervorruft. So wanderten der Reiseleiter und ich in angemessener Bergmontur auf einem Geröllpfad aufwärts, auf 2.400 Metern. Wir schnauften etwas, als hinter einer Kurve unversehens eine junge Frau auf einem Felsblock stand, lediglich bekleidet mit – Moment, ich muss das Fachwort nachschlagen – Boyshorts und einem Büstenhalter. Den Rest hatte sie abgelegt, hinter ihr die Berge. Die Frau schob ihren Po raus, streckte ihre Brüste vor, das Kinn ebenso und schürzte die Lippen. Es bedurfte deutlicher Mühe, lasziv auszusehen und nicht vom Felsen zu fallen, Eine andere Frau machte Handyfotos von ihr.

Panoramabild, in der Mitte die drei Zinnen, an ihrem Fuß Menschen. Im Hintergrund weitere Berge.

Es waren viele Menschen dort oben unterwegs. Von der Auronzo-Hütte bis zu den Drei Zinnen zog eine Touristenkarawane. Die Karawane verlief sich jedoch, je weiter wir den Rundweg um die Felsengruppe gingen, eine zehn Kilometer weite Schleife, die erst zur gegenüberliegenden Drei-Zinnen-Hütte führt, dann hinab ins Tal, wieder hinauf auf die Anhöhe und die sich anschließende in einem ausholenden Schwung zurück zur Auronzo-Hütte zieht.

Der Reiseleiter und marschierten also weiter zur Drei-Zinnen-Hütte. Die Aussicht war ausnehmend spektakulär; maximal instagramable.

Panorama: Rechts die Drei Zinnen, links die Drei-Zinnen-Hütte. Hochalpine Landschaft mit Felden und Tälsern, blauer Himmel.

Die Drei-Zinnen-Hütte selbst hatte bereits geschlossen. Wir saßen auf Felsen und schauten in die Gegend. Ins Tal und in die Berge zu schauen, ist hier eine absolut ausreichende Tätigkeit. Ab und zu ließ sich eine Alpendohle mit der aufsteigenden Luft zu uns tragen und wartete auf herabfallende Brotkrumen. Kleine Käfer krochen über Steine. In der Ferne taten die Menschen es ihnen nach.

Panoramaufnahme: Drei-Zinnen-Hütte vor alpiner Kulisse

Als wir genug geschaut hatten, stiegen wir ins Tal hinab. Und dann stiegen wir wieder aus dem Tal hinauf. Das war unerfreulich anstrengend; die Höhe machte sich bemerkbar. Außerdem verspürte ich den Bedarf nach leicht zugänglichen Kohlenhydraten, denn auf der Hütte hatten wir ja nichts bekommen. Wir hatten aber keine Kekse mit, auch keinen Kuchen. Immerhin fanden wir Schüttelbrot und einen Apfel im Rucksack.

Eine Szene noch, bevor ich die Drei Zinnen erzählerisch verlasse: Er, Pullunderträger (nicht in der Ausführung Berlin-Friedrichshain, sondern in der Edition Finanzamt Erlangen) trug die Kompaktkamera. Sie, gesmokte Taftbluse, die Haare hochgebunden mit – auch hier muss ich das Fachwort recherchieren – einem getigerten Scrunchie aus Satin, hielt einen kurzatmigen Pekinesen im Arm. Sie kletterte auf einen Felsen, eine Hand am Stein, in der anderen der Hund im Würgegriff. Das Vorhaben war wackelig, der Pekinese schaute besorgt – Absturz oder Erstickungtod, hier war heute alles drin. Die Frau ließ sich nieder, den Hund weiterhin fest im Arm. Sie strich ihm über den Kopf, richtete sein Fell und drehte sich in Richtung des Pullundermannes mit seiner Kompaktkamera. Gemeinsam mit dem Hund bildete sie ein Ölgemälde-würdiges Motiv vor der alpinen Bergkulisse. Ihr Körper straffte sich noch einmal. Der Pullundermann hielt sich die Komptaktkamera vors Gesicht. Die Frau richtete noch einmal den Hund – Klick!


Reiner Höhenweg | Die nächste Wanderung führte uns in die Einsamkeit des Tauferer Ahrntals, ein Ort gänzlich ohne Influencer und Pekinesen. Von hier aus, so lasen wir, könne man auf die Riesenferner-Gebirgsgruppe und auf Gletscher schauen. Das wollten wir tun, solange es sie noch gibt.

Wie alle Wege hier begann auch dieser unerfreulich steil. Rolltreppen wären eine gute Sache hier und würden manches erleichtern. Aber hier gab es weder Rolltreppen noch Bergbahnen, aber als wir eine erkleckliche Höhe erreicht hatten, konnten wir zur Kirche hinunter schauen. Dort waren wir losgegegangen. Am Hang die Lobiser Schupfen, historische Heuhütten, neu aufgebaut.

Am liebsten mag ich es ja, wenn es nach einem knackigen Anstieg eine zeitlang gerade geht. Wanderbeschreibungen wie: „Der Weg führt uns auf gleichbleibender Höhe am Hang entlang“ begrüße ich.

Paniramaaufnahme vom Reiner Höhenweg

Ebenbfalls toll sind geöffnete Hütten. Auf der Durra Alm genoss ich erst eine Apfelschorle, dann eine Holunderschorle, dann eine Johannisbeerschorle (ich hatte Durst) und aß ein üppiges Käsebrot. Danach war ich bereit für den Abstieg.

Ein Käsebrot und ein Glase Holunderlimonade für Bergkulisse

Ein Haus am Wegesrand, kurz vor dem Ziel:

An die Mauser gepinselt: 
Dies Haus ist mein
und doch nicht mein
der nach mir kommt
kann's auch nicht leih'n
und wir's den Dritten übergeben
er kann's nur haben
für sein Leben
den Vierten trägt
man auch hinaus
sag, wem gehört nun dieses Haus

Friedhof | Wenn ich andernorts bin, gehe ich gerne auf Friedhöfe. Niemand erzählt das Leben so gut wie die Toten, besonders in den Dörfern, wo die Namen auf den Grabsteinen sich ungezählt wiederholen und wo – wie hier in Südtirol – jedes Grab Fotos derjenigen Menschen zeigt, die es beherbergt. Man schaut in Gesichter aus drei Jahrhunderten, Menschen in strenger Tracht und mit ebenso strengen Mienen, Schwarz-weiß-Aufnahmen aus einer weit entfernten Zeit. Man sieht Menschen mit schweren Brillen im Sepia der 1970er und Fotos aus jüngeren Tagen, bunt und fröhlich.

Wer in den Bergorten Südtirols zu liegen kommt, hat eine hervorragende Aussicht. Die Gräber befinden sich an den Kirchen, die Kirchen stehen exponiert im Dorf. Es gibt Gräber voller Lechners, Unterlechners und Siebenlechners, voller Hubers, Unterhobers und Oberhubers.

Wer in der Stadt liegt, etwa in Bruneck oder in Brixen, ist umrahmt von Arkadengängen. In den Arkaden liegen die Reichen und die Honorigen, in der Mitte ruht das gemeine Volk. Auf den alten Grabsteinen: Berufe und Verwandtschaftsbeziehungen. „Güterbesitzer“ war ein auffallend beliebter Beruf der Laubenliegenden.

In der Kategorie „Reproduktion“ geht der Sonderpreis an den Neuhauser Josef jun., der 22 Kinder mit vier Frauen zeugte:

Grabstein der Familie Neuhauser, darauf verzeichnet die Frauen des Josef Neuhaser und die ausgewählte Kinder

Ich möchte Romane über all diese Familien lesen, über die Neuhausers und über die Lechners, die Unter- und die Sieben-, über die Menschen, deren Hof und Herkunft auf dem Grabstein steht, und über diejenigen, deren Spitzname verzeichnet ist, weil sie niemand unter dem richtigen Namen kennt.


