Kindererziehung
Mutti und Sohn in der Obst-Abteilung des Ghettonetto:
„Gehstu wohl mitm Maul von die Pflaumen wech! Andere Leute wolln die auch noch essen. Kannz über die Bananen lecken, die ham Schale!“
Mutti und Sohn in der Obst-Abteilung des Ghettonetto:
„Gehstu wohl mitm Maul von die Pflaumen wech! Andere Leute wolln die auch noch essen. Kannz über die Bananen lecken, die ham Schale!“
Das Ghetto-Netto hat eine neue Kassierin.
Sie ist jung, blondgefärbt, trägt Glitzernagellack und verachtet ihre Kundschaft – all diese Menschen, die ihr ihre kostbare Lebenszeit stehlen, indem sie Waschmittel, Frischkäse und Kirschjoghurt kaufen. Mit zusammengekniffenen Augen und zu einem Strich gepressten Lippen hockt sie krummrückig hinter ihrem Scanner, ihr Blick ein Laserschwert.
Ihre schlagkräftigste Waffe ist aber nicht ihre Mimik. Ihr Dolchstoß ist das Kassenband, das sie mit Präzision und Niedertracht entgegen jeglicher Serviceregeln bedient. Ist der Kunde gerade dabei, Waren aufzulegen, hält sie es an. Zwischen ihr und dem Beginn der Waren sind noch zwei Armlängen Platz, aber sie kassiert zunächst den Vordermann ab, blind für die Bedürfnisse des Nachfolgenden, taub für seine Bitten. Erst, als sie damit fertig ist, stellt sie es wieder an – und wird gleichzeitig zur Besessenen, wenn sie beginnt, die Waren einzuscannen. Zwei, drei, vier Teile pro Sekunde. Piep! Piep! Piep! Piep! Mit ihren Glitzernägeln krallt sie sich die Packungen, zieht sie über den Scanner und wirft sie auf das Förderband hinter der Kasse. Man kommt gar nicht so schnell nach mit dem Einräumen. Man ist ja noch mit dem Auflegen beschäftigt. Jede eingescannte Ware schiebt die frischen Einkäufe zu einem Knäuel zusammen. Wasserflaschen zerpressen die Tomaten. Pfirsische bangen um ihr Leben. Das Band, das vorher nicht lief, läuft jetzt umso schneller. „23 Euro 3! “ brüllt sie dann. Und befiehlt: „Drei Cent!“ Sie fragt nicht, ob man es passend hat: Sie ordnet Kleingeld an.
Es nützt nichts, freundlich zu ihr zu sein. Es nützt nichts, besonders zuvorkommend zu lächeln. Es nützt auch nichts, ihr noch einen reinzudrehen und mit Karte zu zahlen. Sie bleibt die misanthropischste Kassiererin des Ruhrgebiets.
Man sollte Dieter Bohlen anflehen, sie auf seine Bühne zu lassen. Damit sie endlich berühmt wird, so wie es ihr zugedacht ist, und nicht mehr unsere Tomaten tötet.
Das Ghettonetto hat eine entscheidende Schwäche:
Es hat zu wenig Einkaufswagen. Besonders an den Publikumstagen Freitag und Samstag befinden sich keine in der Parkschleife.
Ich stehe neben den Kassenbändern und warte auf das nächste frei werdende Wägelchen. Eine knittrige Mittdreißigerin bezahlt Formfleisch, Fertiggerichte und zwei Dosen Tabak und räumt alles in ihren Einkaufswagen. Ihr struppiges Haar ist verblichen. Ihre Tochter, ein blondes Herzchen mit Hello-Kitty-Sandalen, schüttelt eine gelbe Ghettonetto-Tüte auf und beginnt, die Sachen einzupacken.
„Geh wech mitte Tüte!“ herrscht die Knittrige sie an, und das Mädchen erschrickt. „Geh da vorne inne Ecke damit. Die Leute sollen ruhich auf unsern Wagen watten. Ich watte auch schon mein ganzes Leben auf ’nen Prinzen.“
Als sie alles eingepackt hat und die Tüte am langen Arm hält, schiebt sie mir mit der freien Hand den Wagen rüber. „Hier“, sagt sie. „Kannze haben. Und von dem Chip, der da drin is‘, kannze dir auffe Kirmes ’ne Rose schießen. Macht sonst eh keiner.“
Dann fasst sie ihre Tochter zwischen die Schulterblätter und schiebt sie zur Tür hinaus.
