Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Die Saison ist vorbei.

Am Wochenende hatten die Hühner und ich unser letztes Spiel. Ergebnis: Tabellenzweiter. Für den Trainer ist deshalb klar: Das Ziel der nächsten Saison heißt Aufstieg!

Mit Blick auf dieses Vorhaben hat er „eine intensivere Vorbereitung als in den vergangenen Jahren“ angekündigt. Er denke aktuell an „eine konzentriertes sechs- bis achtwöchiges Training für die Grundlagenausdauer“ im Juni und Juli mit „drei bis vier Einheiten pro Woche“. Natürlich „ohne Ball“. Erst danach gehe es in die Halle für ein „intensives Wurf- und Schnellkrafttraining“.

Und das mir. In meinem Alter. Als Ausdauerhonk und Konditionsklaus. //*gruselt sich wild

Das kann nur bedeuten: Ich muss sofort mit der Vorbereitung auf die Vorbereitung beginnen. Denn es ist mitnichten so, dass die angekündigten Ausdauereinheiten mit leichtem Walking starten. Vielmehr stellt sich der Trainer in den Park, breitbeinig, Stoppuhr in der Hand: „Wir beginnen ganz locker … zwei Runden … sieben, acht Kilometer … Sunny gibt das Tempo vor. Danach treffen wir uns noch am Weiher für eine kleine Sprinteinheit.“

Ab morgen also Vorbereitungsvorbereitung für verdiente Handballsenioren. Mit gelenkschonendem Wippen auf dem Crosstrainer.

Mein Viertel steckt voller interessanter Geschäftsmodelle.

Neben Einszehn, dem Trinkhallenchamäleon mit der besonderen Preisstruktur, und Franco Gelatti, dem Vorreiter des Cross-Selling, verfolgt auch mein Frisör ein innovatives Konzept zur Kundenbindung. Schalten Sie Ihren Ton an und besuchen Sie mit mir den „Salon Chic“ von Sedat und Valentina:

Wenn ich zum Frisör gehe, gehe ich zu Sedat. Oder, wie man hier im Viertel sagt: Geh isch Haare, geh isch Sedat.

Sedat ist der Frisör hier um die Ecke, neben Einszehn. Einszehn kennen Sie noch, ne? Jedenfalls – Sedat gehört der Laden nicht, weil Sedat nämlich gar kein Frisör ist. Der Laden gehört seiner Frau – Valentina. Sie hatte gelernt die Frisör in die Heimat. Valentina hat auch die Hosen an. Sie sagt Sedat immer, was er tun muss, mit einem leichten Vorwurf: „Sedat! Kuksdu! Maksdu wekke die Haare von die Boden! Is alles voll von die Haare hier!  Gehte Kundin nache Hause, hatte die Fell an die Fuße!“ Dann nimmt Sedat den Besen und fegt die Haare weg.

Sedat selbst schneidet aber auch, obwohl er es nie gelernt hat. „Pflege isch die Kunst von die intuitive Schneiden, aber mache isch nur bei Männer! Mach isch brrrrrr mitti Maschine, haste du gute Frisur passend für Auto.“

Ich sitze im Damenbereich und lasse mir die Haare von Valentina machen. „Maken wir die Farbe und die Spitzen!  Musse schneiden die Spitzen, is ganz voller Spliss! Musse maken die Ansatz, is nicht uuubsch.“ Und wie ich so unter meiner Folie sitze, gucke ich zu Sedat rüber.

Und da kommt so ein junger Typ rein, keine Haare auf der Brust, aber Glitzerkette, und sagt: „Aaaah, was geht, Sedat? Kannsu Haare schneiden?“ Und Sedat sagt: „Kumm rain, bissu mein Freund, kann isch Haare schneiden.“ Er macht brrrrrr mit der Maschine, und der Typ geht wieder, ohne zu bezahlen, ohne alles. Dann kommt der nächste: „Aaaah, Sedat, Kannsu Haare schneiden?“ Und Sedat schneidet Haare.

