Leute | Bevor ich Sie erneut mit einem Bergpanorama belästige, einige Bemerknisse zu den Umständen, unter denen ich in Südtirol residierte.
Die Urlaubsplanung verläuft bei uns so: Wir einigen uns grundsätzlich auf die Art des Urlaubs (Wanderurlaub, Fahrradreise, Pool & Entdecken etc.) und eventuell auf die Region, im konkreten Fall Südtirol. Der Reiseleiter erfragt dann im Sinne eines guten Projektmanagaments die Requirements & Constraints, also die Anforderungen an einen zufriedenstellenden Urlaub und die Einschränkungen, denen wir unterliegen. Die Anforderungen an den Südtirol-Urlaub waren: Wellness, Wandergebiete und leckeres Essen, entweder im Hotel oder durch fußläufig erreichbare, kulinarische Infrastruktur. Einschränkungen: per Bahn erreichbar, Nähe zu öffentlichen Verkehrsmitteln.
Der Reiseleiter fand unser Hotel mit Pool und Saunalandschaft, mit der Almencard für die kostenlose Nutzung des Südtiroler ÖPNV und mit Dreiviertelpension, also mit Frühstück, Nachmittagsjause und abendlichem 4-Gänge-Menü. Wir buchten.
Die Wahl stellte sich als hervorragend heraus. Das ist aber nicht das, was ich erzählen möchte. Es ist nur relevant für den Kontext. Wir hatten also dieses Hotel gebucht, für elf Nächte. Elf Morgende und Abende lang saßen wir beim Essen am selben Tisch. Das hatte hotelorganisatorische Gründe und brachte eine interessante Perspektive mit sich: Alle – ja, tatsächlich alle – Menschen blieben nur zwei, drei oder vier Tage, wir hingegen blieben die gleichen. Wir entwickelten ein Angela-Merkel- und Wolfang-Schäuble-Gefühl: Während wir an unseren Sesseln klebten und Knödel aßen, wechselte beständig das Kabinett.
Für vier Tage war zum Beispiel der Schnitzelmann Teil des Geschehens: Anstatt es seiner Begleiterin gleichzutun und seine Hauptspeise aus drei wohlkomponierten Gerichten zu wählen – Fisch, Fleisch oder vegetarisch, moderne Interpretationen Tiroler Küche – aß er jeden Abend SchniPo: Schnitzel und Pommes. Ich bewunderte ihn für seinen unterschütterlichen Mut zur Adilette.
Am Fenster für drei Tage ein Pärchen, er Baggy-Jeans und eine 80er-Jahre-Aviator-Brille (ich musste die modische Bezeichnung wieder nachschlagen, #bildungsblog), sie mit Wuscheldutt auf dem Kopf, weite Wolpullis. Sie unterhielten sich allabendlich; ich verstand nicht, was gesprochen wurde, hörte nur die Tonalität: Ihre Stimme problemschwer, ins Nörgelige driftend, er beschwichtigend, manchmal seufzend.
Für nur einen Abend saß ein schwules Pärchen neben uns: Er, zwei Meter groß und dünn wie eine Zaunlatte, sein Partner nur knapp einssechzig und ebenso schlank. Sie kamen spät, frühstückten nur einen Espresso, schwiegen sich an und waren wieder fort.
Für zwei Abende war ein Pärchen da, hetero, er drahtig und weißhaarig, Typ Marathon laufender Orthopäde, sie deutlich jünger, vielleicht die Geliebte. Er feierte seinen Geburtstag nach und bekam eine Torte vom Haus, sie erzählte allen, wonach niemand gefragt hatte: dem Reiseanlass („Wir sehen uns nicht oft und gönnen uns ein Wochenende“), von ihrer beruflichen Erfahrung im Tourismus („Ich habe ja auch eine zeitlang in der Hotelerie gearbeitet“), den Ernährungsgewohnheiten (er viele Meeresfrüchte, sie abends nur Rohkost) und ihrem Sportprogramm („Ich jogge viermal in der Woche“). Wir aßen mit Käse gefüllte Knödel.
Während wir dort waren, kamen außerdem drei Busgesellschaften, ebenfalls nur für wenige Tage. Sie kamen jeweils abends an. Das Servicepersonal war gerüstet, lotste zu den Plätzen und durch die vier Gänge. Am darauffolgenden Morgen jedoch, am Frühstücksbuffet, waren die Leute auf sich allein gestellt: Selbstbedienung. Beobachtung: Je mehr Leute, desto mehr stützen sie sich in ihrer Desorientierung: „Der Kaffee …?“ – „Hier drüben.“ – „Nein, nicht hier. Dort. schauen Sie mal, da ist ein Automat.“ – „Aber …“ – „Ach ja, doch nicht.“ – „Woher haben Sie das Spiegelei?“ – „Dort drüben.“ – „Wo?“ – „Da.“ – „Nein.“ – …
Bergpanorama | Jetzt aber endlich schöne Aussicht: die Fane Alm.
Der Reiseleiter näherte sich der Alm von oben, ich von unten.
Weil ich am Morgen noch fürchterlich müde war und allgemeine Schlaffheit verspürte, wollte ich keine lange Wanderung machen und legte mich noch einmal hin. Der Reiseleiter, ein Mann voller Tatendrang, schnallte sich hingegen den Rucksack auf, stieg in den Bus nach Vals und begab sich auf eine Höhenwanderung. Abmachung: Wir treffen uns auf der Fane Alm.
