Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

ICE 544 Hannover – Köln.
Der Abend dämmert durch die Seitenscheiben.

Mein reservierter Platz ist besetzt. Ein ergrautes Pärchen enttuppert dort grad Frikadellen. Ich trete an die Zwei heran, und sie stöhnen leise auf. Sie seien eine Reisegruppe, erklärt er seufzend und wie es sich anhört zum zehnten Mal. Der gesamte Waggon gehöre ihnen – nur habe die Deutsche Bahn das verpeilt.

Ich blicke mich um. Tatsächlich: Zwischen blauen Polstersesseln wogt ein Meer von Silberkugeln. Kleine Rentner auf großer Fahrt. Ich überlege, wo ich nun hingehen soll, als ein gebeugter Alter auf mich zukommt und meine Hand nimmt. „Kommense, junge Frau“, sagt er, „hier hinten is‘ noch’n Plätzchen für Sie frei.“ Er zieht mich zu einer Siebzigerin mit zwei Hörgeräten. „Reni!“ brüllt er sie an. „Rück! Mal! Durch!“ Reni schiebt sich auf den Sitz am Fenster.

Der Zug fährt an, und meine Nachbarin packt eine Tüte Knisterndes aus. Reni ist leicht füllig. Ein Gürtel unter ihrem Busen hält ein geblümtes Kleid an seinem Platz. „Willst du auch ein Kuhbonbon?“, fragt sie, schaut mich an und hält mir die Tüte hin. Ich bedanke mich und greife zu. Aus Richtung des Frikadellenpaares wandert eine Packung Gummitiere durch die Reihen. Von rechts hält eine zittrige Hand Celebrations in den Gang. Es fühlt sich an wie Klassenfahrt, nur ohne Pickel und aufgepustete Kondome.

Plötzlich fiept ein Wecker. Es ist 18.45 Uhr, und Stakkatotöne hallen durch den Waggon. Die Silberkugeln recken die Köpfe.

„Aufstehen! Viertel vor sieben!“, ruft einer. Ein anderer: „Fritz! Zeit, deine künstliche Blase zu leeren!“ Die Männer lachen, die Frauen kichern juchzend.

„Wo kommt das her?“, fragt jemand. Alle sehen ihren Nachbarn an. Dann schauen sie hoch zu ihren Koffern. Das Geräusch verstummt.

Die Gruppe sammelt sich wieder.

Sechs Minuten später erneutes Fiepen. „Los, Fritz! Wasserlassen!“ Gelächter brandet auf. Man beschließt, an einzelnen Koffern zu horchen und den Wecker zu suchen. „Das muss Friedhelm machen“, sagt einer, „er hat als einziger von uns noch kein Hörgerät.“ Wieder lachen alle. Friedhelm steht auf  und legt sein Ohr an den ersten Koffer. Wieder verstummt das Fiepen. Alle warten auf den nächsten Einsatz.

Um 19.35 Uhr reißt Friedhelm einen schwarzen Samsonite aus dem Gepäckfach, kramt durch die Leibwäsche und hält mit der rechten Hand ein kleines, schwarzes Viereck hoch. Die linke ballt er zur Faust, als hätte er gerade einen Hirsch erlegt. Spontaner Applaus brandet auf. Die Damen kreischen vor Entzücken und heben ihre Kameras. Es blitzt mehrfach. Friedhelm wirft sich in seine dünne Brust.

Jemand stupst mich am Arm. „Willst du noch ein Bonbon?“, fragt Reni, „oder hier: TucTuc“, und schiebt eine gelbe Packung rüber. Dann fügt sie hinzu, als sei es die Erklärung für alles: „Wir waren im Bundestag.“

Wir kuscheln uns in unsere Sessel und knabbern Tuc; und Reni beginnt, von Berlin zu erzählen.

Wo wir grad beim Thema sind:

„Nessy, ich sag‘ dir, es gibt nur zwei Arten von Männern. Die Platzhirsche, die nur ficken wollen, und die Stinos. Die Stinos sind die Stinknormalen, die auch ficken wollen, aber nicht so scheiße dabei sind.

Dann gibt es noch eine Sonderkategorie. Ich sag‘ immer: ‚Die haben die Lampe an.‘ Das sind die, die eine ernsthafte Beziehung wollen. Stinos, die die Lampe anhaben, sind die Guten. Die Langweiligen, aber die Guten.