Als ich dann an der Kasse stehe, frage ich: „Ist hier für Männer eigentlich umsonst?“ Und Sedat sagt: „Iss auch fur Frauen umsonst. Wenn du haste sehn Haarschnitt, hassu elfte Haarschnitt umsonst.“ – „Also hatten die gerade alle ihren elften Haarschnitt?!“ – „Nä, hatte auch neunte Haarschnitt und funfte, aber bessahlen ihre Umsonst-Haarschnitt in Voraus.“

So ist das hier in der Gegend. Hier kannst du deinen Umsonst-Haarschnitt im Voraus bezahlen.

Gegenüber meiner Wohnung befinden sich Zechenhäuser:

Kleine, bunt angemalte Häuschen mit schmalem Grundriss, zwei Fenster unten, zwei Fenster oben und ein ausgebauter Spitzboden. Zur Straße hin sind sie winzig, dahinter aber liegt eine beachtliche Scholle, auf der meine Nachbarn, verrentete Bergleute und krummrückige Stahlarbeiter, Tomaten züchten oder breitbeinig in quietschenden Hollywoodschaukeln und auf bunt gepolsterten Alustühlen sitzen, während Andrea Berg aus einem Kassettendeck schwülstige Lieder singt.

In jenem Haus, auf das ich von meinem Balkon aus blicke, wohnt die Entenfamilie. Die Entenfamilie besteht eigentlich nur aus Muddi und Vaddi, heißt aber so, weil aus dem Fenster im ersten Stock eine vergilbte Sammlung unterschiedlich großer Porzellanenten auf die Straße schaut. Muddi und Vaddi sind beide deutlich übergewichtig und modisch im Segment Hauskittel und Feinrippunterhemd anzusiedeln.

Muddi besitzt neben ihrem natürlichen Stil & Chic eine besondere Fähigkeit: Sie hat das absolute Gehör. Sobald ein Geräusch die Straße hinunter hallt, steckt sie ihren matronenhaften Körper in die Haustür, beugt sich über die Vordertreppe hinaus auf den Bürgersteig, schaut nach links, schaut nach rechts und prüft mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenen Augen die Lage. Meistens ist nichts los. Dann watschelt sie wieder hinein, die Tür laut hinter sich zuschlagend.

Vaddi interessiert sich hingegen weniger für das Geschehen in der Nachbarschaft. Er ist nur auf den Parkplatz vor seinem Haus bedacht. Deshalb hat er neben seiner Haustür ein Schild mit dem Text „Reserviert für 19“ angebracht. Gemeint ist der öffentliche Parkstreifen vor dem Haus. 19 ist Vaddis Hausnummer.

Weil allerdings nicht jeder Dahergefahrene sein Schild achtet, blockiert Vaddi den Parkplatz zusätzlich mit einem Anhänger, auf dem er im Herbst einmalig Kaminholz transportiert hat. Der Anhänger steht im Gestrüpp neben dem Parkstreifen. Wenn Muddi und Vaddi nun einen Ausflug machen, steigt Vaddi ins Auto und setzt es rückwärts vom Seitenstreifen auf die Straße. Derweil zerrt Muddi den Anhänger aus dem Gebüsch und platziert ihn mittig vor dem Haus. Kommen die beiden zurück, fährt Vaddi an den Parkstreifen heran, Muddi steigt aus, zerrt den Anhänger zurück ins Gebüsch, und Vaddi parkt an seiner Statt auf Parkplatz 19.

Seit einigen Wochen beobachte ich nun eine weitere Regelmäßigkeit, nämlich, wie pünktlich nach den Tagesthemen gegenüber das Licht ausgeht. Erst in den unteren Räumlichkeiten, dann in den oberen. Fünfzehn Minuten später allerdings geht das Licht unten wieder an. Dann steht Muddi mit einem Telefonhörer am Ohr am erleuchteten Fenster, während Vaddi oben schläft.