Zwei Stunden später erwachte ich, fuhr mit dem Auto zu einem Wanderparkplatz und erklomm von dort die Serpentinen zur Alm, ein Weg von eineinviertel Stunde; dafür hatte ich gerade noch Kraft. Auf der Alm wartete bereits der Reiseleiter vor einer heißen Zitrone auf mich.
Nachdem wir gemeinsam abgestiegen waren, die Erkenntnis: Ich war mehr Höhenmeter gestiegen als er. Sein Aufstieg bestand aus mehr Bergbahn als Bergmarsch. Na sowas.
Das Ufo | An einem Tag spazierten wir in Meransen umher, ein kleiner Ort oberhalb unseres Quartiers in Mühlbach, Rio di Pusteria. Auf einem Hügel thront ein schwarzes, ovales Objekt. Es nennt sich familiamus, Zitat: „ein Ort für Familien und Kinder in all ihren Formen und Facetten“.
Weniger relevant als die Formen und Facetten scheinen mir die vorhandenen finanziellen Mittel: Die Nacht im Familienzimmer „Happiness“ kostet 310 Euro. Pro Person. Für eine Woche im „magischen Familienreich“ mit „Schatzsuche zu eurem eigenen Ich“ würden wir mit den drei Reiseleiter-Kindern also 7.385 Euro bezahlen. Inklusivleistungen sind unter anderem eine „Snackbar mit raffiniertem Obst- und Gemüse-Fingerfood“ (hier kindliche Würge-Geräusche einfügen) und „Kind- und Jugendprogramme mit Berücksichtigung individueller Entwicklungsbedürfnisse“. Die private Reitstunde ist allerdings – Obacht, Pferdefreunde! – nicht enthalten.
Ich lasse Sie damit mal allein. Wenn Sie sich spontan entscheiden und noch für den aktuellen Monat buchen, ist ein Kind inklusive. Das zeigt die Website aber bei der Preisberechnung nicht an, ein kleiner Fauxpas. Da müssten Sie dann mal nachhaken.
Seespaziergang | Am letzten Tag in Südtirol war es uns zu kalt für große Höhen. Wir fuhren nach Toblach und liefen einmal um den Toblacher See.
Toblach ist eine Wasserscheide von europäischer Bedeutung: Die Rienz fließt dort in Richtung Westen und mündet über Eisack und Etsch in der Adria. Die Drau fließt nach Osten, dort in die Donau und ins Schwarze Meer.
MMM | Die Almencard, die wir vom Hotel bekamen, erlaubte nicht nur die Nutzung des Nahverkehrs, sondern auch den kostenlosen Besuch eines Museums. Nach einer Woche bekamen wir eine neue Almencard und konnten ein zweites Museum besuchen. Wir entschieden uns für zwei Standorte des Messner Mountain Museums (MMM): Das MMM Corones auf dem Gipfelplateau des Kronplatzes widmet sich der Geschichte des Bergsteigens. Das MMM Ripa zeigt eine Ausstellung über die Bergvölker der Welt.
Das MMM Corones, Architektur von Zaha Hadid hat beeindruckende Räume: parallele Gänge im Hang, abfallende Wege, verborgene Ecken, Aussichten.
Das MMM Ripa auf der Burg Bruneck: historische Mauern und ein interessanter Einblick in das Leben von Bergvölkern auf allen Kontinenden – mit überraschenden Parallelen.
Die Initialkosten für das Messner Mountain Museum, 30 Millionen Euro, haben zur Hälfte das Land Südtirol und Reinhold Messner getragen. Das Land finanzierte den Ausbau der alten Gemäuer, während Messer sich dazu verpflichtete, seine Austellung für die nächsten 30 Jahre aufrecht zu erhalten, auf eigene Kosten (Wikipedia).
Gelesen | Der Guardian beschäftigt sich mit der Deutschen Bahn: It’s the same daily misery: Germany’s terrible trains are no joke for a nation built on efficiency Dazu passt ein – Oldie, but Goldie – Cicero-Artikel aus dem Jahr 2019.
Gelesen | Frau Novemberregen beschreibt ihren Umgang mit Teenagerleichtsinn.
Gelesen | Fabio Volo: La vita nuova. Paolo ist ein Mann mittleren Alters: Verheiratet, ein Kind, die Ehe kriselt, seine Eltern werden pflegebedürftig. Sein Freund Andrea ist ein Lebemann: Nach wechselnden Beziehungen hat er nun zwar schon länger eine Beziehung, er lebt aber weiterhin in einer eigenen Wohnung und nimmt alles nicht so ernst. In einem alten Fiat 850 Spider fahren die beiden durch Italien, um Paolos Vater mit dem Wagen zu überraschen. Eine Roadstory mit Männergesprächen, spontanen Halten und einer Entwicklung. Leichte Lektüre, aber nicht flach. Gerne gelesen.
Kommentare
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Danke für’s Mitnehmen – und für Ihre Beobachtungs- und Formuliergabe („Typ Marathon laufender Orthopäde“ – herrlich)
Und das Bild von der Alm kann ich riechen (Käse) und hören (Kuhglocken) – also doch mal wieder Urlaub in den Bergen nötig.
Ist ein Wuscheldutt ein messy bun? Oder noch was Anderes?