Gegenüber meiner Wohnung befinden sich Zechenhäuser:
Kleine, bunt angemalte Häuschen mit schmalem Grundriss, zwei Fenster unten, zwei Fenster oben und ein ausgebauter Spitzboden. Zur Straße hin sind sie winzig, dahinter aber liegt eine beachtliche Scholle, auf der meine Nachbarn, verrentete Bergleute und krummrückige Stahlarbeiter, Tomaten züchten oder breitbeinig in quietschenden Hollywoodschaukeln und auf bunt gepolsterten Alustühlen sitzen, während Andrea Berg aus einem Kassettendeck schwülstige Lieder singt.
In jenem Haus, auf das ich von meinem Balkon aus blicke, wohnt die Entenfamilie. Die Entenfamilie besteht eigentlich nur aus Muddi und Vaddi, heißt aber so, weil aus dem Fenster im ersten Stock eine vergilbte Sammlung unterschiedlich großer Porzellanenten auf die Straße schaut. Muddi und Vaddi sind beide deutlich übergewichtig und modisch im Segment Hauskittel und Feinrippunterhemd anzusiedeln.
Muddi besitzt neben ihrem natürlichen Stil & Chic eine besondere Fähigkeit: Sie hat das absolute Gehör. Sobald ein Geräusch die Straße hinunter hallt, steckt sie ihren matronenhaften Körper in die Haustür, beugt sich über die Vordertreppe hinaus auf den Bürgersteig, schaut nach links, schaut nach rechts und prüft mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenen Augen die Lage. Meistens ist nichts los. Dann watschelt sie wieder hinein, die Tür laut hinter sich zuschlagend.
Vaddi interessiert sich hingegen weniger für das Geschehen in der Nachbarschaft. Er ist nur auf den Parkplatz vor seinem Haus bedacht. Deshalb hat er neben seiner Haustür ein Schild mit dem Text „Reserviert für 19“ angebracht. Gemeint ist der öffentliche Parkstreifen vor dem Haus. 19 ist Vaddis Hausnummer.
Weil allerdings nicht jeder Dahergefahrene sein Schild achtet, blockiert Vaddi den Parkplatz zusätzlich mit einem Anhänger, auf dem er im Herbst einmalig Kaminholz transportiert hat. Der Anhänger steht im Gestrüpp neben dem Parkstreifen. Wenn Muddi und Vaddi nun einen Ausflug machen, steigt Vaddi ins Auto und setzt es rückwärts vom Seitenstreifen auf die Straße. Derweil zerrt Muddi den Anhänger aus dem Gebüsch und platziert ihn mittig vor dem Haus. Kommen die beiden zurück, fährt Vaddi an den Parkstreifen heran, Muddi steigt aus, zerrt den Anhänger zurück ins Gebüsch, und Vaddi parkt an seiner Statt auf Parkplatz 19.
Seit einigen Wochen beobachte ich nun eine weitere Regelmäßigkeit, nämlich, wie pünktlich nach den Tagesthemen gegenüber das Licht ausgeht. Erst in den unteren Räumlichkeiten, dann in den oberen. Fünfzehn Minuten später allerdings geht das Licht unten wieder an. Dann steht Muddi mit einem Telefonhörer am Ohr am erleuchteten Fenster, während Vaddi oben schläft.
Erst dachte ich, dass sie einen Nebenerwerb am Laufen hat („Süße Bergarbeiterfrauen – heiß und willig“). Inzwischen bin ich mir allerdings sicher, dass sie sich gemeinsam mit einem nächtlichen Geliebten ein unbeschwertes Leben ohne Anhängerzerren erträumt. Vielleicht erlebe ich noch, wie er eines Tages vorfährt, in einem Auto ohne Anhängerkupplung, hupt und ihr durch die heruntersurrende Seitenscheibe zuruft: „Komm, Entenfrau! Jetzt oder nie!“ Dann watschelt sie in einem frisch gebügeltem Kittel aus dem Haus, steigt zu, und die beiden verschwinden ins Abendrot in Richtung Bochum.
Kommentare
32 Antworten: Bestellung aufgeben ⇓
Süß! ;)
Und toll geschrieben!