Erst dachte ich, dass sie einen Nebenerwerb am Laufen hat („Süße Bergarbeiterfrauen – heiß und willig“). Inzwischen bin ich mir allerdings sicher, dass sie sich gemeinsam mit einem nächtlichen Geliebten ein unbeschwertes Leben ohne Anhängerzerren erträumt. Vielleicht erlebe ich noch, wie er eines Tages vorfährt, in einem Auto ohne Anhängerkupplung, hupt und ihr durch die heruntersurrende Seitenscheibe zuruft: „Komm, Entenfrau! Jetzt oder nie!“ Dann watschelt sie in einem frisch gebügeltem Kittel aus dem Haus, steigt zu, und die beiden verschwinden ins Abendrot in Richtung Bochum.

Gewönne ich 24 Millionen,

… würde ich niemandem etwas sagen.

… würde ich weiterarbeiten. Teilzeit. Oder freiberuflich. Nur noch nette Sachen.

… würde ich drei Monate im Jahr in den Urlaub fahren. Vielleicht in den Himmalaya, den Manaslu-Treck. Und nach Peru. Und nach Namibia. Oder einfach mal an die Ostsee, so zwischendurch. Und nach Kopenhagen.

… würde ich mir ein Auto kaufen und den vollen Werkstatt-Service gleich dazu. Weil ich keine Ahnung von Autos habe und ich mich um den Quatsch nicht kümmern möchte. Birne vorne rechts kaputt, Anruf beim Autobjörn, der die Kutsche dann abholt und die Birne wechselt. So in der Art.

… würde ich mir eine Bahncard 100 kaufen und mich durch die Gegend fahren lassen, wie es mir gefällt. Erster Klasse. Ich würde Sie alle besuchen und mit Ihnen ein Mädchenbier trinken.

… würde ich mir eine Wohnung kaufen, ein paar schnittige Handwerkergesellen engagieren und die Hütte nach meinen Vorstellungen renovieren. Wenn ich nicht auf Reisen bin, stöbere ich schöne Möbel auf und richte mich ein.

… würde ich mir ein Klavier kaufen und Klavierspielen lernen.

… würde ich mir, weil sich 24 Millionen praktisch von selbst vermehren und ich gar nicht weiß, wie ich sie für mich allein verwenden soll, etwas Gutes ausdenken. Nicht für einarmige Baumwollpflücker in La Paz, sondern ein Projekt nebenan. Für Kinder und für Alte. Müsste ich drauf rumdenken.

Allerdings: Wenn ich das alles tue, kann ich nicht verheimlichen, dass ich im Lotto gewonnen habe. Vielleicht sollte ich einfach sagen, ich hätte 4 statt 24 Millionen gewonnen. Das klingt nicht so total verrückt. Was meinen Sie?

Bitte antworten Sie schnell. Ich muss das bis morgen wissen.

Manchmal packt es mich, und ich gehe in hippe, kleine Mädchenläden. Solche Läden, in denen zwar „L“ in der Kleidung steht, aber „S“ gemeint ist. In denen Verkäuferinnen knapp über 16 sind, einsfünfzig, vierzig Kilo, dritter Platz im Hannah-Montana-Lookalike-Contest.

Sie kommen auf mich zu, während ich im Hosenstapel wühle, fragen: „Welche Größe suchst du denn?“ und schon sitze ich in der Falle. Schon stehe ich in einer Kabine und ziehe die erste der drei Hosen an, die Hannah mir herausgesucht hat – obwohl ich weiß, dass sie nicht passen wird. Obwohl ich nur gucken wollte, was mir passen könnte – wenn ich nicht ich wäre. Obwohl ich als mündiger Kunde hätte nein sagen und gehen sollen.

Doch Hannah steht jetzt vor der Kabine und wartet. Ich fühle mich unter Druck wie bei einer Urinprobe.

Ich streife die erste Hose über und merke schon an meiner ausgeprägten Wanderwade, dass wir nicht zusammenkommen werden. Von der anderen Seite des Vorhangs ruft es: „Und? Wie schaut’s aus? Passt sie?“ Ich halte den Bund fest, hüpfe mich im Kreis in die Hose hinein und rufe mit gespielter Souveränität durch den Vorhang zurück: „Äääh … joooo … aber im Schritt ist sie etwas knapp.“

Also die nächste. „Slim Fit“, steht auf einem Zettel am Bund. Ich lege sie zurück und nehme direkt Hose Drei. Ich bin schon ein bisschen verschwitzt und würde gerne gehen.

