„So ist das halt: Mal biste der Hund, mal biste der Baum.“
Sagte zuletzt ein Arbeitskollege, achselzuckend.
Seit heute ist es gewiss: Das Leben wiederholt sich tatsächlich in spiegelverkehrten Szenen. Im Beruf. In der Liebe.
Und im Nettoghetto mit dem Thema „Wirsing„.
Am Gemüsestand.
Typ: Is dat Wirsing?
Nessy: Nee, das ist Chinakohl.
Typ: Und das?
Nessy: Das ist Lollo bionda. Nimm den hier. [deutet auf Wirsing]
Typ: Jau. Danke.
In der Kassenschlange.
Typ: Du arbeitest gar nicht hier?
Nessy: Nee.
Typ: Machste aber gut.
Nessy: Deshalb ja.
Alle Crosstrainer sind besetzt.
Es ist Sonntag, der erste wache Moment nach dem Neujahrskoma und offizieller Beginn guter Vorsätze. Ich betrete die Trainingsfläche und sehe sofort, wer zum ersten Mal hier ist.
Die Männer, in der Mitte leicht untersetzt, sind oftmals nicht einmal dick, aber auf eine Weise nicht trainiert, dass ihre Schultern herabhängen und ihre dünnen, weißen Beine wie brüchige Äste aus abgetragenen Shorts staken. Sie werfen sich mit ungestümem Elan auf die Laufbänder, stellen Programme wie „Cross Hill“ oder „Himmalaya“ ein, rennen los und schnaufen sich schweißdurchtränkt durch eine schmerzhafte halbe Stunde. Andere wiederum, diejenigen, die den Nanga Parbat bereits bestiegen haben, sitzen gebeugt, ihr Baumwollshirt ein nasser Lappen, in den Kraftmaschinen und stemmem unter vernehmlichem Ächzen tonnenschwere Scheiben.
Frauen betreten nur zu Zweit die Trainingsfläche, angetan mit Yogahosen aus dem Tchibokatalog und auch sonst ausstaffiert mit allem, was notwendig ist: Fitnessschuhe, Schweißbänder und Klimashirts mit Stützfunktion. Zunächst bewundern sie sich gegenseitig, dann die Trainingsfläche, die vielen Fernseher, den ganzen saubergefeudelten Sportkosmos, der Körper- und Wohlgefühl atmet. Ein wenig stehen sie herum, als warteten sie, dass der Sportsgeist sie schwängere. Dann nehmen sie sich einen der Stepper vor, studieren das Display, drücken Knöpfe, beratschlagen sich, drücken weitere Knöpfe und legen los, vorsichtig, sie möchten nichts kaputtmachen, nicht an der Maschine und nicht an sich selbst. Mit der Verve der Hellgelben Erdhummel, ein wenig taumelnd, aber grundsätzlich fröhlich, hüpfen sie durch das Programm, unterhalten sich angeregt und kichern über den Herrn unter dem Eurosport-Fernseher, der schweißspritzend und armrudernd die letzten Meter der Rupalwand hinaufrennt.
Beim Hinausgehen sehe ich ihn an der Theke sitzen, einen Eiweißshake in der zitternden Hand. „… in einer halben Stunde …“, sagt er in sein Handy, „ja … nein, war super … nö, nö, nicht so anstrengend … ja … ja … für mich nicht so viele Kartoffeln …“
Die Damen sind noch in der Sauna.
Zuletzt gelesen in 2010:
Kluun. Mitten ins Gesicht
Ein Mann begleitet seine Frau durch die Krebskrankheit – bis zum Tod. Erst denke ich: Himmel, was ein pubertäres Arschloch. Am Ende habe ich geheult. Das emotional stärkste Buch des Jahres 2010.
Tom Rachmann. Die Unperfekten
Die Geschichte vom Niedergang einer internationalen Zeitung in Rom. Ein Sammlung kleiner Erzählungen über den Korrespondenten, den Nachruf-Schreiber, die Chefredakteurin, den Verleger – und eine Handvoll weiterer Akteure. Dicht, menschlich, eindringlich, überraschend, desillusionierend. Das eindeutig beste Buch des Jahres 2010.
Robert Seethaler. Die weiteren Aussichten
Ein Mann, sein Fisch und seine Mutter. Dann tritt Hilde in sein Leben. Eines der schlechtesten Bücher des Jahres 2010: Eine Geschichte, die nicht trägt, und ein Erzählstil, der nicht über Hauptsätze hinauskommt.