Oder sie bespricht noch mit Sergej, dem ukrainischen Auftragskiller (hatten wir den nicht schonmal vor Jahresfrist hier im Blog?), die letzten Details der hausinternen Gasleitung. An welcher Stelle sie genau anzubohren ist, um am 12. April pünktlich um 22:55 per Feuerzeug entzündet zu werden, just wenn Muddi mit dem Bademantel über dem Nachthemd zur Nachtapotheke gewatschelt ist, um Kopfschmerztabletten zu kaufen.
Schlüssige Idee.
Grigorij hat vergangene Woche zuletzt angerufen:
[russischer Akzent] „Challo … erbitte Informationen zu Vertrag 1234567. Brauche dringend Order für die weitere Vorgehensweise.“
Schön, dass es wieder Nachbarsgeschichten gibt :-))
Danke, Frau Nessy, dass Sie der Entenfrau eine Perspektive erdacht haben!
Herrlich, das rettete mir meinen grauen Montag-morgen!
Uiuiui, das Szenario erinnert gerade sehr an einen ganz bestimmten Hitchcock-Klassiker.
Lassen Sie sich blos nicht erwischen, Frau Nessy. Nicht auszudenken, die Entenfrau entdeckt Sie, und Sergej stattet Ihnen einen persönlichen Besuch ab – da machen Sie nix mehr…
Während die Entenfrau am erleuchteten Fenster steht, dunkle ich mein Zimmer ab, knie mich unter meine Fensterbank und beobachte meine Nachbarn durch ein im Kunstunterricht, 6. Klasse, mittels einer Wellpappe und zwei Spiegeln hergestellten Periskops. Keine Gefahr also.
…
(Nein. Natürlich Quatsch und gelogen. Ich knie nicht unterm Fenster, sondern hinter der Balkonbrüstung.)
Das mit dem Anhänger ist eine gute Idee… muss mal gleich einen Gebrauchten bei Ibäh suchen………
Außerdem brauchen Sie einen Herrn Vau oder kräftigen Nachwuchs, der das Zerren und Schieben übernimmt, während Sie sich im Auto schadlos halten
Woher hast du nur immer die vielen interessanten Nachbarn. Hier ist irgendwie alles viel langweiliger.
Dass es im Schwäbischen langweiliger ist, kann ich mir nicht vorstellen. Schlendere während des Homeoffice einfach öfter mal am Fenster vorbei und lass Deinen Blick schweifen.
„modisch im Segment Hauskittel und Feinrippunterhemd“
Großartig! Gefällt mir!
Die Entenfrau telefoniert doch sicher jede Nacht mit QVC und Tele-Shoppt sich den Haushalt voll – sicher gab es noch Sammelenten die ihr noch fehlen.
Vielleicht auch lebensechte Porzellanbabypuppen für die Sofalehne.
Ihre Tochter lebt doch in Amerika.
Weil der Schwiegersohn eine Professur in Princeton hat.
Und wenn der aus dem Haus ist, quatschen sie einfach, Mutter und Tochter, ganz billig, 1 cent pro Minute.
Und dem Mann ist das zu blöd.
Es geht ja nur um Enkel, Hund und dass in Amerika der Pudding so blöd schmeckt.
Ich hatte mal ne Nachbarin, die bekam nachts Besuch. Immer dann, wenn der Ehemann auf Schicht war und die Kinder im Bett, fuhr ein Auto vor, mit Licht aus.
Morgens war es wieder weg, logisch.
Aber sie ist dann auch ausgezogen.
War vermutlich zu anstrengend, das Ganze.
Vielleicht hat der Ehemann auch bald Geburtstag. Und sie möchte ihm etwas ganz Großartiges schenken, etwas, wofür sie nächtelang organisieren muss. In vier Wochen startet dann die große Party, mit Freunden aus Neuseeland und der Tochter aus den USA.
Eine Mottoparty.
Alle in Kittelschürzen, oder als Ente.
Ja, das ist ein netter Versuch, die Leser mittels einer putzigen Geschichte über eine Watschelente mit Anhängerzerrung vom Eigentlichen abzulenken.
Ich hingegen frage: Was passiert mit den Lottomillionen? Schon Pläne? Kopenhagen und so? Hier wartet eine Leserschaft auf Aufklärung und möchte … moment bitte … oh! …äähhh, Sie haben Ihren Lottoschein nicht zufällig in Stuttgart abgegeben? Naja, dann bitte ich um Entschuldigung und wünsche weiterhin gelungenes Entenbeobachten (im Hintergrund ertönt das Titelthema von „Das Boot“).