Gelesen | Jetzt droht ein großer Krieg [€]. Eine lange Analyse zu den Zusammenhängen zwischen den Angriffen der Hamas, der Rolle Irans und der Rolle Russlands. Sehr interessant, gleichzeitig ausgesprochen unerfreulich.

Ausprobiert | So groß ist der Gaza-Streifen im Vergleich zur eigenen Stadt. Spoiler: Er ist klein.

Die ersten Tage in Südtirol: Wir lassen uns ein und essen mit Käse Gefülltes

9. 10. 2023  •  8 Kommentare

Sich einlassen | Beginnen wir beim Wetter. Es ist warm in Südtirol, sehr warm. Heute hatten wir 28 Grad im Tal. Für die Chronik: Wir schreiben Montag, den 9. Oktober.

Wir hatten mit gutem Wetter gerechnet, aber nicht so gutem. Ich habe nur eine kurze Hose im Gepäck, nachträglich in den Koffer geworfen vom Reiseleiter, der mir nach Stuttgart nachreiste und, seiner Rolle folgend, das Reisewetter im Blick hatte und entsprechend handelte.

Wir wohnen in einem Hotel, das jeden Abend ein Vier-Gänge-Menü serviert. Ein Gang besteht immer aus etwas, das mit Käse gefüllt ist, sanft umgeben von einer Käsesoße. Am ersten Abend gab es mit Käse gefüllte Spinatknödel in Gorgonzolasoße, gestern mit Käse gefüllte und frittierte Canelloni, heute mit Käse gefüllte Rote-Beete-Knödel. Käse ist ein großes Thema hier, beim Frühstück, bei der Jause wie auch beim Abendessen. Wir lassen los und uns darauf ein.

Einlassen ist ein gutes Stichwort: Am ersten Wandertag ließen wir uns auf die Almprinzen ein, ein Volksmusikduo. Es spielt beim Almabtrieb in Nauders, frisch und frohgemut, mit Akkordeon und Gitarre und einer Sammlung Altherrenwitze, die Mario Barth hätte erblassen lassen. Die Wiese an der Spritzenhütte war voll mit Menschen, Touristen wie Einheimischen. Es gab Krapfen mit und ohne Marmelade, Pommes und Bier und eben die Almprinzen. Als wir dort ankamen, hochmarschiert aus dem Tal und etwas außer Puste, war mir sofort klar, dass man sich hier voll in die Situation werfen muss: Trachten, Volksmusik und Tiroler Bauernjugend – das muss man wollen, von Herzen.

Wir blieben dort, bestellten Alkoholfreies und beobachteten, wie Busunternehmen immer mehr Senioren auf die Wiese karrten. In der Warteschlange vor dem Toilettenhäuschen traf ich Frau, graues Haar. Sie sagte sie sei das erste Mal mit einem solchen Unternehmen unterwegs. Ich fragte sie, ob es gut sei. Sie antwortete: „Naja, es ist halt alles organisiert.“

Wiese mit Bergkulisse im Hintergrund. Auf der Wiese sehf viele Biergarnituren, auf denen allesamt Menschen sitzen.

Neben der Festwiese war eine weitere Wiese, doppelt so groß. Auf dieser Wiese parkten die Autos aller Menschen, die nicht wie wir zu Fuß gekommen waren. Mit dem SUV zum Almabtrieb, so macht man das heute, da lohnt sich danna uch die Bodenfreiheit, wenn es über rumpelige Grashügel zurück auf die Dorftstraße geht.

Irgendwann kamen dann auch die Kühe. Die Chefkuh war geschmückt, aber unbeeindruckt vom Trubel; sie kam sich in keiner Weise wichtig vor. Vielmehr hatte man den Eindruck, dass sie ein bisschen genervt war von all den Leuten – wer will es ihr verdenken. Man stelle sich so einen Almabtrieb anders vor, man stelle sich vor, die Kuh wäre ein Mensch, keine Frau, sondern ein Mann, ein Markus Söder unter den Almkühen. Den ganzen Sommer wäre er auf der Alm gewesen, bei Sonne und bei Regen, hätte 3000 Liter Milch nr mit dem eigenen Körper produziert – aus Gras! Ja, Herrschaftszeiten, da hätten wir uns etwas anhören können. Es hätte Reden über die Kraft Tiroler Kühe gegeben, über die Leistung des Almwesens. Ein Herzerl auf der Stirn hätte dann lange nicht gereicht, es hätte ein Krönungsgewand königlichen Ausmaßes gebraucht, um mit ihm von der Alm herunter zu schreiten; weniger wäre der Sache nicht gerecht gewesen.

Kühe auf der Weide, eine davon geschmückt. Dahinter die Festwiese.

Stattdessen aber waren die Kühe froh, als sie endlich unten waren und sich auf die Wiese fallen lassem konnten.

Am zweiten Wandertag ließ ich mich auch ein – nicht auf die Almprinzen, sondern auf eine Verhandlung mit dem Reiseleiter, der, abweichend von der geplanten Wanderroute, „einen kleinen Abstecher aufs Haunoldköpfl“ vorschlug. Der Abstecher weitete die Wanderung auf 850 Höhenmeter und 15 Streckenkilometer aus. Das wussten wir aber beim Beschluss des Abstechers nicht. Wir folgten nichtsahnend dem Schild „Haunoldköpfl, 1h“.

Der Aufstieg dauerte tatsächlich nur eine Stunde, aber eine Stunde, in der es ausschließlich über Steine und Wurzeln steil bergauf ging.

Weg aus Wurzeln und Steinen

Unerfreulicherweise gibt das Bild nicht ansatzweise das Elend wieder, das wir eine Stunde lang erlebten. Glauben Sie mir also einfach, wenn ich sage, dass es fordernd war.

Als ich auf dem Köpfl ankam, musste ich mich erstmal drei Minuten auf dem Kasten mit dem Gipfelbuch ablegen, sonst wäre ich umgefallen. Zugegebenermaßen entschädigte die Aussicht. Wir hatten einen wunderbaren Blick auf die Dreischusterspitze und die Drei Zinnen, hinab ins Tal nach Innichen. Der Wind umsauste uns, und die Wolken zogen über unsere Köpfe hinweg.

Panorama vom Haunolldkoepfl mit Blick auf die Drei Zinnen

Als ich wieder einigermaßen in Schuss war, platziere ich mich auf einem Stein, zog mir Jacke und Weste über und kramte Brotstangen aus dem Rucksack. Nicht nur, dass sie hier in Südtirol alles mit Käse füllen, sie haben im Supermarkt auch eine Wand aus Grissini zur Auswahl: Grissini aus Mais, Grissini stirati, Grissini mit extra gutem Olivenöl, Grissini in allen Längen und Dicken.

Ich knusperte also Grissini, während ich auf dem Felsen saß und auf die Dolomiten blickte, unter mir das Pustertal.

Vanessa auf einem Felsplateau über dem Tal

Hinunterlaufen ist genauso unangenehm wir hinauf, nur auf andere Art und Weise. Meine Oberschenkel waren jedenfalls butterweich, als wir eineinhalb Stunden später, nach Unmengen verwurzelter Serpentinen, aus einem Geröllfeld herausstiefelten und unten am Berg ankamen. Die Stimmung war zudem angespannt. Denn Grissini sind eine feine Sache, wir hatten aber längst den Moment überschritten, an dem uns trockene Brotstangen weiterhalfen. Wir brauchten etwas Warmes, mit Käse Gefülltes.

