Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Archiv der Kategorie »Expeditionen«

Danziger Bemerknisse #4 – Kaschubei

26. 12. 2015  •  1 Kommentar

Ostrzyce, am Seeufer: Geschnitzte Fischerfigur mit Boot im Hintergrund

Hübsch soll es sein, in der Kaschubei, sagen sie. Einen Berg gibt’s dort auch, steht geschrieben. Mit einem Turm drauf, auf den man steigen kann. Also fahre ich hin. Weg und Ziel sind ein bisschen unklar. Ostrzyce könnte gehen, lese ich. Von dort kann man irgendwie zum Wiezyca laufen, dem Turmberg.

Es ist windig, als ich aus dem Auto aussteige. Das Wasser auf dem See schlägt Wellen. Mützenwetter, ganz eindeutig. Winterjacken- und Handschuhwind.

Der Weg geht um den See herum, und dann irgendwie querfeldein, über Straßen und Wiesen und durch Wald, manchmal mit Wegen im Laub und manchmal nicht. Es ist hier ein bisschen wie im Sauerland, hügelig und ländlich, und ab und an stehen ein paar Pferde herum, die neugierig gucken.

Pferde neben einem Bahnübergang

Ich gehe durch einen Ferienpark mit Holzhäusern, deren Dächer bis zum Boden reichen.

Gegenüber stehen ein Gemeinschaftsgebäude mit Restaurant und einem Tanzsaal, dahinter ein Sportbereich für nicht näher beschriebenen Sport.

Ferienpark Ostrzyce-See

Das ist hier wie bei Dirty Dancing, denke ich: Häuschen an Häuschen für Familien aus der Stadt. Hier geht es im Sommer hoch her, das sehe ich auf einen Blick: Mütter und Väter zwischen Erholung und Erschöpfung, umherlaufende Kinder, ein bisschen Animation und erhitzte Teenager; das Wasser fürs Hebefigurenüben ist nur einhundert Meter den Berg runter.

Doch jetzt treibt der Wind das Laub über die Wiese. Kahle Äste wiegen sich knirschend in den Böen.

Am Fuße des Turmberg eine Gruppe Nordic Walker; die Pudelmützen entschlossen in die Stirn geschoben, marschieren sie stracks bergan. Mit ihren Stöcken pieksen sie Blatt um Blatt auf. „Dzień dobry“, grüßen sie kurzatmig, als sie an mir vorbeischnaufen. Das polnische „guten Tag“ lässt sich gut ausstoßen, „Dschin dobri“, das geht auch noch mit zusammengebissenen Zähnen, wenn man schon aus dem letzten Loch pfeift: „dschn dbry“.

Auf dem Gipfel steht ein Turm aus Holz und Stahl. 150 Stufen kann man hinaufklettern und hat freien Blick über die Baumwipfel der Kaschubei. Es ist windig dort oben; der Turm wankt. Ich murmle leise „Hui“.

Turmberg mit Holzturm auf dem Gipfel

Ich bin nun doch leicht verschwitzt. Die Winterjacke, sie eignet sich nicht sehr zum Wandern. Überhaupt eignet sich diese Jahreszeit nicht zum Wandern: Kalt ist es, aber bergauf wird’s heiß. Doch kaum bleibt man stehen oder geht’s bergab, wird’s wieder kalt. Das ist unerquicklich, das läuft im Sommer besser.

Der Rückweg zieht sich etwas – wie alle Rückwege: Ist das Ziel erstmal erreicht, lässt der Elan nach.

Ich gehe bis zum See und entpacke mein Stützbütterken: Vollkornschnitte mit Nutella. Das hilft über die letzten zwei Kilometer. Denn die Waffelbude am Seeufer hat zu. Die Fischbude auch. Und der Toilettenwagen. Alles hat zu; es ist Dezember. Hier ist mausetote Hose.

Ostrzyce-See mit Steg und Sprungturm ins Wasser

Zurück im Dorf Ostrzyce locken Ferienappartments und Fahrradverleih; man kann Kanu fahren und Pferde reiten, Piroggen und Eis essen. Aber nicht jetzt.

Aus Schornsteinen steigt Rauch auf. Ein alter Mann schlurft gebeugt und in Pantoffeln über die Straße. Weihnachtsbeleuchtung blinkt rhythmisch in die hereinbrechende Dämmerung.

Es ist 15 Uhr. Zeit, wieder heim zu fahren.

