Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Bei uns zu Hause bringt das Christkind die Geschenke.

Nach dem Frühstück am Heiligen Abend brachen mein Vater und ich stets zu vorgeschobenen Erledigungen auf. Unter anderem besorgten wir Baguette für das abendliche Mahl und aßen danach in einer Pommesbude zu Mittag. Beides war eine Attraktion: mit meinem Vater einkaufen gehen und ungesunde Pommes essen – und deshalb schon für sich genommen ein Geschenk.

Wenn wir am frühen Nachmittag nach Hause zurückkehrten, waren wir bis zum Stehkragen voll mit Ketchup und Fritten (in dieser Reihenfolge) und das Wohnzimmer still, dunkel und abgeschlossen – damit das Christkind kommen konnte. Denn das Christkind kommt nur, wenn keiner guckt.

Für den Rest des Nachmittags saßen wir in meinem Kinderzimmer auf kleinen Stühlen, tranken Kaffee, aßen Plätzchen und spielten Spiele. Mein Vater schlief, der Schnitzelstarre erlegen, auf meinem Bett ein und schnarchte.

Als wir am Abend nach der Messe nach Hause kamen, verschwand meine Mutter sofort im Wohnzimmer, um dem Christkind beim Kerzenanzünden zu helfen. Der Rest der Familie musste draußen bleiben. Weil Durchs-Schlüsselloch-Gucken verboten war und Fehltritte streng geahndet wurden, saß ich in der angrenzenden Küche auf der Arbeitsplatte, baumelte nervös mit den Beinen und lauschte den Geräuschen hinter der Wohnzimmertür. Erst nach gefühlten 100 Minuten, wenn Mutter und das Christkind fertig waren, bimmelte ein Glöckchen, und wir durften eintreten. Ich war natürlich die erste an der Tür – und betrat das lichterglänzende Wohnzimmer doch mit Scheu und Ehrfurcht.

Bald erreichte ich ein Alter, in dem ich mir gewisse Fragen stellte:

Wie kam das Christkind Anfang Dezember an meinen Wunschzettel, den ich immer innen auf mein Fensterbrett legte?
(Mutter: „Es kann durch Glas fliegen.“)

Wie kam das Christkind an Heiligabend in unser Wohnzimmer?
(Mutter: „Ich lasse die Balkontür offen.“)

Wo es aber Anfang Dezember noch durch Glas fliegen konnte! Erster Widerspruch.

Wie kann es gleichzeitig so viele Kinder auf der Welt beliefern?
(Mutter: „Wegen der verschiedenen Zeitzonen auf der Erde muss es das nicht gleichzeitig machen.“)

Das klang schlüssig.

Warum kann das Christkind die Kerzen nicht alleine anzünden?
(Mutter: „Weil es noch ein Kind ist, und Kinder dürfen nicht mit Feuer spielen.“)

Na klar.

Warum dürfen nur Mütter dem Christkind helfen?
(Mutter: „Darum.“)

Das war verdächtig.

Nach Abwägen aller Widersprüche war Sherlock Nessy klar: Es gibt Ungereimtheiten in der Causa Christkind. Allerdings gibt es auch keine stichhaltigen Beweise für die Nicht-Existenz des Christkindes. Im Grunde gibt es sogar gute Gründe für das Christkind: Denn woher kommen die Geschenke, während wir in der Messe sind?

Bis ich acht oder neun war, glaubte ich ans Christkind. Daran konnten selbst meine Schulkameraden nichts ändern.

[Teil I: Tennis, Teil II: Sex, Teil III: Roman]

Mein Vater wünscht sich Herrentaschentücher. Aus Stoff.

„Eine lösbare Aufgabe“, denken Sie vielleicht.

Ich starte meine Suche bei Karstadt. Denn wenn Kaufhäuser einen Vorteil bieten, dann den, dass man in ihnen die abwegigsten Dinge kaufen kann. Einmal hin, alles drin. Sie wissen schon.

Mit Herrentaschentüchern im Kaufhaus verhält es sich wie mit Zitronensaftkonzentrat im Supermarkt: Sie ahnen, dass es ganz bestimmt vorhanden ist – aber wo könnte es sein? Sie können es beim Saft suchen. Oder beim Obst. Oder bei den Backwaren.

Wo vermuten Sie Herrentaschentücher? Bei den Handtüchern? Bei den Krawatten? Bei den Socken?