Mein Blick schwenkte nach rechts. Da war tatsächlich eine Bushhaltestelle, und aus der Bushaltestellte schauten Beine heraus. „Guten Tag“, sagte ich, „fährt hier etwa ein Bus?“ Ich konnte es nicht glauben. Ja, sagte die Frau, aber erst in einer Viertelstunde. Was für eine hervorragende Nachricht! Ich hätte sie am liebsten umarmt und den Mann, der neben ihr saß, gleich mit. Einträchtig warteten wir auf den Shuttlebus, der uns vier Kilometer Weg einsparte. Es war die schönste Busfahrt seit Langem.

In Innichen fuhren wir mit dem Zug zurück nach Mühlbach. Den Nahverkehr haben sie hier gut organisiert. Und die Bahnhöfe sehen außerdem aus wie aus dem Katalog.


Gelesen | Margret Millar: Die lauschenden Wände, aus dem Amerikanischen von Karin Polz. Ein Buch aus dem Jahr 1959, gefunden im Bücherschrank im Dorf. Ein solider Kriminalroman: Amy Kellog ist verschwunden. Ihr Bruder beauftragt den Privatdetektiv Dodds, um herauszufinden, ob ihr Mann sie ermordet hat. Die Spannung ist überschaubar; dennoch wollte ich wissen, wie es ausgehen. Nette Ferienlektüre.

Ein Ausflug ins Altmühltal

24. 07. 2023  •  7 Kommentare

Expedition in die Wissenschaft | Meine Sommerpause ist zu Ende. Zu diesem Anlass habe ich noch einen Ausflug gemacht. Ich setzte mich in den Zug und fuhr nach Eichstätt.

KU Eichstätt

Vor einigen Wochen habe ich eine Einladung aus Eichstätt erhalten – zum Jubiläum der Eichstätter Journalistik und zur Antrittsvorlesung von Annika Sehl. Mit Annika habe ich an der TU Dortmund zusammengearbeitet, am Institut für Journalistik. Wir waren damals beide wissenschaftliche Mitarbeiterinnen. Ich habe mich danach aus dem Wissenschaftsbetrieb verabschiedet, habe Medienangebote auf Smartphones und Tablets gebracht und mich später selbstständig gemacht. Annika ist in der Wissenschaft geblieben und hat eine großartige Karriere hingelegt. Nach Stationen in Oxford, Vertretungsprofessuren in Dortmund und Hamburg und einer ordentlichen Professur an der Universität der Bundeswehr in München ist sie jetzt Professorin an der KU Eichstätt. Dort beschäftigt sie sich mit Medienstrukturen und Gesellschaft, darunter viel mit den öffentlichen-rechtlichen Medien. Sie ist unter anderem auch Mitglied im Zukunftsrat der Rundfunkkommission an.

Außerdem hielt auch Karin Boczek ihre Antrittsvorlesung. Sie ist Juniorprofessorin für Digitalen Journalismus; auch sie kenne ich aus Dortmund. Die dritte Antrittsvorlesung hielt Liane Rothenberger. Ihr Schwerpunkt sind Medien und Migration.

Interessantes aus den Vorträgen, vereinfacht zusammengefasst:

  • Forschung zu Mediennutzung Geflüchteter: Arabischsprache Kinder nutzen sehr schnell deutschsprachige Medien – und haben dabei auch Kontakt zu öffentlich-rechtlichen Programmen.
  • Aktuelle forscht Annika Sehl zur Frage, wie Redaktionen ihre Berichterstattung verändern können, so dass sie der Friedensorientierung dienen und Polarisierung entgegenwirken?
  • Je höher die Einnahmen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, desto höher auch die Einnahmen privater Programme. Offentlich-rechtliche Medien tun der Medienlandschaft wirtschaftlich gut und beleben den Markt.
  • Junge Menschen sind eher bereit für öffentlich-rechtliche Programme zu bezahlen als Ältere. Wichtig: Journalistische Qualität muss im Mittelpunkt stehen.

Verschwunden im Altmühltal | Die Anreise nach Eichstätt war thrilling. Von Haltern nach Nürnberg war alles noch einfach. In Nürnberg zeigte die Bahn-App dann Züge, die der papierene Aushang nicht kannte. Der Aushang informierte hingegen über Verbindungen, die die App nicht kannte. Am Gleis stand schließlich ein Regionalexpress, der weder in der App noch im Aushang auftauchte. Der also gar nicht existent war. Das angeschlagene Ziel: Treuchtlingen, dort angeblich Umsteigeoption nach Eichstätt. Stationen: Schwabach, Roth, Georgensgmünd, Mühlstetten, Pleinfeld, Ellingen, Weißenburg. Noch nie gehört! Alles.

Ich stieg ein, das Internet brach weg, wir durchquerten malerische Orte vor Felswänden. Die Leute verließen nach und nach den Zug, bis ich allein war. Ab dem Zeitpunkt hätte der Lokführer mich überallhin fahren können. Niemand hätte mich je gefunden, zerstückelt und vergraben zwischen Emetzheim und Dettenheim, entführt in einem Zug, den es nie gegeben hat.

Überraschenderweise kam ich gut in Treuchtlingen an. Dort stand auch tatsächlich ein Zug nach Eichstätt. In Eichstätt stellte sich jedoch heraus, dass ich noch gar nicht in Eichstätt bin. Von Eichstätt-Bahnhof muss man nämlich noch in einen Schienenbus umsteigen, der über Wasserzell und Rebdorf nach Eichstätt-Stadt fährt. Ich hinterfragte nichts. Es war auch schon 19 Uhr.

In Eichstätt-Stadt war ich immer noch nicht am Ziel. Ich musste in einen Landgasthof nach Landershofen, vier Kilometer jottwede. Ich suchte und fand ein Taxi – das einzige. Darin: der Vadda von Kommissar Thiel aus Münster, vierzig Kilo schwerer.

Taxifahrer: „Sie kumma bestimmt a wegen dea Journalistik.“
Ich: „Bin ich nicht die erste heute?“
Taxifahrer: „Do, so Sie hinwollen, hob i heid scho oan Professor hingefohn. Aus Hamburg. Kennen Sie den?“
Ich: „Wie sah er denn aus?“
Taxifahrer: „Dea war no älter ois i. Und trug oan Hut.“
Ich: <schweige>
Taxifahrer: „Dass do ibahaupt Journalisten ausgebildet wern. So unabhengig, mid eigener Meinung, mein i.“
Ich: „Die Eichstätter Journalistik hat einen sehr guten Ruf.“
Taxifahrer: „Ko ma goa ned glauben. In Bayern!“


Riding the Möhre | Weil Taxifahren auf Dauer ziemlich teuer ist, und die Taxiunternehmen Eichstätts werktags nur Dienstzeiten bis 18:30 Uhr haben (tatsächlich!), mietete ich mir im Landgasthof ein Fahrrad.

Das Ding war die schärfste Möhre, auf der je geritten bin: zwei Rahmengrößen zu klein, Rücktritt, das Vorderrad eierte, das Hinterrad auch, aber nicht im gleichen Rhythmus. Das Sattelrohr rutschte außerdem immer runter, so dass ich mit den Knien an den Ohren trampelte. Jede Fahrt eine Zirkusnummer!

Fahrrad an der Landstraße vor dem Ortsausgangsschild Eichstätt, zwei Kilometer bis Landershofen

Aber egal, die Möhre fuhr, sie fuhr zu jeder Tages- und Abendzeit und brachte mich mehrmals von Landershofen nach Eichstätt und wieder zurück.