Vorsätze für das I. Quartal 2011:
Aktuelles Projekt:
„Ich dachte damals auch, wenn man reise, bis man irgendwo einmal das Ende der Welt berührt zu haben glaubt, dann erreicht man vielleicht auch einen neuen, andersartigen Zustand des Ankommens. (…) Könnte es nicht sein, dass nicht die Reisenden sich bewegen, sondern dass vielmehr die Welt unter ihren Füßen Fahrt aufnimmt, und sie sich gleich bleiben?“
Dieses Buch lese ich mit einem Bleistift in der Hand, denn es ist ein poetisches Werk voller Sätze, die ich gerne anstreichen möchte. Eigentlich ist mir Roger Willemsen niemals groß aufgefallen, nicht positiv, nicht negativ, es gibt ihn einfach und er macht sein Ding. Während ich jedoch dieses Buch lese, hege ich den Wunsch, die Reisen gemeinsam mit ihm unternommen zu haben, so passioniert, aber auch so gelassen berichtet er von seinen Enden der Welt.
Weil es so gut zum Jahreswechsel passt, ein zweites Zitat:
„Während ich ihn beobachte, die Augen ohne Reflex, die bewegungsarme Mimik und Gestik, das verhuschte Lächeln, das sich in seinem Gesicht verläuft und irgendwo versickert, denke ich:
Alle Fragen haben es zur Antwort gleich weit.“
Einen guten Start ins neue Jahr.
Am beliebtesten ist ja der Vorsatz: Ich will abnehmen.
Besonders unter Frauen. Und dabei besonders unter jenen Frauen, die nichts mehr abzunehmen haben, die nur meinen, sie trügen, auch wenn sie nichts mehr tragen, Reiterhosen – die jetzt auch endlich ausgezogen werden müssen.
Wissen Sie, ich bin nicht unförmig. Nicht, wenn Sie Unförmigkeit als eine völlige Konturenlosigkeit, als ein Überschwappen aus dem eigenen Körper definieren. Bei mir ist alles am Platz. Es hängt vielleicht etwas tief, aber herrgott, immerhin hängt es noch, stolz und leidlich straff, und baumelt noch nicht wie eine Mandarine im Strumpf.
Ich bin also soweit okay, nur, kämen schlechte Zeiten, könnte ich mich eine Weile aus mich selbst heraus ernähren. Ich wäre für zwei Monate mein eigenes Futtersilo. Das hat etwas für sich, denn, sehen wir es einmal so: Selbst wenn ich wollte – ich könnte meine Kekse in dem Fall gar nicht mit anderen teilen.
Deshalb habe ich zum kommenden Jahreswechsel keine Vorsätze.
Auch nicht, abzunehmen.
Ich könnte mir ein Haustier anschaffen.
Damit sich jemand auf mich freut, wenn ich heim komme.
Großtiere kommen allerdings nicht in Frage. Sie fressen zu viel, und wenn sie erkranken, dann an Riesentumoren, die Tierarztkosten im Umfang eines Einfamilienhauses verursachen.
Vielleicht ein Hund, ein kleiner. Mit dem ich gut in die Ecken komme. Allerdings: dieses Unterwürfige. Und das Gassigehen – hier in der Stadt mit Plastiktüte, um die Häufchen einzupacken und sie bis zum nächsten Papierkorb rhythmisch neben dem Körper zu schlenkern. Das kommt nicht in Frage.
Vielleicht eine Katze. Katzen sind reinlich. Aber ich könnte sie nicht hinaus schicken, in den Wald, zum Spielen und Toben. Denn hier gibt es keinen Wald. Hier ist Ruhrgebiet-City. Hier gibt es nicht einmal einen Baum. Vielleicht einen Kratzbaum, in meiner Wohnung – den könnte ich ihr kaufen. Aber Menschen, die Kratzbäume gestalten, gestalten auch Zimmerspringbrunnen und Porzellanbabypuppen. Ein Design-Armageddon.
Vielleicht ein Fisch. Na gut – so ein Fisch ist natürlich wenig empathisch, gibt nicht so viel zurück. Ein Fisch ist auch eher ein Einmalkuschler: einmal liebevoll beim DVD-Abend bekuschelt, in trauter Zweisamkeit auf dem Sofa, macht er gleich den Schirm zu, der kleine Asthmatiker. Aber es gibt Steine, die man ins Aquarium legt und die über Wochen Futter abgeben. Braucht man sonst nix machen. Tolle Sache.