„Und die anderen Hosen? Passt von denen eine?“ Hose Drei presst gerade mein Schenkelfleisch zusammen. Eine Thrombosehose, überlege ich, ist in meinem Alter vielleicht gar nicht schlecht. Mit schmerzenden Fingerkuppen pule ich den Knopf durchs Loch. Wenn ich mich hinsetze, kriege ich Darmverschluss. Jetzt nur nicht ausatmen. „Sie fällt ein bisschen kurz aus“, japse ich, weil es mir zu peinlich ist, die Wahrheit in die unsichtbare Welt jenseits der Kabine hinauszurufen. Es könnte ja sein, dass grad die Chippendales dort stehen. Ich hoffe, damit raus aus der Nummer zu sein und gehen zu dürfen.

„Ach!“ erstaunt sich Hannah. „Dabei sehen Sie gar nicht danach aus.“ Ich bemerke soeben, dass das kein Kompliment war, als auch schon eine mit Strasssteinen manikürte Hand den Vorhang beiseite schiebt und eine andere Hand eine weitere Hose hineinreicht. „Die ist eine Nummer länger.“ Kurz blickt Hannah auf meinen Hosenbund. „Oh. Und obenrum fällt sie wohl auch etwas knapp aus.“ Nein, das sieht nur so aus.

Hose Nummer Drei A. Ich würde nun wirklich gerne gehen. Natürlich trete ich mir auf den Saum, während ich erneut versuche, fünf Kilo zu viel in die Hose zu hüpfen. Hannah spürt die Erschütterungen. „Die gibt im Bund noch nach“, sagt sie, und wir wissen beide, dass sie lügt.

Ich erwidere nichts und spüre Ratlosigkeit durch den Vorhang sickern. In meiner Kabine steht die Luft. Ich möchte sagen, dass ich ja eigentlich nur schauen wollte, vielen Dank für Beratung. Da flötet es: „Ich gucke mal, ob wir noch eine Nummer größer dahaben.“ Das „noch“ betont sie, als können sie nicht fassen, wie jemand so verwachsen sein kann. Dann sagt sie, wiederkommend: „Diese Hose habe ich nur noch mit einer 26er Bundweite.“ 26/36. Janee, is klar. Ich ziehe mich an.

Als ich den Vorhang beiseite schiebe und aus meiner Ein-Mann-Sauna trete, blickt sie mich mitfühlend an. „Tja, dann räume ich die Hosen wohl alle mal wieder weg. Tut mir leid für dich.“ Mir auch für dich.

Im nächsten Laden suche ich mir zwei Hosen aus, probiere sie an und kaufe sie. Ein Glück. Ich bin doch nicht verwachsen.

Die ersten Bücher des Jahres 2011:

Fernanda Eberstadt: Liebeswut
Businessfrau Gwen und Puppenspieler Gideon sind grundverschieden und verlieben sich dennoch. Auf die große Leidenschaft folgen Ernüchterung und Sprachlosigkeit. Eine desillusionierende Geschichte mit entmutigend viel Wahrheit, dazu zwei Portraits mit großartiger Charakterzeichnung.

Ildefonso Falcones: Die Pfeiler des Glaubens
16. Jahrhundert: Hernando wächst in Andalusien auf, dem Zentrum des Glaubenskriegs zwischen Christen und Muslimen. Er stellt sich dem Kampf und gerät zwischen die Fronten. Ein historischer Roman, der einen Blick auf ein Stück europäische Geschichte wirft, das mir bislang wenig bekannt war. Allerdings kommt die Geschichte recht eindimensional daher. Eine komplexere Erzählweise hätten dem Buch gut getan.

William Kowalski: Eddies Bastard
Eddie landet kurz nach seiner Geburt bei seinem Opa, ausgesetzt in einem Korb. Der verbitterte Alte zieht den Buben auf – mit ungeschickter, aber ehrlicher Liebe und viel gebratener Mortadella. Eine gefällige Geschichte, der ich gerne folgen mochte.