Ich erwische immer nur die Hirsche und suche wochenlang nach dem Schalter, mit dem das Licht angeht.“

(zitiert nach: Mädelsabend, 17. Mai 2011,
nach dem Prosecco)

Er ist ziemlich direkt.

„Na, wie wär’s mit uns Zweien heute Abend?“, fragt er, nachdem er sich neben mich auf die Bierbank hat plumpsen lassen. Er ist einer von diesen Männern zwischen 35 und 45, die in den vergangenen Jahren etwas angesetzt haben, aber nicht unattraktiv sind. Aus seinem Blick lese ich, dass er nicht bei Mondschein spazieren gehen will.

„Nee, lass mal“, sage ich.

Er legt seinen Arm um mich und kneift mich leicht in die Schulter. „Komm“, sagt er. Sein Atem riecht nach Exportbier und Chicken Wings. „Du hast doch im Moment keinen. Ich erzähl’s auch niemandem.“

Viel wichtiger wäre wohl, dass ich es niemandem erzähle. „Was ist denn mit deiner Frau?“, frage ich. „Ich dachte, du hättest Frau und Kind.“ Er überhört die Frage und gräbt an mir herum.

Nach einer Weile gibt er auf. Aber anstatt abzuhauen, holt er uns zwei Bier und zwei Tequila und packt sein Herz aus. Seine Kinder, sagt er, seien echt toll. Zwei Supersüße. „Wenn ich abends nach Hause komme und sie mir entgegen laufen – das ist das Größte.“ Nun ja, gibt er zu, er habe nicht unbedingt Kinder haben wollen. Aber seine Frau, die wollte unbedingt. Da hat er halt zugestimmt. „Deswegen ist es auch ihr Ding, nachts aufzustehen“, sagt er. „Aber sie macht das echt super. Sie ist wirklich die beste Mutter, die es für meine Kinder geben kann.“ Mit verklärtem Blick schaut er ins Nichts. Dann sieht er mich an. „Aber du bist auch geil. Bist halt ein ganz anderer Typ.“

Liebe Mittelstandsmänner mit Mittelstandsfamilie und Mittelstandsfrust, aber Marlboro-Mann-Träumen: Ich verrate Euch jetzt mal etwas.

Erstens: Eure Mischung aus Machismo, Underfuckedness und Verzweiflung törnt mich ab. Es wird auch nicht dadurch besser, dass Ihr Euch Mut antrinkt, damit ich genau diese Eigenschaften nicht bemerke.

Zweitens: Ihr seid nicht allein. Ich bin Euch in den vergangenen Monaten sechs- oder achtmal begegnet. Gründet doch bitte eine Selbsthilfegruppe – und arbeitet in Eurer Gruppe dringend zuerst Eure Eierlosigkeit auf, mit der Ihr Euch nicht für Eure Kinder entschieden habt.

Drittens: Es ist kein Zeichen von Größe, wenn Ihr einerseits Eurer Frau das Mutterkreuz an den Stillbusen monologisiert und andererseits jede Singlefrau mit ausreichend Arsch und Titten für so bedürftig haltet, dass sie unter der Kraft ausgerechnet Eurer Lenden noch heute abend ihren Garten Eden erleben soll. Es ist schon gar keine Größe, wenn Ihr Euch bei Misserfolg an den unangegrabbelten Brüsten dieses bedauernswerten Geschöpfs ausheult und am Ende des Abends, wenn schon das Licht angeht und die Kippen aufgekehrt werden, mit Dackelblick nuschelt: „Aber einen Kuss kriege ich doch, oder? Nur einen, ja?“

So. Und jetzt ab nach Hause.

„Freiheit
bedeutet nicht Unabhängigkeit.
Man ist immer von irgendwem oder irgendwas abhängig.
Freiheit bedeutet Furchtlosigkeit. Sich nicht zu fürchten,
ist die einzige Freiheit, die wir jemals erlangen können.“

(Edda in: Astrid Rosenfeld, Adams Erbe, S.160)

Ich habe länger über diese Sätze nachgedacht; und ich glaube, dass sie stimmen. Wir sind niemals unabhängig. Wir sind immer abhängig von äußeren Zwängen – mindestens aber von den Fähigkeiten, die uns gegeben wurden. Wenn wir aber furchtlos sind, können wir diese Abhängigkeiten vergessen und uns in dem Rahmen, den sie schaffen und der größer ist, als wir denken und uns eingestehen möchten, frei bewegen.