Tipp #4:
45 Minuten Autofahrt von Danzig in die Kaschubei. Von Ostrzyce auf den Turmberg (Wieżyca): 10 Kilometer Hin- und Rückweg. Im Sommer bestimmt auch toll zum Baden oder für einen längeren Aufenthalt im Ferienhaus.

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Danziger Bemerknisse #3 – Weihnachten

25. 12. 2015  •  2 Kommentare

Danziger Altstadt mit Neptunbrunnen an Heiligabend

  • Diese Stadt ist ein riesengroßes Freilichtmuseum. Ich erwarte jeden Moment, dass in Pluderhosen gekleidete Kaufleute, Schiffsarbeiter, Vertreter der Hanse und fahrende Gaukler um die Ecke kommen, die Kulisse füllen und ich 500 Jahre zurück ins Königliche Preußen reise.
  • Warka macht ein erstaunlich gutes Radler, sehr frisch. Das lässt sich gut trinken.
  • Bernstein ist ein großes Thema hier, und selbst als Nicht-Bernstein-Freund muss ich sagen, dass es tatsächlich ganz hübschen Bernsteinschmuck gibt – kleine, filigrane Dinge abseits der großen Klunker.
  • Am 24. und 25. Dezember haben Cafés und Restaurants geschlossen, alles ist geschlossen, wirklich alles. Essengehen ist erst am 26. wieder angesagt. Bis dahin muss man sich irgendwie versorgen. Die polnische Lebensmittelindustrie stellt dafür 1-Kilo-Packungen Fertigpiroggen zur Verfügung.
  • An Heiligabend beginnen die Menschen hier um 17 Uhr, 12 Gänge zu essen. Das schaffen sie so grad bis Mitternacht, dann ist Christmette. Ich habe überlegt hinzugehen, in die größte Backsteinkirche Europas – das kann man mal machen, dachte ich, aus architektonischen wie auch aus folkloristischen Gesichtspunkten. 25.000 Menschen sollen dort Platz finden – oder in Dortmunder Mengenangaben: eine Süd. Ich bin allerdings vorher eingeschlafen.
  • Frohe Weihnachten!

Tipp #2:
Hauptpost, ulica Długa: Fast zu hübsch zum Briefmarkenkaufen.

Tipp #3:
Stadtgraben Opływ Motławy mit seinen Bastionen: Beschaulich zum Spazierengehen in Stadtnähe – oder zum Joggen, Hundausführen, Kindlüften.

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Danziger Bemerknisse #2 – Westerplatte

22. 12. 2015  •  6 Kommentare

Westerplatte: Bunker mit Gedenkkerzen. Licht fällt durch eine Schießscharte.

Wenn man auf der Westerplatte steht, jener Halbinsel, wo die Deutschen am 1. September 1939 Polen angriffen und damit den Zweiten Weltkrieg begannen, empfindet man sehr deutlich, wie unmenschlich und idiotisch es ist, einen Krieg zu beginnen.

Ich bin sehr dankbar, in einem friedlichen, offenen Europa zu leben.

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Danziger Bemerknisse #1

21. 12. 2015  •  8 Kommentare

Danzig: Weihnachtsmarkt

  • Wenn Sie gedanklich mal loslassen möchten, setzen Sie sich ins Auto, hauen Sie den Tempomat rein und fahren Sie ein, zwei Tage durch Polen. Einfach geradeaus, links Kiefernwald, rechts Kiefernwald, Felder, wieder Kiefernwald. Auch als Fahrer haben Sie dabei ausreichend Gelegenheit, die Landschaft zu betrachten, es geht hier eher ruhig zu, und wenn Sie nicht nur Autobahn, sondern auch Landstraße fahren, lernen Sie ein paar Dörfer kennen, bevor Sie wieder durch Felder und Wald fahren.
  • Polen ist ein Land für Menschen, die Teigwaren mögen. Ich bin erst am Anfang meiner umfassenden Teigwarenfeldforschung, aber ich bin mir bereits sicher: Teigwaren können Sie hier von jeder Speisekarte bedenkenlos essen, sie schmecken immer großartig. Details arbeite ich derzeit in harten Testreihen aus; sobald ich Ergebnisse habe, erfahren Sie sie. #serviceblog
  • Papst Johannes Paul II. ist keinesfalls tot. Er ist höchst lebendig, zumindest in den Herzen der Polen; Fotos, Bilder, Spannplakate und Kühlschrankmagnete – es mangelt nicht an Präsenz. Der aktuelle Papst hingegen ist nirgendwo zu sehen.
  • Es gibt einen leichten Hang zu blinkendem Kitsch, vielleicht aber nur im Zusammenhang mit Weihnachten, was weiß ich schon.
  • Hefe befindet sich im Tesco Gdansk bei der Butter.
  • Bei Sauerkraut werden hier keine Gefangenen gemacht. Es wird mit großen Schaufeln aus großen Eimern verkauft. Bigos ist dennoch nicht einfach Sauerkraut mit Fleisch; dort scheinen noch andere Dinge drin zu sein, Dinge, die wir in Deutschland nicht hineintun. Ich werde das weiter beobachten.