Mein Viertel steckt voller interessanter Geschäftsmodelle.
Neben Einszehn, dem Trinkhallenchamäleon mit der besonderen Preisstruktur, und Franco Gelatti, dem Vorreiter des Cross-Selling, verfolgt auch mein Frisör ein innovatives Konzept zur Kundenbindung. Schalten Sie Ihren Ton an und besuchen Sie mit mir den „Salon Chic“ von Sedat und Valentina:
Wenn ich zum Frisör gehe, gehe ich zu Sedat. Oder, wie man hier im Viertel sagt: Geh isch Haare, geh isch Sedat.
Sedat ist der Frisör hier um die Ecke, neben Einszehn. Einszehn kennen Sie noch, ne? Jedenfalls – Sedat gehört der Laden nicht, weil Sedat nämlich gar kein Frisör ist. Der Laden gehört seiner Frau – Valentina. Sie hatte gelernt die Frisör in die Heimat. Valentina hat auch die Hosen an. Sie sagt Sedat immer, was er tun muss, mit einem leichten Vorwurf: „Sedat! Kuksdu! Maksdu wekke die Haare von die Boden! Is alles voll von die Haare hier! Gehte Kundin nache Hause, hatte die Fell an die Fuße!“ Dann nimmt Sedat den Besen und fegt die Haare weg.
Sedat selbst schneidet aber auch, obwohl er es nie gelernt hat. „Pflege isch die Kunst von die intuitive Schneiden, aber mache isch nur bei Männer! Mach isch brrrrrr mitti Maschine, haste du gute Frisur passend für Auto.“
Ich sitze im Damenbereich und lasse mir die Haare von Valentina machen. „Maken wir die Farbe und die Spitzen! Musse schneiden die Spitzen, is ganz voller Spliss! Musse maken die Ansatz, is nicht uuubsch.“ Und wie ich so unter meiner Folie sitze, gucke ich zu Sedat rüber.
Und da kommt so ein junger Typ rein, keine Haare auf der Brust, aber Glitzerkette, und sagt: „Aaaah, was geht, Sedat? Kannsu Haare schneiden?“ Und Sedat sagt: „Kumm rain, bissu mein Freund, kann isch Haare schneiden.“ Er macht brrrrrr mit der Maschine, und der Typ geht wieder, ohne zu bezahlen, ohne alles. Dann kommt der nächste: „Aaaah, Sedat, Kannsu Haare schneiden?“ Und Sedat schneidet Haare.
Als ich dann an der Kasse stehe, frage ich: „Ist hier für Männer eigentlich umsonst?“ Und Sedat sagt: „Iss auch fur Frauen umsonst. Wenn du haste sehn Haarschnitt, hassu elfte Haarschnitt umsonst.“ – „Also hatten die gerade alle ihren elften Haarschnitt?!“ – „Nä, hatte auch neunte Haarschnitt und funfte, aber bessahlen ihre Umsonst-Haarschnitt in Voraus.“
So ist das hier in der Gegend. Hier kannst du deinen Umsonst-Haarschnitt im Voraus bezahlen.
Gegenüber meiner Wohnung befinden sich Zechenhäuser:
Kleine, bunt angemalte Häuschen mit schmalem Grundriss, zwei Fenster unten, zwei Fenster oben und ein ausgebauter Spitzboden. Zur Straße hin sind sie winzig, dahinter aber liegt eine beachtliche Scholle, auf der meine Nachbarn, verrentete Bergleute und krummrückige Stahlarbeiter, Tomaten züchten oder breitbeinig in quietschenden Hollywoodschaukeln und auf bunt gepolsterten Alustühlen sitzen, während Andrea Berg aus einem Kassettendeck schwülstige Lieder singt.