Was aber bedrückt uns, dass wir unsere Freiheit nicht nutzen?

Es ist die Furcht loszulassen. Die Furcht, enttäuscht zu werden. Die Furcht, weniger zu gewinnen als zu verlieren. Die Furcht vor dem Alleinsein. Die Furcht, unseren eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden – und die Erwartungen Dritter nicht zu erfüllen. Die Furcht, ein Tal zu durchschreiten, um zum nächsten Gipfel zu gelangen. Die Furcht vor dem Schmerz. Die Furcht vor unserem eigenen Mut. Die Furcht, uns selbst in die Augen zu sehen. Denn jede Änderung, die wir in unserem Leben herbeiführen, ist eine Konfrontation mit dem eigenen Ich: Wir befragen uns, wer wir sind und was wir wollen, gestehen uns unsere Fehler ein und blicken unseren Schwächen ins Auge.

Auch ich fürchte mich und kann nicht loslassen. Während der Kopf nach vorne schaut, blickt das Herz zurück – und fürchtet sich davor, Vertrautes zurück- und Neues zuzulassen.

Mein Büro ist ein Zentrum der Wertschöpfung.

Besonders, was die Finanzierung meines Lebens durch Pfandflaschen angeht. Kaum schaue ich ein paar Tage nicht hin, vermehren sie sich unkontrolliert. Eine offensichtlich verbreitetes Mysterium – zumal im Foyer meines Arbeitgebers ein Getränkeautomat steht.

Der Arbeitgeber hat das Problem erkannt und steuert nun mit einem Pfandautomaten dagegen. Dieser nimmt allerdings, obwohl anders konzipiert, jede Flasche nur einzeln an. Nach jeder Flasche zahlt er 15 Cent aus, in Fünf-Cent-Stücken. Bei zehn Flaschen sind das 1,50 Euro oder 30 Fünf-Cent-Stücke. Das macht nicht nur die Geldbörse dick wie Guilia Siegels Dinger. Man wird die Münzen auch schwierig wieder los.

Gehen Sie mal in eine Bäckerei, kaufen Sie zwei Brötchen und bezahlen Sie mit Fünf-Cent-Stücken. Die Leute hinter Ihnen revidieren unverzüglich ihre Meinung über samstags einkaufende Rentner und demonstrieren Ihnen ungefragt, wie ostentativ sie ausatmen können. Man glaubt, man sei im Yoga-Kurs; oder bei der Geburtsvorbereitung. Die Verkäuferin fragt indes – und das hört man auch selten: „Haben Sie es nicht ein bisschen größer?“

Die Szene wiederholt sich in der Kaffeebar, im Ghettonetto und wo auch immer Sie hingehen. Ergänzend stellt sich ein zweites Phänomen ein: Wenn Sie krumme Beträge brauchen, um die kleinen Braunen loszuwerden, kostet Ihr Einkauf nur glatte Summen – egal, wie viele Teile Sie aufs Band legen. Versuchen Sie es mal.

Ich könnte die Cents nun sammeln, um etwas Schönes daraus zu basteln. Dann bin ich vorbereitet, wenn wieder jemand heiratet.

Man denkt gemeinhin, Nerds seien vorwiegend Männer.

Ich möchte an dieser Stelle eine Theorie präsentieren. Nämlich, dass es auch weibliche Nerds gibt, deren Nerdigkeit allerdings sozial nicht als solche anerkannt ist.

Nerd, der, -s, -s, Mensch, der sich durch autodidaktische Vertiefung in ein Spezialthema auszeichnet, einschließlich Pflege der dazugehörigen Fachsprache (Technolekt). Oftmals sozial isoliert bis hin zum Autismus, lediglich kompatibel mit ebenso nerdiger peer group. Optisches Auftreten geprägt durch stereotypen Kleidungsstil. 