Tipp #1:
Apfelkuchen und Kaffee im Café Ferber, Długa 77/78, Gdansk

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Sodbrennen in Sankt Georg

3. 09. 2015  •  8 Kommentare

Hamburg-St. Georg. Ich fotografiere das Schild.

Schild in Hamburg-St. Georg: Homophobie ist kacke

Ein älterer Herr kommt herangeschlappt.

„Was heißt’n das – Homophobie?“
„Das ist Angst vor Homosexuellen.“
„Kann ich mir nicht leisten. Hab schon Sodbrennen.“
„Ach“, sage ich und schaue ihn an.
„Nehm‘ zehnmal am Tag ne Pille dagegen. Nützt nix!“
„Oh je.“
„Hier“, er deutet auf seinen Hals. „Brennt wie Feuer. Aber letztens hat mich ne Wespe da reingestochen. Ein Rie-sen-flatschen! So dick!“
„Huch.“
„Aber wissen’se was? Seitdem hab ich kein Sodbrennen mehr.“

Dann schlappt er weiter.

Expedition nach Hamburg

25. 08. 2015  •  23 Kommentare

Am Wochenende war ich in Hamburg.

Blick vom Michel: Panorama über Elbe, Elbphilharmonie und Hafen

Ich war schon ein paar Jahre lang nicht in Hamburg. Es war Zeit, wieder hinzufahren. Ziel- und anlasslos – so, wie ich manchmal nach Berlin fahre. Oder nach München. Es gibt halt Städte, die mag ich regelmäßig besuchen. Außerdem wohnen in jeder Stadt Blogger oder Twitterer. „Man kann sich ja auch mal offline treffen“, denke ich mir bisweilen, wenn ich meinen sozialen Tag habe – so von Mensch zu Mensch, mit angucken.

In Hamburg wohnt zum Beispiel Frau Zimt. Nach einer Fahrt im Saunaexpress IC 2218 begrüßte sie mich stilecht mit einem kalten Astra. Das war schonmal ein guter Einstand ins Wochenende; und weil man auf einem Bein nicht stehen kann, gab es später an der Elbe noch ein zweites, während wir aufs Wasser starrten.

Eine Flasche Astra Alsterwasser vor der Kulisse der Elbe mit Hamburger Hafen

Aufs Wasser starren ist eine sehr beruhigende Sache und, wie sich herausstellte, eine der Tätigkeiten, die man in Hamburg besonders gut tun kann, auch als Laie. Der Wind wuschelt durch die Haare, Wellen klatschen gegen das Ufer, Schiffe ziehen vorbei. Es gibt keinen Grund, an etwas zu denken. Außer daran, wie der Wind wuschelt und die Wellen klatschen.

Natürlich muss man in Hamburg Bötchen fahren. Allein schon, um sich schunkeln zu lassen. Das ist dann sozusagen Wasserstarren, Level 2. Der HVV, der öffentliche Nahverkehr, bietet zu diesem Zweck freundlicherweise kostengünstigen Wassertransport an.

Hafenrundfahrt. Frau Nessy spiegelt sich im Außenbordspiegel.

Mit dem HVV sind wir an einen Strand gefahren. Von dort aus starrten wir wieder aufs Wasser.

Elbstrand. Leute baden. Containerschiff fährt vorbei.

Sie könnten jetzt den Eindruck gewinnen, als seien meine Freizeitaktivitäten in Hamburg etwas einseitig gewesen. Das stimmt so nicht, ich bin auch durch die Gegend gelaufen, durch den Elbtunnel, ich habe den Michel erklommen, war shoppen (<3), habe Urzeitdinge angeschaut und so viel Knoblauch gegessen, dass Stechinsekten vor meinem Gesicht ohnmächtig zu Boden fielen. In diesem Zusammenhang ein Tipp (#serviceblog): Wenn Sie in Hamburg Indisch essen gehen möchten, tun Sie das bei Ashoka. Frau Zimt, die Welt des Wissens und ich – wir waren so vollgefuttert, es ging am Ende nicht mal mehr ein Mangolassi rein.