Bei den Handtüchern (3. Etage) schickt man mich zu den Schals (Erdgeschoss). Bei den Schals (Erdgeschoss) zu den Krawatten (1. Etage). Bei den Krawatten (1. Etage) zu den Hüten (Erdgeschoss). Und bei den Hüten in den Netto, „dort hamse sowatt im Angebot, hab‘ ich heute morgen im Prospekt gesehen“. Neben den Gürteln (Erdgeschoss) finde ich schlussendlich, was ich suche, aber: für Damen  – mit gestickten Rosen und dem Schriftzug „Madame“.

Nee, denke ich. Das geht nicht. Nicht für Vattern.

Also raus dem Laden. Rein in den nächsten. In den nächsten. Und in den nächsten. Bis ich welche finde. Bei Chic & Adrett. Neben den Gürteln.

Sollten Sie also jemals Herrentaschentücher suchen, schauen Sie nicht bei Handtüchern. Auch nicht bei Krawatten. Oder bei Socken. Schauen Sie bei Gürteln. Das ist doch eigentlich auch logisch.

Geht dem Leben mit der Zeit die Leidenschaft verloren?

Früher war das Sein verzaubert. Früher hatte ich Ehrgeiz zu gewinnen. Früher hatte ich das Talent, mich zu verlieben, von jetzt auf gleich.

Heute lebe ich ohne Aufgeregtheit. Heute möchte ich nicht mehr unbedingt gewinnen. Heute verliebe ich mich nicht einfach, nicht beim ersten und auch nicht beim zweiten Blick.

Ist das nun die allseits gepriesene Gelassenheit, die, zugegeben, vieles einfacher macht – aber auch weniger intensiv? Sind es Enttäuschungen, die zur Vorsicht mahnen? Oder ist es, und das ist der schlimmste Gedanke, eine unumstößliche Desillusion, die im schlechtesten Fall in Verbitterung endet und im besten nur das Leben entzaubert?

In meiner neuen Nachbarschaft gibt es zwei Bäckereien.

Das Tolle an Bäckerei I: weiche, runde Brötchen.
Das Tolle an Bäckerei II: Milchbrötchen zum Niederknien.
Nachteil von Bäckerei II: die Terminierung der Milchbrötchen.

Milchbrötchen (im lokalen Slang: Micken) gibt es nämlich in Monaten mit 31 Tagen nur an geraden, in Monaten mit 30 Tagen nur an ungeraden Tagen.

Weil das natürlich kein Mensch kapiert, ich sowieso nicht, und weil ich auch nicht die Tage zähle, bevor ich zum Bäcker gehe, sind niemals Micken da, wenn ich welche haben möchte. „Heute ist Zuckergebäcktag“, heißt es dann. Na prima.*

Ich habe hammahart an einer Lösung für das Mickenproblem rumgedacht:

  • Fahne hissen: An Tagen mit Milchbrötchen hissen die Bäckersfrauen eine Fahne. Nachteil: Die Bäckerei ist nicht in Sichtweite.
  • Die Micken-SMS: Gibt’s Milchbrötchen, gibt’s ’ne SMS an die Kundschaft. Nachteil: kostspielig für den Bäcker.
  • Mickenticker: Milchbröchten oder Zuckergebäcktag? Der Bäcker twittert’s. Nachteil: Der Bäcker weiß nicht, was Twitter ist.

Oder eine Micken-App?

__
*Selbstlernaufgabe:
An welchem Osterfeiertag macht gibt es Zuckergebäck, wenn der Bäcker am Heiligabend Micken backt?

Fortsetzung: The Return of Milchbrötchenproblem

Seit Anfang Dezember höre ich allerorten:
„Das muss noch vor Weihnachten erledigt werden.“

Es ist das Himmelfahrt-Phänomen: An einem Donnerstag mitten in der Woche kommt ein Feiertag daher. Gänzlicher überraschend, natürlich. Wer kann das ahnen. Am Vorabend sind deshalb die Läden so voll mit Hamsterkäufern, als sei ein Atomschlag zu erwarten, der die westliche Zivilgesellschaft für immer zerstört (und mit ihr das Tiefkühlfilet Bordelaise, das in seiner Aluschachtel frierend darauf wartet, in den Luftschutzkellern deutscher Nachkriegsmiets-
häuser eingelagert und für das Überleben derer verwendet zu werden, die besser der Blitz treffen sollte).