Nehmen wir nun das Themenfeld „Nagelmodellage“. Betrachten wir Frauen, die sich mit Hingabe dem Verzieren ihrer Fingernägel widmen. Frauen, die ihre Nägel in Heimarbeit mit Mustern, Linien und Strasssteinen verzieren; die sich an ungezählten Abenden und unter Inkaufnahme hoher Sachausgaben mit zunächst fragwürdigen Ergebnissen das Spezialwissen einer Modellage-Meisterin im 40. Berufsjahr aneignen. Frauen, die Fachvokabular wie „Free-Edge“ oder „Wettglaze“ völlig selbstverständlich in Gegenwart Dritter benutzen; die sich mehrere Stunden über die unterschiedliche Qualität von Pinchklemmen unterhalten; die dir ungefragt die Vorteile der Bananen-Bumerangfeile in unterschiedlicher Körnung erklären und mit empörtem Unverständnis reagieren, wenn Du sagst, Du seist nur ein gewöhnlicher Klippser. Frauen, die dazu uniform eine gebleichte Dauerwelle tragen, mindestens aber einen flotten Kurzhaarschnitt mit dreierlei Strähnchen; obligatorisch dazu Modeschmuck und der Besitz von Kleidung in Tigeroptik.

Was unterscheidet diese Frauen vom gemeinen Amateurfunker?

Sehen Sie. Ich sag’s ja.

Gestern beim Aufräumen gefunden:

Katz und Sittich

Die Katze gehörte den Nachbarn. In dem Käfig befand sich ein Fink, zu dem ich eine Beziehung aufgebaut hatte. Er hieß Pumuckl. Zum Zeitpunkt der Bildaufnahme flog er aber so schnell durchs Gehäuse, dass man ihn jetzt nicht sehen kann. Lichtgeschwindigkeit, im Grunde.

Das im Vordergrund bin ich. Die Schürze habe ich um, weil ich zum Pflaumendöppen oder Dickebohnenpulen versklavt war.

Die Socken in den Sandalen trug man so. Wegen der Fußkälte, die 1984, vor dem Klimawandel und zu Zeiten des Eisernen Vorhangs, noch herrschte.

Das Ghettonetto hat eine entscheidende Schwäche:
Es hat zu wenig Einkaufswagen. Besonders an den Publikumstagen Freitag und Samstag befinden sich keine in der Parkschleife.

Ich stehe neben den Kassenbändern und warte auf das nächste frei werdende Wägelchen. Eine knittrige Mittdreißigerin bezahlt Formfleisch, Fertiggerichte und zwei Dosen Tabak und räumt alles in ihren Einkaufswagen. Ihr struppiges Haar ist verblichen. Ihre Tochter, ein blondes Herzchen mit Hello-Kitty-Sandalen, schüttelt eine gelbe Ghettonetto-Tüte auf und beginnt, die Sachen einzupacken.

„Geh wech mitte Tüte!“ herrscht die Knittrige sie an, und das Mädchen erschrickt. „Geh da vorne inne Ecke damit. Die Leute sollen ruhich auf unsern Wagen watten. Ich watte auch schon mein ganzes Leben auf ’nen Prinzen.“

Als sie alles eingepackt hat und die Tüte am langen Arm hält, schiebt sie mir mit der freien Hand den Wagen rüber. „Hier“, sagt sie. „Kannze haben. Und von dem Chip, der da drin is‘, kannze dir auffe Kirmes ’ne Rose schießen. Macht sonst eh keiner.“

Dann fasst sie ihre Tochter zwischen die Schulterblätter und schiebt sie zur Tür hinaus.

  1. Gradmesser für die Qualität einer Eisdiele ist die Schokoladigkeit des Schokoladeneises.
  2. Die Schokoladigkeit korreliert mit der Größe der Splitter in Stracciatella.
  3. Spaghetti-Eis ist die Missionarsstellung unter den Eisbechern: furchtbar gewöhnlich, macht aber trotzdem immer wieder Spaß.
  4. Das Beste am Spaghetti-Eis ist der gefrorene Sahnekern.
  5. Fruchteisbevorzuger grillen sich auch Sojawurst.
  6. Alle Eisdielen heißen „Venezia“, weil selbst dem Zwen seine Omma dat gut aussprechen kann. Anders als „Gelateria San Gimignano“.
  7. Bananensplit ist wie Mario Barth: ‚Ne fiese Sache, trotzdem mögen ihn viele.
  8. Waffelverweigerer essen die Butterbrezel auch mit Becel.
  9. Je kevinchantalle, desto Schlumpfeis.
  10. Macadamia Nut Bite ist zwar nicht italienisch und auch nicht handgemacht, aber auch nicht schlecht.
[inspiriert von @FrauZimt]


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