In jenem Haus, auf das ich von meinem Balkon aus blicke, wohnt die Entenfamilie. Die Entenfamilie besteht eigentlich nur aus Muddi und Vaddi, heißt aber so, weil aus dem Fenster im ersten Stock eine vergilbte Sammlung unterschiedlich großer Porzellanenten auf die Straße schaut. Muddi und Vaddi sind beide deutlich übergewichtig und modisch im Segment Hauskittel und Feinrippunterhemd anzusiedeln.
Muddi besitzt neben ihrem natürlichen Stil & Chic eine besondere Fähigkeit: Sie hat das absolute Gehör. Sobald ein Geräusch die Straße hinunter hallt, steckt sie ihren matronenhaften Körper in die Haustür, beugt sich über die Vordertreppe hinaus auf den Bürgersteig, schaut nach links, schaut nach rechts und prüft mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenen Augen die Lage. Meistens ist nichts los. Dann watschelt sie wieder hinein, die Tür laut hinter sich zuschlagend.
Vaddi interessiert sich hingegen weniger für das Geschehen in der Nachbarschaft. Er ist nur auf den Parkplatz vor seinem Haus bedacht. Deshalb hat er neben seiner Haustür ein Schild mit dem Text „Reserviert für 19“ angebracht. Gemeint ist der öffentliche Parkstreifen vor dem Haus. 19 ist Vaddis Hausnummer.
Weil allerdings nicht jeder Dahergefahrene sein Schild achtet, blockiert Vaddi den Parkplatz zusätzlich mit einem Anhänger, auf dem er im Herbst einmalig Kaminholz transportiert hat. Der Anhänger steht im Gestrüpp neben dem Parkstreifen. Wenn Muddi und Vaddi nun einen Ausflug machen, steigt Vaddi ins Auto und setzt es rückwärts vom Seitenstreifen auf die Straße. Derweil zerrt Muddi den Anhänger aus dem Gebüsch und platziert ihn mittig vor dem Haus. Kommen die beiden zurück, fährt Vaddi an den Parkstreifen heran, Muddi steigt aus, zerrt den Anhänger zurück ins Gebüsch, und Vaddi parkt an seiner Statt auf Parkplatz 19.
Seit einigen Wochen beobachte ich nun eine weitere Regelmäßigkeit, nämlich, wie pünktlich nach den Tagesthemen gegenüber das Licht ausgeht. Erst in den unteren Räumlichkeiten, dann in den oberen. Fünfzehn Minuten später allerdings geht das Licht unten wieder an. Dann steht Muddi mit einem Telefonhörer am Ohr am erleuchteten Fenster, während Vaddi oben schläft.
Erst dachte ich, dass sie einen Nebenerwerb am Laufen hat („Süße Bergarbeiterfrauen – heiß und willig“). Inzwischen bin ich mir allerdings sicher, dass sie sich gemeinsam mit einem nächtlichen Geliebten ein unbeschwertes Leben ohne Anhängerzerren erträumt. Vielleicht erlebe ich noch, wie er eines Tages vorfährt, in einem Auto ohne Anhängerkupplung, hupt und ihr durch die heruntersurrende Seitenscheibe zuruft: „Komm, Entenfrau! Jetzt oder nie!“ Dann watschelt sie in einem frisch gebügeltem Kittel aus dem Haus, steigt zu, und die beiden verschwinden ins Abendrot in Richtung Bochum.
Zwei Chicks in der U-Bahn.
Chick One: ‚Schab voll Hunger auf Nudeln.
Chick Two: Komm, wir gehen Italiener.
Chick One: Nä, Pizza hab’isch kein Bock.
Chick Two: Boah, du Versager! Nudeln sind auch italienisch.
Chick One: Nudeln sind voll muslim! Mein Freund is‘ Türke und isst nur Nudeln, weil is‘ ohne Schweinefleisch!
Chick Two: Und Spaghetti Bolognese, hä?
Chick One: Is‘ mit Gehacktes, nich‘ mit Fleisch!
Freitagseinkauf. Ich stehe im Netto vor den Dosen und suche Pfirsiche. Hinter mir räumt ein Typ Regale ein. Eine Schnalle in Minirock und Schnürstiefeln stürmt den Gang. Die Zwei begrüßen sich mit Küsschen links, Küsschen rechts. Dann:
Sie: Isch muss dir was erzählen, ey. Der will tatsäschlisch einen Vattaschaftstest, ey.