„Ich hatte auch mal ein Haustier“, erzählt die Freundin. „Damals, als ich noch nicht mit Ette zusammen war. Ein Meerschwein. Als es dann starb, habe ich eine Woche später gleich einen Typen kennengelernt.“
Ich brauche also ein kurzlebiges Tier.
Hausmaus. Fliege.
Genau. Das isses.
Ich sitze bei Unsaomma im Besucherstuhl.
Die Heizung bollert und gluckert und faucht. Die Blätter des Drachenbaums, der sich mit spirreligen Ästchen über die Brüstung der Fensterbank lehnt, flattern in der aufsteigenden Hitze. Die Weihnachtspyramide daneben dreht wilde Kreisel – ohne dass eine Kerze brennt.
„Is‘ kalt hier, woll?“ fragt Unsaomma.
„Nee“, sage ich.
„Was?“
„Es ist sehr warm.“
„Was?“
„Warm! Hier!“
Unsaomma klemmt, ein bisschen frostig, ein bisschen trotzig, ihre Hände unter den Achseln fest und lässt ihren Kopf auf die Brust sinken. Es ist 16 Uhr, und zuvor war schon die Tante zu Besuch. Ein Tag ohne Mittagsschlaf ist für Unsaomma ein schlechter Tag.
Ich lasse meinen Blick über die Fotos an den Wänden schweifen. Die Familie versammelt sich in trauter Reihung. Neben dem Nachtschrank der kleine Enkel, damals eine raupenhafte Frühgeburt von 1000 Gramm. Daneben der Onkel mit nie wieder erlangter, hendrix-hafter Lockenpracht. Daneben die Schwiegertochter mit ihrem Bordercollie „Giselle“, man kann die Zwei kaum auseinanderhalten. Daneben ich, ein pausbäckiges Kleinkind vor einer braunmelierten Leinwand. Daneben – ich blicke zur Omma.
„Omma, gehören die jetzt zur Familie?“
„Was?“
„Ge-hö-ren die zur Fa-mi-li-e? Ne-ben mir!“ Ich deute mit dem Finger.
Dort hängen in einem goldenen Rahmen, inmitten der Verwandtschaft, zwischen der kleinen Nessy und dem Irokesencousin, als gehörten sie zur Schar der Enkelkinder dazu: Kronprinzessin Victoria und Prinz Daniel.
Unsaomma hebt den Kopf von der Brust, blickt zur Wand, blickt zu mir und sagt: „Ich hab‘ die doch so gern, woll.“
Bei uns zu Hause bringt das Christkind die Geschenke.
Nach dem Frühstück am Heiligen Abend brachen mein Vater und ich stets zu vorgeschobenen Erledigungen auf. Unter anderem besorgten wir Baguette für das abendliche Mahl und aßen danach in einer Pommesbude zu Mittag. Beides war eine Attraktion: mit meinem Vater einkaufen gehen und ungesunde Pommes essen – und deshalb schon für sich genommen ein Geschenk.
Wenn wir am frühen Nachmittag nach Hause zurückkehrten, waren wir bis zum Stehkragen voll mit Ketchup und Fritten (in dieser Reihenfolge) und das Wohnzimmer still, dunkel und abgeschlossen – damit das Christkind kommen konnte. Denn das Christkind kommt nur, wenn keiner guckt.
Für den Rest des Nachmittags saßen wir in meinem Kinderzimmer auf kleinen Stühlen, tranken Kaffee, aßen Plätzchen und spielten Spiele. Mein Vater schlief, der Schnitzelstarre erlegen, auf meinem Bett ein und schnarchte.
Als wir am Abend nach der Messe nach Hause kamen, verschwand meine Mutter sofort im Wohnzimmer, um dem Christkind beim Kerzenanzünden zu helfen. Der Rest der Familie musste draußen bleiben. Weil Durchs-Schlüsselloch-Gucken verboten war und Fehltritte streng geahndet wurden, saß ich in der angrenzenden Küche auf der Arbeitsplatte, baumelte nervös mit den Beinen und lauschte den Geräuschen hinter der Wohnzimmertür. Erst nach gefühlten 100 Minuten, wenn Mutter und das Christkind fertig waren, bimmelte ein Glöckchen, und wir durften eintreten. Ich war natürlich die erste an der Tür – und betrat das lichterglänzende Wohnzimmer doch mit Scheu und Ehrfurcht.