Gleichermaßen, wie die Menschen vor Christi Himmelfahrt mit Kleinbussen einkaufen, werden in Büros Termine gesetzt, Konzepte eingefordert und Besprechungen anberaumt, als habe der Gesetzgeber ab 2011 das Arbeiten verboten. Dazwischen finden Weihnachtsfeiern statt; in frohlockende Fröhlichkeit gekleidetes Teambuilding, das jeder Mitarbeiter beim Nobelitaliener an der Ecke selbst bezahlen darf  – die Firma ist schließlich nicht für das Vergnügen ihrer Mannen zuständig. Eine Anwesenheitsliste wird allerdings schon geführt, im Sekretariat. Da bleibt als Entschuldigung nur der Noro-Virus, der selbst das motivierteste Lohnempfängerdasein von jetzt auf gleich in gekachelte Gefilde verlegen kann – gerade in Zeiten seelewärmender Glühweintrinkerei aus unzureichend gespülten Motivkeramiktassen.

Wenn Sie an dieser Stelle des Textes den Eindruck gewinnen, ich sei gefrustet, mag ich Ihnen das bestätigen. Hier im Kännchencafé ist sonst immer Kirmes, quietschbunt, mit Luftschlangenpusten, da darf ich auch mal maulig sein. Ab dem 1. Januar werde ich natürlich wieder Heiterkeit verbreiten, schließlich habe ich „ein Wohlfühljahr erster Klasse“ vor mir.

Zwischen mir und der Arbeit liegen gerade einmal sechshundert Meter, als die dicke Busfahrerin unter ihren Sitz kriecht und die Bremskeile sucht. „Tut mir leid, woll. Dat isn Wetter, woste nix machen kannz. Da muss ich stehenbleiben tun. Anweisung vonne Leitwarte.“

Die Türkin hinter mir stupst mich an. „Wieso aussteigen?“ fragt sie.
„Zu glatt“, sage ich. „Der Bus rutscht.“
„Bus rutscht?“
„Ja“, sage ich. „Den Berg runter.“

Es schneit in kleinen Grieseln. Warnblinklichter färben den Abend orange. In der Gegenrichtung schlängeln sich Autos um zwei weitere Busse den Hügel hinauf. Niemand hupt. Niemand flucht. „Viel Glück“, wünscht jemand der Fahrerin. „Tschüss dann“, sagt ein anderer. Der Schnee deckt die Stadt mit Gleichmut zu. Ich steige aus. Es knirscht unter meinen Füßen. Die Füße der anderen knirschen auch. Alle schauen sich noch einmal um. Dann werden wir eine Prozession. Mein Zuhause und mich trennen von hier an zwölf Haltestellen oder sieben Kilometer oder Eineinviertelstunde Marsch.

Am ersten Bushäuschen nehmen wir fünf Jäuster in Fußballschuhen mit. Sie bewerfen sich den Weg über mit Schneebällen. Noch ein Häuschen weiter gabeln wir eine Frau mit Kinderwagen auf. Ein kräftiger Mann in blauer Latzhose greift sich die Vorderreifen und wird zum Sänftenträger. Hinter der vierten Haltestelle steht ein Ersatzbus an einer roten Ampel. Wir laufen hin, winken und klopfen an die Tür. Der Fahrer glotzt mit großen Augen durchs Glas. Die Ampel springt auf Grün. Der Bus fährt los. Wir stehen auf der Straße und schreien wie die Gallier.

„Arschloch, Alta!“ rufen die Jungs. „So ein Penner!“ rufe ich. „Wenn deine Heizung kalt ist, komm! ich! nicht!“ brüllt der Latzhosenmann. Die Türkin ruft etwas auf Türkisch, das sich anhört wie „Pickeliger Sohn einer Gurke.“ Das Kind schaut durch den Regenschutz seiner Sänfte den Rücklichtern hinterher. Wir marschieren weiter durch den knöchelhohen Schnee.

Die Jäuster biegen irgendwann rechts ab. Der Handwerker bringt Mutter und Kind bis an die Tür. Die Türkin verschwindet im Weiß. Ich hab’s am weitesten. Autos rollen an mir vorbei, langsam, knirschend. Alles ist leise. Wenn Schnee drauf liegt, ist das Ruhrgebiet fast nicht hässlich.

Um halb acht bin ich zu Hause. Meine Beine fühlen sich nach Stieleis an, und mein Leben schmeckt nach Polarexpedition. Ich bin seltsam glücklich.

Schwarz-Weiß-Aufnahme: Meine Großmutter in einem Kleid auf einer Wiese, im Hintergrund mein Großvater.
Immer, wenn ich bei ihr schlief, lag ich in ihrem großen Bett unter einer schweren Daunendecke und zählte die Blüten, die auf der Tapete wuchsen.

Das Frottee war rau, die Matratze weich. Ihr Kissen duftete nach Waschmittel, nach ihrem Parfum und nach ihr selbst – ein Geruch, der weich wie Watte war und sanft in der Nase kitzelte. Wir beteten das Vaterunser; dann schob sie einen Polstersessel vor mein Bett und ging ins Wohnzimmer, wo sie Sportstudio schaute. Ich lauschte den gedämpften Stimmen und schlief ein.