Nichtsdestotrotz: Dasitzen und gucken ist in Hamburg eine der top Urlaubsaktivitäten – Leute, Schiffe, Hunde, Möwen, Spatzen, noch mehr Leute, noch mehr Schiffe.

Immer, wenn ich am Strand sitze oder ich Seeluft atme, werde ich übrigens unglaublich müde. Am Elbstrand bin ich nur deshalb nicht eingeschlafen, weil meine angewinkelten Beine ständig umfielen. Am Abend berührte mein Kopf kaum das Kissen, schon lag ich im Tiefschlaf. Keine wilden Träume, keine Grübeleien, kein Fremdeln, kein Wachliegen, kein Herumwälzen. Sehr erholsam, dieses Hamburg. Hätte ich keinen Grund gehabt aufzustehen, läge ich heute noch dort, den Mund leicht geöffnet, aus dem Rachen ein rhythmisches Röcheln.

Der Anlass, warum ich mich trotzdem erhob, war die liebe Frische Brise.

Was Hamburg im Übrigen auch sympathisch macht: Am Bahnhof werden Waffeln am Stiel verkauft. Auf der internationalen, 10-stufigen Waffelskala bekommen die Waffeln mindestens eine 8, wenn nicht gar eine 9. Das ist ganz klar Waffel-Champions-League.

Tschüss, Hamburg! Herzwaffel vor Bahnhofskulisse.

#

Mehr Bilder:

Elbe, im Vordergrund: Totenkopfmalerei auf Stein

Landungsbrücken

Michel-Hochhäuser

Michael: Treppenhaus

Alter Elbtunnel. Blick in die Flucht des Tunnels. Fahrradfahrer in der Ferne.

Alter Elbtunnel: Blick von unten in die Kuppel des Eingangs

Alter Elbtunnel: Eingang. Blick von oben auf Passanten durch ein gespanntes Netz.

Portugiesisches Viertel: Vespa vor buntem Beet

Altbaufenster mit einem auf die Fassade gemalten Rotkehlchen.

Hamburg, Dom: Riesenrad bei Nacht

Bis zum nächsten Mal, Hamburg!

Der Weg der Toastlaster

30. 07. 2015  •  33 Kommentare

Seit zwei Monaten fahre ich nun mit dem Auto zur Arbeit.

Das führt leider dazu, dass Ihnen und mir Geschichten aus dem öffentlichen Personennahverkehr entgehen. Außerdem komme nicht mehr so viel zum Lesen. Das ist ein stückweit bedauerlich. Insgesamt ist es aber deutlich praktischer, um nicht zu sagen unumgänglich, das Auto zu bemühen.

Fast jeden Tag, wenn ich auf der Bundesstraße zur Arbeit fahre, habe ich den Lkw einer großen Toastfirma vor mir. Es ist jene Toastfirma, deren Toasts meine Mutter immer kaufte, damals, als ich noch klein war und es besondere Anlässe gab. Denn Toast war in meiner Familie etwas Außergewöhnliches: Normalerweise aßen wir Graubrot, das gute Doppelback. Oder etwas mit Körnern. Nur zu Ostern und Weihnachten gab es weißes Brot, den guten Stuten – aus Ermangelung an Brötchen während der Feiertage; die Bäckereien hatten weiland über die Festtage geschlossen, die Älteren unter Ihnen erinnern sich (wir hatten ja nix).

Industriell hergestellten Toast gab es, wegen tatsächlicher oder vermeintlicher Gesundheitsbeeinträchtigungen, nur selten. Er war eine Süßigkeit oder sagen wir: eine Art Sonntagsfestbraten fürs Kind. Noch warm, kam dick Butter drauf, die langsam schmolz, die Mitte durchtränkte, sie weich und labbrig machte. Darauf kam dann ein Wurstbelag, der so dick war wie das dünne, butternasse Brot. Oder Schokocreme. Es war eine Wonne.

Ich empfinde also etwas für diese Toastmarke. Und nun fährt mir jeden Morgen ein Toastlaster vorweg.

Heute, nach Wochen der Freude und Konfusion angesichts der großen Anzahl an Toastbegegnungen, bin ich dem Lkw hinterher gefahren. Wie Privatdetektiv Matula bin ich ihm gefolgt, mit Abstand und konsequent, immer dem gelb leuchtenden Toastbrot hinterher, erst rechts, dann an der Ampel links, immer weiter und – Halleluja! Der Lkw führte mich zur Wiege des Toasts, an den Ort, wo alles beginnt, in den Kreißsaal des Röstbrots.