Félix J. Palma: Die Landkarte der Zeit
Eine Zeitmaschine macht es möglich: den Eingriff in die Vergangenheit und die Veränderung der Zukunft. Doch es ist alles nur ein Bluff. Ein phantastischer Roman, der beim näheren Hinsehen allerdings nicht phantastisch, sondern plump ist. Der erste Teil ist noch nett und leidlich fesselnd, beim zweiten schlägt die große Langeweile durch.

Freunde von mir sind schwanger.

Der Freundeskreis hat dem Buben den Arbeitstitel „Cedric Pascal“ gegeben. Die Eltern finden das nicht ideal. Wir haben daraufhin weitere Vorschläge gemacht. Aber die Eltern haben auch „Wesley Jérome“ und „Jackson Five“ abgelehnt. Nun sind wir ein bisschen ratlos. Am Ende wird er wohl einfach „Du“ heißen.

Vielleicht kennen Sie ja einen schönen Namen und können dem Jungen dieses Schicksal ersparen.

Der Nachname des Paares ist dreisilbig und beginnt mit D, weshalb Vornamen, die auf d oder t enden, nicht so glücklich sind.

Ich liege im Bett. Es knirscht.

Eine Art Schaben. Dann ein Klopfen. Dann Ruhe. Geräusche aus der Wohnung über mir. Ich entspanne mich und nicke ein.

Ich bin in der Wohnung der Sportskameradin und halte Wache. Sie liegt im Zimmer nebenan. Wir haben beide unsere Türen geöffnet, damit wir uns verständigen können, falls er wieder vor dem Fenster steht.

Er kommt immer nachts. Meist zwischen drei und fünf Uhr, manchmal eher. Er wartet immer, bis das Licht ausgeht. Dann wirft er Gegenstände gegen das Fenster, vier- oder fünfmal. Danach ist Ruhe. Dann wirft er erneut. Mehrere Male, über eine oder zwei Stunden. Seit drei Wochen.

Die Sportkameradin hat bereits die Polizei gerufen. „Eine unerwiderte Liebe“, sagt diese. „Das haben wir öfters. Können wir nichts machen, solange nichts passiert.“ Die Sportskameradin hat allerdings keinen Verehrer. Zumindest niemanden, der sich ihr zu erkennen gegeben hat.

Sie hat Angst. Sie hat versucht, aus dem Fenster zu sehen, um den Unbekannten zu erkennen. Doch keine Chance. Ihr Freund hat sich bereits auf die Lauer gelegt, doch an diesen Abenden kam er nicht.

Auch heute Nacht kommt er nicht. Als wüsste er, dass jemand bei ihr ist.

Ich bin in einem Alter, in dem ständig umgezogen wird.

Menschen ziehen zusammen, auseinander, von der WG ins eigene Appartment, in eine Wohnung mit Kinderzimmer, ins Eigenheim oder aus dem Ausland zurück nach Deutschland.

Bei Handballmannschaften ist es eine unausgesprochene Regel, dass der Teamgeist auch außerhalb des Spielfeldes gilt. Zieht eine Spielerin um, helfen alle. Bei 14 bis 16 Teammitgliedern zieht allerdings gefühlt alle acht Wochen jemand um. Hinzu kommt der übrige Freundeskreis. Im Jahr sind also so fünf bis sechs Umzüge zu machen.

Aus diesem Grund verfüge ich inzwischen über ausgeprägte Erfahrungen im richtigen Packen von Kisten, im Auseinander- und Zusammenbau von Standardmöbeln und dem Beladen von Kleintransportern.

Ich habe auch schon alle Arten von Umzügen mitgemacht. Da war zum Beispiel jener Tag, an dem wir gegen 8 Uhr an der Wohnung ankamen und zunächst dachten, wir hätten uns im Datum vertan. Das umziehende Pärchen saß beim Frühstück, und die Wohnung schaute aus, als sei heute nichts weiter geplant als ein bisschen durchzufeudeln. Wir begannen sofort mit dem Packen der Kisten, schraubten alles auseinander, verstauten es, fuhren es rüber, kauften uns zwischendurch eine Pizza, bauten das Zeug auf, entpackten es, brachten Lampen, Bilder und Vorhänge an, kauften uns noch eine Pizza – und um 24 Uhr sah die neue Wohnung aus, als wohnten die zwei Herzchen schon fünf Jahre dort. Ein Meisterstück.