So klein ist die Welt | Den Professor aus Hamburg kannte ich übrigens wirklich. Er hatte einen Lehrstuhl in Dortmund, als ich dort wissenschaftliche Mitarbeiterin war. Wir frühstückten zusammen, und er plauderte.


Unterwältigt in Ingolstadt | Am Samstag, dem Tag nach der Veranstaltung, blieb ich noch in Oberbayern. Bei so langen Fahrten hänge ich oft einen Tag dran, besonders wenn ich die Gegend noch nicht kenne. Eigentlich hatte ich vorgehabt, ein wenig Fahrrad zu fahren, aber mit dem vorhandenen Gerät kam das nicht in Frage. Also fuhr ich mit dem Zug nach Ingolstadt. Ich war hart unterwältigt. Eine Stadt, charmant wie Hagen, nur mit bayerischer Fassade. Vergeblich suchte ich nach schönen Ecken, lief vom Hauptbahnhof durch die Altstadt zum Nordbahnhof, aß ein gar nicht mal so gutes Gemüsecurry, fand das Schloss und die Festung und fuhr wieder zurück nach Eichstätt.

In Eichstätt setzte ich mich hin, hing an der Altmühl ab, las und guckte Leute an.


Überwältigt von der Bahn | Heimfahrt im Pride-ICE.

ICE mit Regenbogenstreifen

Die Fahrt von Eichstätt zurück nach Haltern war maximal ereignislos, geradezu großartig langweilig. Die Umsteigezeiten in chronologischer Reihenfolge: drei Minuten in Eichstätt-Bahnhof, zwölf Minuten in Nürnberg, fünf Minuten in Essen. Es hat alles geklappt! In den zwölf Minuten in Nürnberg konnte ich mir sogar Brötchen und ein Getränke kaufen und habe ein Kinder bueno am Automaten gezogen.


Schwein des Tages | „Der Napf ist leer, chica.“

Meerschwein steht mit den Pfoten auf dem Rand des leeres Futtertellers

Eine Radreise mit den Kindern zum Burger’s Zoo in Arnheim

21. 07. 2023  •  4 Kommentare

Kleine Radreise | Die Idee zu Radreise hatte der Reiseleiter. Er meinte: Wir könnten doch mit den Kindern mal eine Mehrtagestour machen, so richtig mit Gepäck und Radfahren, das wäre eine tolle Sache. Dazu muss man sagen: Der Reiseleiter findet alles, was mit Radfahren zu tun hat, eine tolle Sache. Deshalb ist es wichtig, dererlei Vorschläge gut zu prüfen.

Ich prüfte den Vorschlag und fand ihn auch gut. Also fragten wir die Kinder, und die Kinder sagten: „Yeah!“ Der Reiseleiter plante, wir packten die Fahrräder und fuhren los.

Fünf Fahrräder auf einer Lichtung, im Hintergrund drei rennende Kinder, ein Mann sitzt au der Bank

Wir waren uns einig, dass die Kinder an die 60 Kilometer am Tag fahren können. Im vergangenen Jahr fuhren sie schon einmal 50, jetzt waren sie ein Jahr älter, das würde passen. Wir waren uns außerdem einig, dass es gleichmäßig auf der Strecke verteilte Incentives braucht: Eis, Seen, Spielplätze, Fährfahrten, Alpakas, Supermärkte mit Fantaverkauf (nicht nur für die Kinder; ich bin dahingehend auch sehr schlicht). Weil ich Erfahrung habe mit der Kalorienzufuhr in Ganztages-Trainingslagern, packte ich große Mengen an Proviant ein.

Bemerknisse:

  1. Dass man in den Niederlanden ist, merkt man – ganz ohne Schild – an den plötzlich gut markierten und asphaltierten Radwegen. Wenn der Asphalt in eine Schotterpiste übergeht, fährt man wieder aus den Niederlanden heraus.
  2. Dass man in den Niederlanden ist, merkt man auch, weil die Leute plötzlich freundlich grüßen – überholende und entgegenkommende Radfahrende, Menschen in Vorgärten. Hoi, goede reis!
  3. Die Albert Heijns auf der Strecke kennen uns jetzt mit Namen. Wir sind die, die morgens die Pizzaschnecken aus der Brötchentheke kaufen.
  4. So, wie Kinder einem beim Spazierengehen mit großem Talent vor den Füßen heraumlaufen, fahren sie einem bei Radreisen vor dem Rad herum.
  5. Auffahrunfälle sind unbedingt zu vermeiden, können aber passieren.
  6. Auch wenn man schon wenig an Zeugs einpackt, braucht man in Wirklichkeit immer noch weniger.
  7. Gegenwind ist Mist.
  8. Einer hat immer einen Platten.

Etappen | Insgesamt sind wir an vier Tagen etwa 190 Kilometer gefahren:

  • von Haltern am See nach Bocholt, 63 Kilometer
  • von Bocholt nach Ellecom bei Arnheim, 58 Kilometer; am Abend nochmal acht Kilometer zum Abendessen und zurück
  • von Ellecom in den Burger’s Zoo, 30 Kilometer Hin- und Rückweg
  • von Ellecom nach Elten, 31 Kilometer

… und von Elten mit dem Zug zurück nach Haltern am See.


Burger’s Zoo | Ziel der Reise war einerseits der Weg, also das Radreisen selbst. Andererseits war es der Burger’s Zoo in Arnheim. Anders als in anderen Zoos gibt es kaum Gehege. Stattdessen gibt es Themenwelten – ein Safarigelände, aus dem man von verschiedenen Aussichtspunkten aus hineinsehen kann, und mehrere riesige Hallen, in der die Tiere zusammenleben. Ich war dort vor vielen jahren schonmal und erinnerte mich, dass es mir sehr gefallen hatte.

Inzwischen ist es noch besser. Burger’s Busch, der tropische Regenwald:

Tropischer Urwald, ein Wasserfall und eine Brücke

In der Mangrovenhalle wurden wir von Schmetterlingen umfalltert, Manatis tauchten unter uns hindurch, Vögel flogen über unsere Köpfe hinweg, Winkerkrabben winkten uns. Das Korallenriff ist das größte Riff Europas; dort wird auch geforscht.

Wir kamen am morgen und blieben bis zum Abend, so viel gab es zu entdecken.


Sattelfolter | Vor der Radtour montierte ich einen neuen Sattel. Mein vorhandener Sattel schmerzte nach Justierung des Lenkers zwar nicht mehr so wie einst, aber ich dachte, ich könnte die Sache vielleicht noch etwas optimieren.

Ich fuhr in ein Fahrradgeschäft und ließ mich vermessen. Die Beratung war mäßig. Der Verkäufer sprach immer wieder vom Sitzhöckerabstand und ignorierte, dass nicht meine Sitzhöcker schmerzten, sondern die Weichteile weiter vorne: Labien und Scham. Das sagte ich sehr eindeutig, es fielen die Worte „Vulva“, „Schamlippen“ und „Klitoris“. Die Worte brachte den Verkäufer in Verlegenheit; er errötete und ging nicht darauf ein. Vielmehr nuschelte er, dass – rein satteltechnisch – Männer und Frauen „untenrum gleich sind“. Am Ende kaufte ich einen SQlab-Sattel – mit der Option, ihn wieder umtauschen zu können.