Ich hielt kurz inne. Dann fuhr ich weiter.

Auf dem Wochenmarkt

14. 06. 2015  •  10 Kommentare

Sie betreten den Marktplatz sehr langsam.

Ich sitze im Café und frühstücke, als sie von rechts in mein Blickfeld kommen. Er schiebt, über einen Rollator gebeugt, vorwärts. Sie, an seiner Seite, hat sich bei ihm untergehakt, ihre Hand ruht auf seinem Oberarm.

Es ist Markttag. Sie lächeln sich zu. Er hält inne, bedeutet ihr, stehenzubleiben. Dann geht er fünf wacklige Schritten in Richtung des Bäckerwagens, greift in seine Hosentasche und holt eine Kompaktkamera hervor.

Sie fährt sich durchs graue Haar. Dann legt sie die rechte Hand auf den Rollator, die linke stützt sie in die Hüfte. Sie winkelt ein Bein etwas an, die Fußspitze auf dem Kopfsteinpflaster. Sie trägt ein Kleid, türkis mit bunten Blumen. Sie schiebt ihre Hüfte vor, zieht die Schulterblätter zurück. Er hält die Kamera hoch, es blitzt.

Beide nicken sich zu. Er kehrt zum Rollator zurück und gibt ihr einen Kuss. Dann gehen sie weiter.

Der große Wanderratgeber

8. 06. 2015  •  38 Kommentare

Sandra möchte wandern, im Berchtesgadener Land. Sie ist noch nicht oft gewandert, weshalb sie Wanderausrüstung benötigt.

Liebe Frau Nessy,

bitte beugen Sie der Armut durch Funktionskleidung vor und klären Sie mich und andere Laienwanderer auf! Das wäre tatsächlich hilfreich, Outdoor-Ausrüster setzen anscheinend ein halbes Leben Wandererfahrung voraus.

Sie möchte also von mir wissen: Was soll ich anziehen? Muss ich all das Funktionszeugs kaufen, das im Laden hängt?

Herr Buddenbohm ignoriert die Thematik, aber das hier ist ja ein Serviceblog. Deshalb habe ich einen kleinen Ratgeber zusammengestellt.

Als freudige und erfahrene Urlaubs-Wanderin antworte ich auf alle Ausrüstungsfragen mit einem entschiedenen „Komm drauf an!“

Meine Tipps von unten nach oben:

Schuhe

Wenn man nur auf geschotterten Spazierwegen läuft, kann man getrost flache Treckingschuhe oder zum Einstieg bequeme Freizeitschuhe tragen.

Aber es geht ja ums Wandern. Ich selbst kraxel auch und mag deshalb Schuhe mit hohem Schaft. Sie müssen aus meiner Sicht drei Eigenschaften haben:

  1. Sie sollten hervorragend passen, auch beim Bergablaufen, wenn man im Schuh nach vorne rutscht. Also lieber etwas länger als kürzer kaufen.
  2. Sie sollten wasserdicht sein. Wer nicht nur auf leichten Wanderwegen läuft, sondern auch mal im Gelände, muss irgendwann durch kleinere Bäche. Außerdem regnet’s auch mal heftiger.
  3. Sie sollten gut durchlüftet sein.

Ich trage lederne Wanderstiefel von Hanvag. Ich fette sie von Zeit zu Zeit ein, stand mit ihnen schon bis zum Knöchel im Wasser und habe nie heiße Füße.

Wanderratgeber: Schuhe

Meine Ausrüstung an den Füßen: lederne Wanderschuhe von Hanvag, gekauft 2004 im Globetrotter in Hamburg, dicke Wandersocken.

 

An guten Schuhen sollte man nicht sparen. Auf die Zeit gerechnet – ich habe meine Schuhe jetzt seit elf Jahren und sie sind immer noch gut -, sind teure Schuhe außerdem gar nicht teuer.

Wenn die Füße weh tun, ist die ganze Wanderei sowieso für die Tonne.

Socken

Beware of Socke des Grauens. Wenn irgendwas unter der Fußsohle hin- und herrutscht, erleben Sie Ihre persönliche Vorhölle. Deshalb trage ich nur dicke, passgenaue Wandersocken.