Sie schaute niemals Volksmusik, niemals Schlagersendungen oder Schmonzetten. Wir sahen uns gemeinsam „Der große Preis“, „Einer wird gewinnen“ oder Spiele von Bayern München an. Sie war ein großer Fan. Wir teilten uns Karlsberger Oblaten und kuschelten uns aneinander.

Wir machten gemeinsam Kreuzworträtsel. Sie war eine sehr gute Kreuzworträtslerin. Jeden Dienstag ging sie zum Kiosk und kaufte sich neue Hefte. Beim Schwedenrätsel war sie unschlagbar, sie wusste alles, sogar Sachen wie „Apostel der Eskimos“. Als sie nicht mehr sehen konnte, las ich ihr vor, sie sagte die Lösung und ich trug sie ein.

Sie war sehr hübsch. Sie war groß, schlank und elegant. Ihre Haut war sehr weich. Sie hatte viele Falten, aber ihre Haut war zart, im Gesicht und auch an den Armen. Sie hatte Sommersprossen auf ihren Unterarmen, ganz viele kleine, und auf der Hand Altersflecken. Als sie nur noch im Bett lag, habe ich ihr Gesicht gecremt. Sie liebte es, wenn ich sie cremte, weil ihre Haut oft trocken war, seit sie kaum noch aß und trank. Sie liebte es auch, wenn ich ihr Haar bürstete, ruhig etwas fester, das tat ihr gut. Wie ein weißer Teppich lag es danach auf ihrem Kopfkissen und glänzte im Schein der Deckenlampe.

An Weihnachten sagte ich ihr einmal, dass sie die beste Oma sei, die es gebe. Ich sagte es, weil ich wusste, dass es unser letztes Weihnachten sein würde. Sie nickte. Sie wusste es auch. Nicht ganz ein Jahr später, heute, am 8. Dezember vor neun Jahren, starb sie. Es war nachts um vier.

Ich besuchte sie noch einmal. Ich musste mich beeilen, denn ich hatte eine weite Anreise. Sie lag da wie die Monate zuvor in ihrem Bett. Ihr weißes Haar ergoss sich auf ein Kissen, ihre Hände waren gefaltet. Sie trug ein Totenhemd und sah sehr erhaben aus.

Ich stand da und beobachtete sie. Es war seltsam, dass sie sich nicht regte, nicht atmete.

Ich wartete. Auf eine Bewegung. Auf ein Zeichen. Auf mein Begreifen.

Wenn ein Mensch im Raum ist, auch wenn es dunkel ist und wir ihn nicht sehen, spüren wir, dass er da ist. Es ist seine Wärme, seine Energie; es ist die Magie, die jeden von uns umgibt.

Ich berührte sie. Zuerst an den Händen, dann an den Wangen. Dann streichelte ich ihr Haar. Es war noch ganz weich. Aber ihre Haut war wie Kerzenwachs.

Sie lag da, aber ihre Magie war an einem anderen Ort.
Ich war allein im Raum.

Wir beerdigten sie an einem windigen Wintertag. Seitdem war ich nur wenige Male an ihrem Grab. Ich brauche nicht dorthin. Ich habe sie immer bei mir.

Der Trainer lässt uns neuerdings komische Sachen machen.

Purzelbäume zum Beispiel. Zwei hintereinander, Slalomsprint um ein paar Pilonen, Sprint zurück, den nächsten abschlagen, wieder von vorne, fünfmal. Danach war ich reif für die Kalabums-WM.

Jetzt die Anweisung: Alle Hühner mögen sich ein Springseil kaufen.

Also ab ins Sportkaufhaus. Damenseile in zartem Kitty-Rosa, das finde ich schnell heraus, gibt es nur in Zwergenlänge: maximal 2,65m für Menschen bis einssiebzig. Also weiter in die Männerabteilung. Aber hey – meinen Sie ernsthaft, Männer springen Seilchen?

Männer machen Speedropeskipping mit einem Jump Rope Pro, batteriebetrieben, 15 Euro pro Sportgerät.

Vor meinem ersten, einminütigen Probespringen programmie ich also erstmal zehn Minuten lang mein Springseil: Trainingszeit, Sprunganzahl, Körpergewicht – zur Berechnung des Kalorienverbrauchs. Nach 100 Hüpfern dann ein lautes Piep: Ziel erreicht, geiles Workout, weiter so, Superheld!

Ich hoffe nun, dass mir von diesem hamma-männlichen Speedropeskipping keine Haare auf der Brust wachsen.



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