Nach fünfzig Kilometern stellten sich die ersten Leiden ein, nach achtzig Kilometer pflegte ich sehr konkrete Gewaltfantasien gegen den Verkäufer. Während ich auf meinen schmerzenden Weichteilen ritt, stellte ich mir vor, wie ich nach meiner Rückkehr in den Fahrradladen fahren würde, wie ich den Verkäufer beim Kragen packen, wie ich sein Gesicht ganz nah an meines ziehen und ihm mit warmem Atem zuflüstern würde, dass! Er! Den Sattel! zurücknehmen würde! Über jede schmerzende Stelle, über die Sitzhöcker (die schmerzten jetzt auch) den Damm, die Labien, die Klitoris, das Schambein, die Rückseite der Oberschenkel würde ich zehn Minuten sprechen; eine Stunde lang würde ich ihn mit auf meinen Leidensweg nehmen. Ich würde beschreiben, wo der Sattel drückt und scheuert, wie der Damm erst schmerzt, wie danach alles ertaubt, wie die Taubheit zu brennen beginnt, wie der Sattel sich hineinbohrt, wie er zerquetscht und zerfleischt, wie jede Bodenwelle die Weichteile zerhackt, wie der Sattel die Leisten zerreibt und wie er die Labien zermalmt. Der Verkäufer würde sich alles anhören müssen, jeden Kilometer meines Schmerzes, mit meiner Hand an seinem Kragen. Würde der Verkäufer Luft holen, um zu widersprechen, würde ich ihn hundertmal schreiben lassen: „Frauen und Männer sind nicht untenrum gleich.“ Mit schmerzendem Schritt trampelte ich durch die Felder Gelderns, während ich das dachte, und fühlte mich ein bisschen besser.

Natürlich tat ich das alles nicht. Stattdessen fuhr ich in den Fahrradladen und bat höflich, von meinem Umtauschrecht Gebrauch machen zu dürfen. Ich wurde den Foltersattel wieder los und bekam einen Gutschein.

Auf der Fahrradreise opferte sich der Reiseleiter und tauschte unsere Sättel. Nach 120 Kilometern konnter er sich mein Gemaule nicht mehr anhören. Ich durfte auf seinem Sattel fahren (eine Wohltat!), er nahm meinen. Meine Stimmung stieg augenblicklich.

Zuhause angekommen, habe ich sofort meinen alten Sattel von Terry wieder montiert. Ich liebe ihn jetzt. Es ist alles eine Frage der Perspektive.


Gelesen | Stine Pilgaard: Meter pro Sekunde, aus dem Dänischen übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel. Für mich war das Buch ein Pageturner, ich kann aber nicht genau sagen, warum. Denn es passiert eigentlich nichts. Eine junge Mutter zieht mit ihrem Mann nach Westjütland, ins Land der einsilbigen Menschen. Ihr Sohn schläft wenig, sie selbst spricht gerne und offen – aber niemand will mit ihr reden. Sie wird Kummerkasten-Redakteurin bei der örtlichen Zeitung. Es ist die Geschichte eines rauen Miteinanders, einer zarten Entwicklung und scharfzüngiger Kummerkastentexte. Die Kapitel sind kurz, und immer dachte ich: Ach, eins noch. So hatte ich das Buch in zwei Tagen durch.

Gelesen | Thorsten Pilz: Weite Sicht. Vier Frauen, vier Leben: Charlottes Mann stirbt, und plötzlich sind da neue Perspektiven. Ihre Schwester Gesine schlingert und braucht Hilfe. Plötzlich taucht Charlottes alte Freundin Bente auf. Und auch Sabine, die Ziehschwester von Gesine und Charlotte, löst sich aus alten Fesseln. Vom Grundgedanken her ein gutes Buches, allerdings wirkt die Erzählung auf mich überladen: Die Menge an Krankheit, Tod und Verdrängung, Geheimnissen und emotionaler Verstrickung erscheit mir deutlich zu groß. Den Figuren bin ich deshalb nicht richtig nahe gekommen.


Schweinebild des Tages | Die Schweine haben meinen Vater in ihr Schweineherz geschlossen. Er hat sich während der Radreise um sie gekümmert.

Drei Schweine grasend im Gehege

Samson, ein tanzendes Orchester, ein Wolkenbruch und Zug reisende Kreuzfahrer

28. 06. 2023  •  6 Kommentare

Expedition nach Hamburg | Das erste Mal Elbphilharmonie, und es war super – um das gleich vorwegzunehmen. Ich meine, schauen Sie sich dieses Gebäude an!

Elbphilharmonie - großer Saal

Sehr beeindruckend.

Wir hörten das Baltic Sea Philharmonic Orchestra, das auf seiner Website mit dem Slogan wirbt: „A New Dimension in Concert Experience“ – und ja, das kann man so sagen. Die Musiker und Musikerinnen spielen ohne Noten. Sie sitzen nicht, sondern stehen (es sei denn, dass Instrument erfordert einen Stuhl). Sie laufen während des Musizierens umher. Der Dirigent hat keinen Taktstock, sondern schlägt ein Tamburin. Dudelsack und Maultrommel sind zentrale Instrumente. Die Klänge sind ethnisch. Neben Sibelius und Strawinski spielte das Orchester Selbstkomponiertes. Die Musik fließt. Es gibt keine Pause, die Stücke gehen ineinander über. Eine Erfahrung von „interessant“ über „oh, wow!“ bis „äh … seltsam.“ Am Ende tanzte der ganze Saal, der Dirigent lief ins Publikum und holte Menschen auf die Bühne. Ich war ein bisschen froh, oben auf dem Rang zu sitzen.

Das Gebäude und die Aussicht:

Auf dem Heimweg goss es aus Kübeln. Wir bekamen richtig die Hucke voll, die Kleidung klebte uns an den Körpern, der Regen lief uns den Rücken hinunter, in die Unterhose hinein, die Schuhe standen komplett unter Wasser. Vielleicht der Wolkenbruch, von dem Herr Buddenbohm berichtet; allerdings sprangen wir nicht, wir rannten auch nicht, wir gingen einfach durch diese herbfallenden Wassermassen; es war ein Regen, bei dem nach fünfzehn Sekunden schon alles egal ist.


Der, die, das | Bevor wir wieder abreisten, besuchten wir die Sesamstraßen-Ausstellung im Museum für Kunst und Gewerbe. Dort sahen wir die Sesamstraßen-Puppen – alte und neue -, betraten Kulisse und lernten, wie die Geschichten und die Puppen entstehen, we sie gespielt werden und welche Idee hinter den Figuren steckt.

Ernie war leider nicht zuhause, sondern musste arbeiten.


Kreuzfahrt nach Hause | Auf dem Heimweg, also dem Weg von Hamburg nach Haltern, trafen wir am Bahnhof viele Mitreisende. Sehr viele. Unter ihnen: Kreuzfahrer. Man erkennt Kreuzfahrer, so lernte ich, an taillenhohen Hartschalenkoffern, sportivem Chic mit kräftigen Farbakzenten und dem Geruch der Verunsicherung, der sie umweht, während sie den einfahrenden Zug beobachten.

Die Koffer sind monumental. Es passt problemlos eine erwachsene Leiche hinein, unzerstückelt, nur leidlich gefaltet. Es sind Hartschalensärge mit Outfits fürs Captain’s Dinner und den Landausflug auf dem Quad, die wattierte Weste neben den Sportschuhen fürs Fitnessstudio, die Badeschlappen unter dem leichten Wollpullover zum Über-die-Schulter-legen, die Ärmel vor dem Brust im Sylter Schlupp verschlungen. Die Kreuzfahrer schieben ihre Hartschalensärge durch den Gang des Zuges, treffen auf entgegenkommende Kreuzfahrer mit Hartschalensärgen und stecken fest. Zwei Koffer passen nicht aneinander vorbei, sind aber auch zu schwer, um sie übereinander zu heben. Es geht nicht vor und nicht zurück. „Wir kommen aus Spitzbergen.“ – „Wir aus dem Mittelmeer.“ Man macht sich bekannt. Man ist verschwitzt.