Die können preiswert sein; Discounter oder Kaffeeröster haben gute Sachen. Sockenklimagedöns finde ich persönlich überschätzt. Ebenso alles, was die Blutzirkulation anregt, irgendwas zusammenpresst oder was weiß ich. Es sei denn, Sie haben tatsächlich medizinische Probleme, aber dann sind Sie ohnehin bei einem Venen-Doktor unter Vertrag und kennen sich aus.

Hose

Das Wichtigste: Sie dürfen sich keinen Wolf laufen. Denn dann – siehe Socken-Vorhölle.

Jeans finde ich persönlich unpraktisch, weil zu dick und zu eng zum Wandern. Wenn man schwitzt, kleben sie am Bein, und die Nähte scheuern. Ich laufe deshalb in weiten Stoff- bzw. Treckinghosen. Die wackere Wandersfrau muss schließlich auch mal einen beherzten Schritt tun oder über ein Bächlein springen.

Ab 10 Grad Außentemperatur laufe ich in kurzer Buxe. Ich mag es nicht, wenn mir etwas um die Waden schlackert. Wer uneins mit sich ist, leicht friert und leicht schwitzt, sich vor Insekten und Dornen fürchtet, kann in lang gehen oder sich Hosen kaufen, deren Beine man ab- und wieder dranmontieren kann. Das ist aber mehr etwas, was man vor der Wanderung tut. Während einer Wanderung habe ich meine Hose noch nie umgebaut.

Große Taschen auf den Oberschenkeln finde ich praktisch, damit ich unterwegs mal ein Taschentuch, die Kamera, das Handy und den Wanderführer unterbringen kann. Die haben also tatsächlich einen Sinn.

Unnerbux

Sie können gerne Funktionsunterwäsche kaufen, wenn Sie Ihr Geld verzweifelt unter die Leute bringen möchten. Ansonsten können Sie es lassen.

T-Shirt

Hier hält der Handel einen bunten Strauß von Produkten bereit, die weitestgehend unnütz sind. Zumindest für Hobbywanderer im Berchtesgadener Land.

Ich selbst trage stinknormale Baumwolle – und damit das, was ich im Schrank habe.  Allerdings ziehe ich immer ein Leibchen drunter. Die unterste Schicht nimmt den Schweiß auf, die oberste bleibt trockener. Man kann beides unabhängig voneinander wechseln, und das Leibchen bleibt immer schön in der Hose, wenn man die Arme nach oben reckt – zum Beispiel, wenn man an einem Ast über dem Abgrund hängt.

Wanderratgeber: In den Wolken auf dem Pico Bejenado, La Palma.

Auf dem Pico Bejenado (1854 m), La Palma. 800 Höhenmeter im Auf- und Abstieg, 4 Stunden Gehzeit. Gestartet in Leibchen und T-Shirt, auf dem Gipfel mit Leibchen, T-Shirt, Langarm und Windbreaker-Weste.

 

Obendrüber: Jacke, Weste etc.

Mir wird relativ schnell warm, wenn ich erstmal loslaufe. Oft wird es mit zunehmender Höhe aber kühler (man sagt: pro 100 Höhenmeter 1 Grad), windiger, oder das Wetter schlägt mal um.

Deshalb habe ich immer eine winddichte Weste dabei. Wind ist fies, vor allem, wenn man verschwitzt ist. Außerdem habe ich immer ein langärmeliges Shirt oder eine Shirt-Jacke im Rucksack – also so ein Langarm-Dingsi mit Reißverschluss vorne. Hilft gegen Kühle und gegen Sonne.

Wenn man dann alles übereinander zieht – Leibchen, T-Shirt, Langarm-Shirt und zum Schluss die Weste – ist einem auch bei der Rast auf dem windigen Gipfel schön warm.

Wanderratgeber: Kleidung in größeren Höhen

Wanderung auf den Montaña Blanca (2748 m), Teneriffa. 1000 Höhenmeter im Auf- und Abstieg, Länge nur 9 km (18 hin und zurück), Gehzeit aber: 6 Stunden. Steile Hänge, extremer Wind und kühle Temperaturen aufgrund der Höhe, deshalb ausnahmsweise oben und unten in lang.

 

In Jacken staut sich die Hitze, sie kleben an den Armen, und man hat schnell seine kleine, feine Privatsauna. Deshalb nehme ich eine Jacke nur mit, falls es doll regnen soll.

Halstuch

Nö.

Sonnenbrille

Ja. Unbedingt.

Kopfbedeckung

Auf den Kanaren und an heißen Sommertagen im Berchtesgadener Land trage ich Bandana. Hält den Schweiß aus den Augen, leitet die Wärme gut ab und macht, dass ich mir nicht den Scheitel verbrenne.