Der Jackpot ist also geknackt? Und ich war’s nicht? Das kann nur heißen, dass ich beim nächsten Mal garantiert dabei bin. Jedesmal zu verlieren (nicht mal 3 Richtige!) ist schließlich unmöglich.
//abt. gefühlte Wahrscheinlichkeitsrechnung
Huch – Sie müssen hier gleich um die Ecke wohnen
:-)
Wieso? Sind Sie der Entenvaddi?
Auf jeden Fall berichten, wenn sich bei der Entenfrau etwas tut… ;-) also ich warte auf die Fortsetzung!
Sie könnten rauszukriegen, was Muddi treibt.
Einfach mal „zufällig“ mit einer Ente vorbeiflanieren, man kommt ins Gespräch, freundet sich an und DANN Berichterstattung an die atemlos lauschende Blogleserschaft!
Ketchups und Oberinspektor haben eine schmerzliche Lücke hinterlassen.
Vielleicht versucht Sie einen größeren Anhänger aufzutreiben, wo er das Auto direkt reinstellen kann. Oder Sie bezirzt die Stadtverwaltung doch mal eine echte Markierung aufzumalen um das Schieben loszuwerden.
Oder es ist eben doch jemand aufgetreten, der eine stattliche Gartenzwergsammlung hat. So oder so: das Leben steckt voller Perspektiven!
Ist doch klar, sie ruft nachts immer im Keller der Kreisberufsschule bei Herrn Gnöttgens an
http://www.youtube.com/watch?v=A1XZFC5fX9M
Betrüblich, dass die Autorin sich auf ihre Seite schlägt, statt Perspektiven für den armen Entenmann zu bedenken. Der wird wohl so enden wie der Entenmann bei Terry Pratchett: obdachlos, verwirrt, in schlechter Gesellschaft … ;-)
Sehr schön vintage die Formulierung am Schluß:
„…steigt zu“.
Ich bevorzuge die dramatische Interpretation:
Vaddi arbeitete früher unter Tage und Muddi kümmerte sich um den Haushalt. Sie waren glücklich. Aber bei der letzten Zechenschließung musste er gehen, und da er sonst nichts gelernt hatte, leben sie seitdem von der Stütze.
Sie haben im Leben nicht viel erreicht, aber sie haben zumindest ein eigenes kleines Häuschen sogar mit einem Parkplatz vor der Tür. Und sie haben sich. Auch wenn die Zeit nicht spurlos an ihnen vorübergegangen ist, lieben sie sich noch immer.
Sie hatten einen Sohn, aber nach einem furchtbaren Streit mit seinem Vater ist er gegangen und nie wiedergekommen. Sie haben seitdem nie darüber gesprochen, aber sie weiß wie sehr ihn der Verlust schmerzt und wie sehr die Schuld auf ihm lastet.
Vaddi hat Krebs. Sie haben es vor einem Monat erfahren. Der Arzt hat sehr sorgenvoll ausgesehen. Lange wird es wohl nicht mehr gehen.
Jeden Abend wenn Vaddi schläft, telefoniert Muddi nun die Verwandten und Bekannten ab und versucht, den verlorenen Sohn zu finden. Wenn sie ihn gefunden hat, wird sie ihn überreden, wenigstens noch einmal seinen Vater zu sehen, damit Vaddi nicht so sterben muss.
Sie haben einen Hand zur Dramatik. Entenvaddi ist zwar nicht behende, aber ansonsten auf dem Posten. Wenn er unter etwas leidet, dann ist es dem äußeren Anschein nach die Bandscheibe.
[…] zum Frühschoppen im Hörder Treff zu sitzen, sich von Ludmilla die Hose kürzen zu lassen und die Entenfamilie zu besuchen. Hörde ist alles, Hörde ist gestern und heute, war Stahl und Schmutz, ist jetzt mit […]
[…] so nicht mehr. Wie heißt dieses Dreieck über den Krankenhausbetten? Ich brauche sowas. Und die Entenmutti, die könnte mir ihren Rollator leihen. Oder nein, ein Zivi wäre besser. Aber ach – die […]
[…] sie sich zur Sonne, jeden Tag drehe ich sie, stehe ein wenig bei ihnen und schaue mit ihnen zur Entenfamilie […]