Wir werden alle noch verschwitzter, als südlich von Hamburg die Klimaanlage ausfällt. Die Metalllkiste erwärmt sich auf dreißig Grad, vielleicht auch nur achtundzwanzig, das Hirn wird jedenfalls ganz weich. Der Zugbegleiter murmelt etwas von „Letzte Woche kollabierte mir eine Schulklasse“ und fummelt an einer Art Sicherugskasten herum, vergeblich. Der Waggon steht vor der Evakuierung, aber dann geht es doch irgendwie. Man stellt fest, dass die Passagiere immerhin ausreichend Sauerstoff haben.

Zwischen Bremen und Osnabrück evakuiere ich mich in den Nachbarwaggon vors Klo. Es fühlt sich an wie ein Umzug ans Nordkap, so kühl ist es im Vergleich zum kochenden Heimatwaggon. „Als ich letztes Jahr Zug fuhr, hatten wir eine Stunde Verspätung“, sagt ein Kreuzfahrer, der pinkeln muss, „und jetzt das.“ Und jetzt das.


Fahrrad-Ergonomie | Am Sonntag unternehmen wir eine Fahrradtour. 74 Kilometer von Haltern zum Dorfpark Osterwick und zurück. Bekannte hatten zu einem Sommerfest eingeladen. Wir brachten Brot und Obst mit und reisten deshalb mit ein wenig Gepäck.

Die erhöhte Lenkerposition half: Der Schritt trat nicht so weh wie sonst, der Druck ist nun wieder hinten. Das ist immer noch nicht optimal, aber auf jeden Fall schonmal besser.

Fahrrad vor einem Feld. Die Sonne steht schon tief.

Während Hinfahrt und Ankunft trank ich drei Liter. Es war mehr als dreißig Grad warm. Die Hitze flirrte über den Feldern. Solange ich zügig fuhr, ging es; der Fahrtwind war zwar heiß, aber half. Bei den Anstiegen rund um den Coesfelder Berg brezelte die Sonne allerdings gehörig.


Schweine-Insight | Neues Feature: Mittagessen steht nun immer mit den Pfoten auf dem Rand des Fressnapfes und wippt mit dem Kopf, wenn sie andeuten möchte, dass es (dringend!) Zeit wird nachzufüllen.

Zwei Meerschweine, eins steckt neugierig den Kopf aus dem Häuschen

Rückkehr aus dem Urlaub

25. 10. 2022  •  10 Kommentare

</Urlaub> | Wieder zu Hause. Die Rückfahrt ist schon ein paar Tage her. Ich habe sie genossen – wegen des Panoramas und wegen der schönen Abende in der Schweiz und in Freiburg.

Die Fahrt durch die Schweiz war mir eine Freude. Die Berge sind toll. Ich hörte Klaviermusik und erfreute mich an der Kulisse. Raststätte Gotthard-Nord mit Blick nach Süden:

Im Vordergrund ein Parkplatz mit Auto, im Hintergrund hohe Berge

Ich traf tolle Frauen. Wir plauderten über Ernstes und über Un-Ernstes, aßen, lachten, reflektierten über Zeitgeschehen und über Persönliches.

In der Schweiz wurde ich mit Käsefondue beglückt. Ich lernte, dass es mit schwarzem Tee genossen wird, dazu Weißwein. Nachtisch: Vermicelles – Maronenpürree, serviert mit Baisser und Schlagsahne. Es ging mir schon deutlich schlechter! Danke nochmal in den Kanton Bern.

In Freiburg traf ich eine Dortmunderin. Frau @joriste ist jüngst in den Süden umgezogen. Wir hatten uns kurz vorher zufällig im Dortmunder Freibad getroffen, wo sie ihren letzen Schwumm absolvierte und mir vom Umzug erzählte – und hatten uns kurzerhand verabredet. Ich hatte mir Freiburg nämlich schon als Halt auf dem Weg von Bologna ins Ruhrgebiet ausgeguckt. Wie passend!


Bemerknis zur Verkehrspolitik | Insgesamt fuhr ich an die 4.000 Kilometer durch die Schweiz und vor allem durch Italien – mit Tempolimit, entspannt und ohne Stau. Weder um Mailand, noch um Rom, noch um Florenz oder Bologna staute es sich nennenswert, auch nicht in der Rush Hour. Der Verkehr floss, alle Verkehrsteilnehmer trieben in annähernd gleicher Geschwindigkeit über die Autobahn. Kaum jedoch überfuhr ich die schweizerisch-deutsche Grenze, traten die Leute das Gaspedal durch, die Jagd begann. Nach zwanzig Kilometern in Deutschland: Stau aus dem Nichts, zwanzig Minuten Herumstehen wegen Auffahren, Bremsen, Auffahren, Bremsen. Keiner gewinnt, alle verlieren. Was ein Irrsinn! Es könnte so einfach sein.


Bemerknis zu einer Herberge | Im Umkreis von Freiburg hatte ich das Vergnügen, in einer auf mehreren Ebenen wunderbaren Herberge zu übernachten. Das Ambiente: Schwarzwald-Folklore in Vollendung, Eiche rustikal, Putten, Olgemälde, Buntglasfenster, Stammtisch in der Gaststube.

Treppenhaus und Zimmertür, geblümter Vorhang, Eiche rustikal

Das Publikum: ein Geschenk. Da war das Ehepaar, in Style und Habitus in einer Derrick-Folge aus 1986 gefangen. Er: pullunderig erklärend, Siegelring am kleinen Finger. Sie: goldene Schnallen allüberall, Drei-Wetter-taftige Bauschaumfrisur. Beide: den kleinen Finger abgespreizt am Besteck.

Daneben zwei Vertreter, das Haar silbrig, Verkäufer alten Schlages – vielleicht Badgarnituren („WC-Set – flusenarm, ultraweich und saugfähig“), vielleicht Töpfe. Mit ihren Doppelreihern und den Manschettenköpfen wirkten sie ungemein Dieter-Thomas-Heck-ig. Sie gingen Listen durch, aus Papier; im Geiste sah ich sie Telefonbücher wälzen: „M haben wir. Du heute N, ich O und P?“

An der Kaffeemaschine sprach mich ein Mann an, Kurzarm-Hemd, Krawatte, Nikotinatem: „Ihr Kaffee ist fertig.“ – „Er ist erst fertig, wenn die Maschine ‚Bitteschön!‘ sagt“, antwortete ich. Es tropfte noch Espresso ins Macchiato, wir warteten, dann erschien im Display der Maschine: „Bitte schön“, zwei Wörter, ohne Satzzeichen. „Eine Frau, die sich mit Maschinen auskennt, chapeau!“ Schappo.

Im Herrgottswinkel saßen sechs Sachsen, offensichtlich. Ihr Dialekt war weich wie ihre Fürsorglichkeit. Magst du mir die Butter reichen? Ich gehe nochmal zum Buffet, soll ich etwas mitbringen? Die Marmelade ist köstlich, mag jemand probieren? Warte, bleib sitzen, ich hole dir Saft. Wollen wir uns ein Brötchen teilen? Du siehst aus, als möchtest du noch Kaffee – bemüh dich nicht, ich schenke dir ein.

Ein weiteres Derrick-Pärchen betrat den Raum. Wäre Sascha Hehn vorgefahren, im Golf Cabrio, den Pulli über die Schulter gelegt, vor der Brust die Ärmel im Sylter Kringel – es hätte mich nicht irritiert, es wäre nur folgerichtig gewesen.