Allen, denen ich helfen soll, erzähle ich diese Geschichte allerdings mit gerunzelter Stirn und mahne im gleichen Atemzug, dass ich derartiges nicht noch einmal tun werde, sondern mich bei mangelnder Vorbereitung und fehlendem Catering nicht scheue, direkt wieder zu gehen.

Der beste Umzug war im Gegenzug jener, bei dem nicht nur alles fertig zerlegt und gepackt war, sondern die Kisten und Möbelteile auch mit einem Farbcode aus Panzerband gekennzeichnet waren: rot = Küche, blau = Schlafzimmer, braun = Wohnzimmer.

Der heutige Umzug war ebenso strukturiert – und es gab nicht einmal Bücherkisten zu tragen; die waren nämlich schon dort. Nach geschätzten 25 Umzügen mit geschätzten insgesamt 1000 Bücherkisten mit einem geschätzten Gesamtgewicht von sechs Tonnen war ich beinahe enttäuscht. Entsprechend waren wir bereits um 14 Uhr fertig, inklusive Aufbauen. Wir aßen Suppe und Kuchen direkt hintereinander, tranken im Anschluss das Feierabendbier und sitzen nun auf unseren Sofas und wissen nicht, was tun.

Zum Glück sehen wir uns heute abend schon wieder, um unsere Heldentaten zu feiern.

Ich habe nun schon mehrfach gehört, zum Thema Japan werde zu viel berichtet: zu viele Informationen, zu widersprüchliche Informationen, zu reißerische Informationen.

Ich verstehe diese Haltung nicht. Zwar verstehe ich durchaus das Gefühl, mit der Ereignislage überfordert zu sein. Aber ich verstehe nicht die Schuldzuweisungen in Richtung der Fernsehsender, Onlineredaktionen und Social-Media-Plattformen.

Die Redaktionen berichten, was sie wissen. Sie sagen aber auch, was sie nicht wissen. Eine Nachricht ist eine Nachricht und gehört – ihre Folgen abwägend, aber schlussendlich immer – veröffentlicht.

Wenn ich höre: Brand in Fukushima, Brand gelöscht, Brand doch nicht gelöscht – ja, dann ist das so. Wenn ich außerdem höre, dass die Quelle der AKW-Betreiber Tepco ist, dann denke ich mir etwas dazu. Besonders, wenn die Nachrichtenlage dauerhaft widersprüchlich ist. Wichtig ist doch: Wer hat was gesagt? Wo befindet sich der Korrespondent? Was sind seine Quellen? Denken muss ich schon noch selbst. Offensichtlich meinen manche Couch Potatoes, jemand könnte ihnen das abnehmen.

Niemals früher hatten wir eine solche Vielzahl an Nachrichtendiensten und eine ebensolche Vielzahl an Social-Media-Quellen zur Verfügung. In ihrer Gesamtschau ergeben sie einen fabelhaften Überblick – soweit dieser Überlick überhaupt existiert. Soweit er sogar vor Ort überhaupt existiert.

Wie diverse Quellen zu bewerten sind, sollte inzwischen jeder wissen. Das Öffentlich-Rechtlichen sind okay, N24 ist nicht die ARD, und die BILD ist das KISS des Journalismus: laut, blutig und Zunge raus. Twitter hingegen ist meine Nachbarin, die mit Kittelschürze im Fenster hängt. Ja und? Immerhin kann ich durch ihr Fenster auf die Straße blicken.

Alle Informationen aller Quellen kann man doch erstmal hinnehmen, unter den genannten Vorbehalten. Dabei: selbst denken. Und akzeptieren, dass man manches einfach nicht weiß. Dass niemand es weiß. Aber das scheint wohl das Schwierigste zu sein.



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