Rucksack

Wenn Sie Tagestouren machen, brauchen Sie ein Daypack.

Ich finde es praktisch, wenn der Rucksack möglichst viele Fächer hat. Dann muss man nicht bei jedem Griff herumkramen. Außentaschen sind gut für Taschentücher, Sonnenbrille, Sonnencreme, Kamera, Haarspange und all das Schickeldi. Innentaschen sind gut für Wertsachen. Sehr zu empfehlen: elastische Fächer an den Seiten, in denen Sie Getränkeflaschen unterbringen können. Dann müssen Sie nicht immer im Rucksack herumkramen, wenn Sie einen Schluck nehmen möchten.

Ich persönlich mag Belüftungssysteme, bei denen der Rücksack nicht direkt auf dem Rücken klebt.

Achten Sie darauf, dass der Rucksack die richtige Länge hat und gut auf den Hüften aufsitzt. Mit denen tragen Sie den Rucksack nämlich auch. Wenn Sie beleibt sind, sollte der Hüftgurt lang genug sein – vorher testen.

Trinksystem

Wenn Sie nicht gerade 30 Kilometer in unter 4 Stunden laufen und dafür einen Preis gewinnen wollen, brauchen Sie sowas nicht.

Wanderstock

Ja. Aber nur einer.

Auf flacher Strecke unnütz, in den Bergen tatsächlich ein nettes Gimmick. Man kann sich an ihm den Hang hochziehen und beim Bergrunterlaufen abstützen. Außerdem hilft er an manchen Stellen, das Gleichgewicht zu halten und sichert ab.

Mit nur einem Stock hat man die andere Hand frei, um sich am Fels festzuhalten. Der Stock sollte eine Schlaufe haben, falls man die zweite Hand ebenfalls zum Festhalten braucht.

Wanderstöcke haben unten eine Spitze. Walking-Stöcke mit Gummi-Nuppsis sind beim Wandern nutzlos.

Wanderratgeber: Nebel

Die schönste Tour des bayerischen Oberlandes: Über den Herzogstand zum Heimgarten und hinunter. Mit der Seilbahn hinauf, 400 Höhenmeter im Aufstieg, 1140 Höhenmeter im Abstieg, 6 Stunden Gehzeit. Eine tolle Aussicht auf Kochelsee und Walchensee – wenn’s nicht grad neblig ist.

 

Fazit:

Sie brauchen gute Schuhe und Wandersocken, nach oben hin wird es immer egaler.

Das ziehe ich zu einer Sommer-Wanderung im Berchtesgadener Land an:

  • Wanderschuhe und Wandersocken
  • kurze Buxe
  • Leibchen & beliebiges Baumwoll-T-Shirt
  • bei Sonne: Bandana

Das packe ich in meinen Rucksack:

  • Wasser. 4 Stunden – 2 Liter pro Person. Mehr als 5 Stunden oder mehr als 25 Grad – 3 Liter. Übrigens auch, wenn ich zwischendurch auf der Hütte einkehre und mir eine Maß Helles in meinen Körper stelle. Ich verlasse mich nicht auf externe Quellen.
  • dünnes Langarm-Shirt
  • winddichte Weste
  • Regenjacke – nur wenn tatsächlich Gefahr besteht, dass es einen längeren, fetten Schauer gibt
  • Sonnenbrille
  • Gedöns: Sonnencreme, Pflaster, Ersatz-Kontaktlinse und Brille, Notfall-Ibu – was ich halt so fürs Befinden brauche.
  • eine Plastiktüte, in der ich meinen Müll wieder mit runter vom Berg nehme
  • Proviant: Brot, Banane und Kekse.

Ich nehme immer ein aufgeladenes Handy und einen Ersatz-Akku mit. Es ist mir noch nicht passiert, dass ich Hilfe brauchte, aber ich war schon oft in Gelände unterwegs, wo es hätte sein können – auch ohne besondere Risikobereitschaft. Man vertritt sich schneller, als man denkt.

Wanderratgeber: Blick vom Gipfel ins Tal

Halbtageswanderung auf den Altavista (1377 m), Gran Canaria. 450 Höhenmeter im Auf- und Abstieg, 3 Stunden 15 Gehzeit. Kleidung: oben kurz, unten kurz.

 

Die besten Wanderführer:

Sind von Rother.