Im Ernst: Es war ein tolles Hotel. Das Zimmer war nicht neu, aber bestückt von jemandem, der weiß, dass die Summe der Kleinigkeiten schwerer wiegt als buntes Budget-Design: mit Kofferablage und Schuhanzieher, Flaschenöffner und einem guten Fön – keinem, der an die Wand gedübelt ist, die Kordel so kurz, dass das Gerät kaum bis an den Kopf reicht; mit guter Seife und einem Verdunkelungsrollo, Steckdosen am Bett und einer Flasche Wasser; mit einer Matratze und einem Kissen, die Orthopäden Tränen der Rührung abringen; mit einem Fenster, das sich öffnen lässt, und einer Heizung, die man regulieren kann; mit frischem, weich-knusprigen Brot zum Frühstück.


Broterwerb | Direkt am Tag nach der Ankunft arbeitete ich ab, was liegen geblieben war, schickte Terminvorschläge zu Anfragen und ließ mich abholen zu dem, was geschehen war.

Heute habe ich konzentriert beim Kunden gearbeitet, beraten, zugearbeitet und zwischendrin Flurgespräche geführt, Neues erfahren. Das war sehr gut. Morgen Workshop, Donnerstag Seminar, in der kommenden Woche der erste Vormittag meiner Ausbildung zum Qualified Negotiator, einer Weiterbildung in Verhandlungstechnik.

Übernachtungsambiente fernab des Schwarzwaldes:

schlichtes Hotelzimmer, im Vordergrund auf deme Tisch ein Convenience-Salat, zwei Dosen Coke Zero, Himbeeren

Urlaub, Tag 20 – Eine Fahrt zum Weingut und eine Mittagspause in Modena

17. 10. 2022  •  4 Kommentare

Wein einkaufen | In diesem Urlaub habe ich mich einer Sache bislang nur wenig gewidmet: Wein. Deshalb fahre ich am Vormittag zum Weingut des Vertrauens, dem Ort des besten Rotweins.

Kennengelernt habe ich dieses Weingut 2018, als mich der Pfadfinder aus Quattro Castello dorthin fuhr. Seither bin ich großer Fan, und auch Freunde bringen, wenn sie in Italien sind, regelmäßig zwei bis zehn Kartons mit zurück nach Hause.


Modena | Auf dem Rückweg halte ich in Modena. Es ist Mittag und nichts los. Aber das macht nichts; ich möchte nicht shoppen und brauche keine offenen Geschäfte. Ich möchte nur etwas durch die Straßen flanieren.

Modena ist klein, deutlich kleiner als Bologna, hat aber ebenso hübsche Gassen und Arkaden. Ich steuere direkt die historische Markthalle an. Dort soll es Snacks geben, und ein Snack ist genau das, was ich jetzt brauche.

Der Mercato Albinelli wurde in den 1930er Jahren für die Händler der Piazza Grande gebaut – eine Eisenkonstruktion mit Marmorböden, fließendem Wasser (sehr modern und hygienisch damals) und mit einem Brunnen in seinem Zentrum. Hier gibt es Brot, Parmesan und andere anderen Käse, Fleisch, Obst und Gemüse, Zeitschriften und Spezialitäten.

Vor der Markthalle finde ich ein Plätzchen in einer Trattoria, esse ein Panini, lese und schaue den Menschen im Markt zu. Danach streife ich noch durch die Straßen. Dann fahre ich zurück nach Castenaso.


Broterwerb | Am Abend arbeite ich ein wenig. Es haben sich einige Mails angesammelt, die ich trotz Abwesenheitsnotiz beantworten möchte. Sonst wird das nach meiner Rückkehr alles zu kompliziert – für mich oder für meine Kunden, und das will ja niemand.


Gehört | Der Markisenmann von Jan Weiler. Klappentext:

Die fünfzehnjährige Kim hat ihren Vater noch nie gesehen, als sie von ihrer Mutter über die Sommerferien zu ihm abgeschoben wird. Der fremde Mann erweist sich auf Anhieb nicht nur als ziemlich seltsam, sondern auch als der erfolgloseste Vertreter der Welt. Aber als sie ihm hilft, seine fürchterlichen Markisen im knallharten Haustürgeschäft zu verkaufen, verändert sich das Leben von Vater und Tochter für immer.

Die Geschichte hat ein paar Schwächen, aber alles in allem habe ich sie gerne gehört. Ob ich sie auch gerne gelesen hätte, kann ich nicht sagen (wahrscheinlich weniger) – fürs Autofahren ist das Hörbuch aber prima: Es kommen nicht zu viele Personen vor, ich konnte der Handlung auch stückweise gut folgen, und es gibt ein Geheimnis, dem man auf den Grund gehen möchte.

Urlaub, Tage 18 und 19 – La Dotta, La Grassa, La Rossa

16. 10. 2022  •  10 Kommentare

Bologna |  Ich hatte mir schon gedacht, dass Bologna eine tolle Stadt, aber mal ganz ehrlich: Wow. Überwältigend.

Vor allem: So viele Menschen. Gestern mache ich den Fehler und fahre erst gegen 13 Uhr nach Bologna. Es ist so voll, dass ich gar nicht ins Parkhaus komme. Um drei Kurven stehen die Wagen, man kann nicht vor und nicht zurück. Ein Mann in einer gelben Weste regelt, wer hinein darf in die Tiefgarage unter die Piazza VIII Agosto. Von überall hupt es, aber schlussendlich warten alle schicksalsergeben. Es dauert zwanzig Minuten, bis ich hinunter fahre – und nochmal fünfzehn Minuten, bis ich dort unten einen Parkplatz finde. Denn es darf mitnichten nur jemand reinfahren, wenn jemand rausfährt; der gelbe Mann regelt alles nach Gefühl, und wenn kein Parkplatz frei, man aber drin ist, muss man so lange durch die Etagen fahren, bis irgendwo jemand rausfährt.

Die Straßen sind voll von Menschen: Touristen, aber vor allem Italienier und Italienerinnen. Die Stadt summt und brummt. Von überallher ertönt Musik, Gesang und Klavierspiel, Gitarristen und Flötisten. Auf der Piazza Maggiore sitzen die Menschen auf der Treppe der Basilica di San Petronio, unter den Arkaden der Stadt stehen hunderte und tausende von Tischen. Alle sind besetzt.

Piazza Maggiore im Panorama

Die Arkaden – von ihnen gibt es vierzig Kilometer in der Stadt, breit und prachtvoll, schmal und gedrungen, mit namhaften Geschäften oder kleinen Kaschemmen, die meisten voll mit Tabaccherien, Bars und Imbissen, mit Läden, die ein Sammelsurium von allem verkaufen. Im Universitätsviertel reiht sich Tür an Tür. Sie führen zu Instituten, in Bibliotheken und in Dekanate.

Die Università di Bologna ist die älteste Universität Eurpoas und vielleicht sogar die älteste der Welt, gegründet im 11. Jahrhundert. Berühmte Studierende waren Nicolaus Copermicus, Albrecht Dürer, Paracelsus, Francesco Petrarca und Erasmus von Rotterdamm. Bemerkenswert: Seit der Gründung sind Frauen an der Universität zugelassen; leicht hatten sie es allerdings nicht. Heute studieren hier mehr als 81.000 Menschen. Auch ihretwegen ist die Stadt so lebendig.

Ich besuche den Palazzo Poggi. In ihm befindet sich der Sitz der Universität und das Museo di Palazzo Poggi mit seiner wissenschaftlichen Sammlung aus dem 18. Jahrhundert.