Bald erreichte ich ein Alter, in dem ich mir gewisse Fragen stellte:
Wie kam das Christkind Anfang Dezember an meinen Wunschzettel, den ich immer innen auf mein Fensterbrett legte?
(Mutter: „Es kann durch Glas fliegen.“)
Wie kam das Christkind an Heiligabend in unser Wohnzimmer?
(Mutter: „Ich lasse die Balkontür offen.“)
Wo es aber Anfang Dezember noch durch Glas fliegen konnte! Erster Widerspruch.
Wie kann es gleichzeitig so viele Kinder auf der Welt beliefern?
(Mutter: „Wegen der verschiedenen Zeitzonen auf der Erde muss es das nicht gleichzeitig machen.“)
Das klang schlüssig.
Warum kann das Christkind die Kerzen nicht alleine anzünden?
(Mutter: „Weil es noch ein Kind ist, und Kinder dürfen nicht mit Feuer spielen.“)
Na klar.
Warum dürfen nur Mütter dem Christkind helfen?
(Mutter: „Darum.“)
Das war verdächtig.
Nach Abwägen aller Widersprüche war Sherlock Nessy klar: Es gibt Ungereimtheiten in der Causa Christkind. Allerdings gibt es auch keine stichhaltigen Beweise für die Nicht-Existenz des Christkindes. Im Grunde gibt es sogar gute Gründe für das Christkind: Denn woher kommen die Geschenke, während wir in der Messe sind?
Bis ich acht oder neun war, glaubte ich ans Christkind. Daran konnten selbst meine Schulkameraden nichts ändern.
Mein Vater wünscht sich Herrentaschentücher. Aus Stoff.
„Eine lösbare Aufgabe“, denken Sie vielleicht.
Ich starte meine Suche bei Karstadt. Denn wenn Kaufhäuser einen Vorteil bieten, dann den, dass man in ihnen die abwegigsten Dinge kaufen kann. Einmal hin, alles drin. Sie wissen schon.
Mit Herrentaschentüchern im Kaufhaus verhält es sich wie mit Zitronensaftkonzentrat im Supermarkt: Sie ahnen, dass es ganz bestimmt vorhanden ist – aber wo könnte es sein? Sie können es beim Saft suchen. Oder beim Obst. Oder bei den Backwaren.
Wo vermuten Sie Herrentaschentücher? Bei den Handtüchern? Bei den Krawatten? Bei den Socken?
Bei den Handtüchern (3. Etage) schickt man mich zu den Schals (Erdgeschoss). Bei den Schals (Erdgeschoss) zu den Krawatten (1. Etage). Bei den Krawatten (1. Etage) zu den Hüten (Erdgeschoss). Und bei den Hüten in den Netto, „dort hamse sowatt im Angebot, hab‘ ich heute morgen im Prospekt gesehen“. Neben den Gürteln (Erdgeschoss) finde ich schlussendlich, was ich suche, aber: für Damen – mit gestickten Rosen und dem Schriftzug „Madame“.
Nee, denke ich. Das geht nicht. Nicht für Vattern.
Also raus dem Laden. Rein in den nächsten. In den nächsten. Und in den nächsten. Bis ich welche finde. Bei Chic & Adrett. Neben den Gürteln.
Sollten Sie also jemals Herrentaschentücher suchen, schauen Sie nicht bei Handtüchern. Auch nicht bei Krawatten. Oder bei Socken. Schauen Sie bei Gürteln. Das ist doch eigentlich auch logisch.
Geht dem Leben mit der Zeit die Leidenschaft verloren?
Früher war das Sein verzaubert. Früher hatte ich Ehrgeiz zu gewinnen. Früher hatte ich das Talent, mich zu verlieben, von jetzt auf gleich.
Heute lebe ich ohne Aufgeregtheit. Heute möchte ich nicht mehr unbedingt gewinnen. Heute verliebe ich mich nicht einfach, nicht beim ersten und auch nicht beim zweiten Blick.
Ist das nun die allseits gepriesene Gelassenheit, die, zugegeben, vieles einfacher macht – aber auch weniger intensiv? Sind es Enttäuschungen, die zur Vorsicht mahnen? Oder ist es, und das ist der schlimmste Gedanke, eine unumstößliche Desillusion, die im schlechtesten Fall in Verbitterung endet und im besten nur das Leben entzaubert?