Pro-Tipps:

Die Zeit-Angaben im Wanderführer sind reine Gehzeiten – ohne Pause. Normale Wandersleut machen aber zwischendurch Brotzeit, Fotos und bewundern die Aussicht; die Zeit müssen Sie draufrechnen. Ich selbst laufe ziemlich exakt in Rother-Wanderführer-Geschwindigkeit – das müssen Sie aber für sich ausprobieren. Es ist keine Schande, langsam zu sein und die Gegend zu genießen.

Viele sagen: Runter ist anstrengender als rauf. Finde ich in leichtem Gelände nicht, dort gehe ich gerne bergab. Sobald man jedoch unregelmäßigen Tritt hat, der Untergrund rutschig ist oder man  kraxeln muss, stimmt das ganz sicher.

Wanderratgeber: Kratzwunden

Risikosport Wandern: durch die Schlucht des Poqueira, Andalusien, 900 Höhenmeter im Auf- und Abstieg, 6 Stunden Gehzeit – und ein veralteter No-Name-Wanderführer, der durch Dornbüsche lotste. Leichte Verzweiflung zwischendurch.

 

Um die Anstrengung zu kalkulieren, ist nicht die Länge einer Strecke entscheidend, sondern die Kombination aus Höhenmetern und Weglänge. Je weniger Strecke pro Höhenmeter, desto uff. Meine Erfahrung, ganz persönlich:

  • 100 Höhenmeter auf 1 Stunde Gehzeit: locker
  • 100 Höhenmeter auf 45 Minuten Gehzeit: anstrengend, aber gut
  • 100 Höhenmeter auf ½ Stunde Gehzeit: erfordert Kondition und Willen

Wenn Sie am Ende der Wanderung das Gefühl haben, dass Sie noch eine Stunde weitergehen könnten, war es die richtige Belastung.

Um ein Gefühl für die richtige Tour zu bekommen, sollten Sie bei der ersten Wanderung nicht mehr als 400 Höhenmeter und nicht länger als 4 Stunden laufen und das Befinden am nächsten Tag abwarten.

Traugott auf großer Fahrt

3. 06. 2015  •  31 Kommentare

Seit dem vergangenen Sommer habe ich einen treuen Begleiter. Er heißt Traugott und fährt mit mir Auto.

Traugott-Simon-Kasten im Kofferraum

Traugott war mit mir im Rheinland und in Niedersachsen. Er war im Sauerland und wird, so das Schicksal es möchte, noch ins Ausland reisen. Vielleicht in die Niederlande oder nach Belgien. Es gibt noch keinen Plan, aber wir halten aneinander fest.

Traugott freut sich besonders, wenn er nicht im Kofferraum fahren muss. Ab und an, wenn es im Heck zu eng wird, zieht er auf die Rückbank. Dann sieht er beim Fahren den Himmel und die Bäume, er kann das Licht spüren und die Wärme der Sonne.

Er wirkt dort glücklicher, nicht wahr?

Traugott-Simon-Kasten auf der Rückbank

Traugott kam vor knapp einem Jahr zu mir, damals randvoll. Jemand brachte ihn mit, ich weiß nicht mehr, wer. Die Handballerinnen tranken ihn aus, ich durfte ihn behalten und versuchte, ihn wegzubringen. Doch niemand wollte ihn haben.

Ich reiste zum Getränkecenter, zum Supermarkt, zum nächsten Getränkecenter. Überall sagten sie: „Den nehmen wir nicht.“ Also kassierte ich für sein Innenleben und lud ihn ansonsten wieder ein.

Einmal, vor einigen Wochen, unternahm ich wieder einen Versuch, Traugott auszusetzen. Als ich erneut eine Absage bekam, versammelten sich Rentner um uns. Es war morgens um 11 an einem Donnerstag.

„Den kannste nur im Edeka abgeben, in Körne.“
„Kennste, Mädken, woll? Körne!“
„Sonst führt den keiner.“
„Wundert mich nich! Der schmeckt auch nich!“
„Nur inne Not.“
„Inne Not schmeckt d’e Wurst auch ohne Brot.“

Ich komme selten in Körne vorbei. Es liegt nicht auf meinen Wegen.

So fährt er – der Kasten, den niemand haben möchte – weiter mit mir. Manchmal beherbergt er Kleidung, manchmal Werkzeuge. Manchmal transportiere ich Blumen in ihm, für den Balkon. Ich kann mich auf ihn stellen und auf ihm sitzen. Er ist mir ans Herz gewachsen.

Wenn unsere Zeit gekommen ist, werde ich nach Körne fahren und ihn gehen lassen. Doch noch fühle ich sie nicht – die Kraft loszulassen.



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