Ich höre zum ersten Mal von Ulisse Aldrovandi, einem Arzt und Biologen. Von 1571 bis 1600 bekleidete er den Lehrstuhl für Medizin, machte Exkursionen und legte ein Herbarium und ein Naturalienkabinett an. Im Palazzo Poggi ist seine Sammlung ausgestellt, darunter hunderte von Druckplatten mit Pflanzen, Vögeln und anderen Dingen. Sie sind die Grundlage seines Werkes in 17 Bänden, das in der Bibliothek der Universität aufbewahrt wird, aufwändig aquarelliert.

Ein paar Zimmer weiter: Anna Morandi Manzolini und ihr Mann Giovanni.

Wachsfiguren von Giovanni und Anna Morandi Manzolini

Anna Morandi, geboren 1714, und ihr Mann schufen anatomische Wachsmodelle und entwickelten neue Seziertechniken. Unter anderem formten sie 170 Modelle von weiblichen Fortflanzungsorganen und dem Uterus in den verschiedenen Phasen der Schwangerschaft. Sie wurden in der Ausbildung von Hebammen eingesetzt.

Schaukasten mit offenen Uteri, darin Kinder in verschiedenen Lagen

Nachdem ihr Mann an Tuberkulose gestorben war, führte Anna die Werkstatt alleine weiter. Obwohl sie selbst nicht studiert hatte, hatte sie einen exzellenten Ruf als Anatomin, verfasste theoretische Schriften und erhielt Angebote von internationalen Universitäten und Akademien. Damit sie in Bologna blieb, zahlte der Papst höchstselbst ihr schlussendlich ein jährliches Gehalt auf Lebenszeit. Dennoch erhielt sie deutlich weniger Geld als ihre männlichen Kollegen und hatte Mühe, ihren zwei Söhnen – nur zwei ihrer acht Kinder erreichten das Erwachsenenalter – Unterhalt und Ausbildung zu bezahlen.

Anatomiausstellung mit Wachsfiguren, Organen und Körperteilen

Im Palazzo Poggi gibt es neben den biologischen und anatomischen Sammlungen Bücher, Landkarten und Globen zu sehen, Schiffsmodelle und Militärarchitektur. Nautik und Kartographie waren relevante Wissenschaften: Die Welt war vor 300 Jahren noch nicht komplett erkundet.

Globus und Bücherschränke

Ebenso beeindruckend wie die Wissenschaft sind die Kirchen von Bologna.

Die Basilica San Petronio ist hoch, sehr hoch. Es sind gewaltige Dimensionen, die sich mir eröffnen, als ich durch die Pforte trete. Ich lese später nach, dass San Petronio die fünftgrößte Kirche der Welt ist, Gewölbehöhe 45 Meter, und die größte Backsteinkirche überhaupt: Die Basilica verfügt über mehr als 250.000 Kubikmeter umbauten Raum. Über Jahrhunderte wurden an ihr gebaut.

Aber auch die Kathedrale von Bolgna ist nicht übel: majestätischer Barock, dazu Orgelspiel.

Panoramaaufnahme einer Barockkirche

Bologna hat die Beinamen La Dotta, La Grassa und La Rossa: die Gelehrte, die Fette und die Rote. Rot wegen der vorherrschenden Farbe in der Stadt, gelehrt wegen der Wissenschaften und fett – der Grund ist unübersehbar, wenn man von der Piazza Maggiore in eine der Seitenstraßen einbiegt, in der sich die Geschäfte mit den Lebensmittel aneinanderreihen, nur unterbrochen von Bars, Restaurants und Haushaltswarenläden. Mit jedem Schritt riecht es anders: hier nach Fisch und dort nach Brot, links nach Fleisch und rechts nach Kaffee, weiter vorne nach Käse.

Die Schinken hängen schwer in den Schaufenstern. Das Brot stapelt sich. Gläser mit Sugo werden ausgestellt. Hände greifen in Körbe mit Pasta, um sie abzuwiegen für die Kundschaft – und überall Menschen. Sie drängen sich durch die Gassen, stehen Schlange in den Läden, probieren und kaufen ein. Das ist hier alles kein Schauspiel, keine Ausstellung für Touristen; hier wird konsumiert und degustiert, hier wird genossen und später zu Hause gekocht.

Aber erst gibt es noch einen caffè.

Espresso und Cola mit Buch und Blick auf die italienische Stadt

Eataly | In Bologna gibt es einen Freizeitpark – für Essen. Das verwundert nicht in einer Stadt, in der ganze Straßenzüge sich nur mit Essen beschäftigen – und in einem Land, in dem Quizshows produziert werden, die sich den Namen von Gerichten und Kochtechniken widmen.

Ich fahre in diesen Park, eine Mischung aus Messe, Supermarkt, Fressmeile und Phantasialand. Vor der Tür hockt ein Truthahn auf dem Zaun. Er weiß nicht, dass im Gebäude seine Kameraden auf Paninis gereicht werden. Zwei Meter weiter streicheln Kinder Kühe. Ihre Eltern stehen daneben und denken an Mozzarella und Schmortopf.

Ich trete ein. Man kann auf Bonbons wippen, eine Maccheroni-Rutsche hinunterrutschen und auf mit Pudding gefüllten Hörnchen reiten. Und man kann essen, die ganze italienische Speisekarte rauf und runter.

Karussel mit Süßwaren, auf denen man reiten kann

Die Kinder, sie sind hier gut aufgehoben, nicht nur auf dem Cornetto. Neben dem Stand mit den Arrosticini gibt es das Urlometro, das Schrei-o-Meter, in das man hineinschreit – je lauter, desto mehr Lampen leuchten. Das Urlometro entfesselt Kräfte. Kinder brüllen mit hochrotem Kopf in den Gramophontrichter, bis er sich blau färbt.

Daneben und auch sonst überall sitzen Menschen und essen. Es gibt ein reines Eintrittsticket, außerdem ein Ticket Ingresso + Degustatzioni, Eintritt und viermal Probieren, Kinder bis 90 Zentimeter gratis. Ich glaube, das haben hier alle außer mir.

Irgendwo zwischen der Mortadellawelt und dem Balsamico Village, auf dem Weg vom Pasta-Karussell zur Olivenölpresse, muss der Zustieg zum Huhn sein. Das Huhn hat vier Sitze, und man kann mit ihm Wilde-Maus-mäßig hoch oben durch die Halle fahren. Ich bin sehr in der Stimmung, dies zu tun, bin dann aber abgelenkt von einem begehbaren Parmesan. Der Parmesan erinnert an Darmkrebsaufklärung in der Innenstadt, ein gelbes Röhrensystem mit Löchern und Polypen. Familien wandern hindurch und spielen fangen.

Beim Rausgehen sehe ich, dass der Zustieg zum Huhn in der Luna Farm ist. Aber jetzt habe ich keine Lust mehr. Ich habe Einkäufe am Arm, Pasta und Sugo, Risotto und Tomatencreme. Ich habe zehn Euro Eintritt gezahlt, um fünfzig Euro für italienische Lebensmittel auszugeben. Aber egal, ich habe die ersten Weihnachtsgeschenke und überhaupt: Es war ein Erlebnis.


Herbstsommerwehmut | Ich stelle fest, dass fast schon November ist, wenn ich nach Hause kommt. Jedenfalls wird heftig Herbst sein nördlich der Alpen. Das wird unerfreulich, auch wenn natürlich auch hier in Italien Herbst ist. Aber es ist ein anderer Herbst, ein weniger herbstiger Herbst. Es ist ein Sommerherbst mit goldenen Blättern und T-Shirt.



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