Er: Christian, oder was? Hat er gesagt, oder was?
Sie: Der denkt, isch hätt‘ mit Hassan gef/ckt.
Er: Hast du doch auch.
Sie: Nur einmal, ey. Davon wird man doch nisch schwanger.
Sie stampft in kurzen Schritten den Gang auf und ab.
Die Pfirsiche sind total schwierig zu finden.
Sie: Dabei ist das scheißegal. Isch krisch eh von sein Hartzvier nix ab.
Er: Vielleicht, wenn Hassan der Vater ist, kriegst du von seine Geld was ab.
Sie: Meinst du, weil Hassan Job hat, muss er bleschen, oder was?
Er: Ja klar. Wenn du Kind hast und Job hast, musst du zahlen.
Sie: Alta, ey, gut, dass isch keine Job hab.
Er: Du hast das Kind. Du bist sowieso gef/ickt.
Sie: Dann geh isch zu Jugendamt und sag denen, Hassan is‘ der Vatta.
Sie küsst ihn links und rechts auf die Wange.
SIe: Danke, ey. Es gibt doch noch Gereschtischkeit auf die Welt.
Am ersten Tag kaufe ich zwei Flaschen Apfelschorle.
„Zwei zwanzig“, sagt er, und ich zahle.
Am zweiten Tag kaufe ich einen Liter Zitronenbrause und ein Mars.
„Zwei zwanzig“, sagt er, und ich zahle.
Am dritten Tag kaufe ich ein Radler und eine große Flasche Cola.
„Zwei zwanzig“, sagt er, und ich zahle.
Am vierten Tag – Fußballgucken! – kaufe ich fünf Radler und lege ihm fünffünfzig hin. „Kennste du schon meine Preise“, sagt er anerkennend und erklärt sein Geschäftsmodell:
„Einszehn iste gute Preis: einszehn, zweizwanzig, kapieren die Leute. Und kuksdu: Cola iste bei mir immer große Cola, iste immer eins komma funf. Denken die Leute: Oh, so große Cola, so billig, iste super! Aber! Bier iste kleine Flasche, iste nur null drei. Und mit Bier und Cola iste so: Bier trinken die Leute, weil sie mussen trinken Alkohol. Cola trinken sie fur die Genuss. Muss iste teuer, Genuss iste billig. Iste große Suggestion hier. Große Geschäft fur mich.“
In der näheren Umgebung meines neuen Domizils befinden sich die Schnellpizzeria „Da Carlo“, der langsamste Dönermann der Welt und ein Büdchen.
Carlo verdient keine nähere Erwähnung; er bietet grundsolide Verpflegung: Pizza Salami für unter vier Euro, dazu ein Union Pils – und Sie sind mit einem Fünfer dabei.
Der Dönermann bietet wahrscheinlich auch sehr gute Produkte an. Doch weil Dönermann der langsamste Schnellimbiss der Welt ist, habe ich dort bis anhin nur in einer Warteschlange gestanden.
Die Schlange besteht aus genau zwei Personen: mir und einer dürren Bebrillten Anfang Vierzig, die für sich und ihren Sohn einmal Pommes Schranke und einmal Lahmacun verlangt. Dönermann sucht zunächst die Fladen mit dem Hack, findet nur welche ohne Hack, sucht dann das Hack – auf der Theke, unter der Theke, im Verschlag hinter der Theke und findet es schließlich in der Kühlung. Gottlob. Er bestreicht den Fladen mit dem Hack, schiebt ihn in den Ofen und wartet. Dabei schaut er entrückt an mir und der Bebrillten vorbei auf die Straße, wo eine Oma ihren Hackenporsche über den Bürgersteig zerrt.
„Möchten Sie nicht auch die Pommes heiß machen?“ fragt die dürre Bebrillte nach einer Weile. Dönermann schreckt aus seinen Gedanken hoch, starrt sie an, greift dann zu seinem Holzschieber, öffnet den Ofen, wendet das Lahmacun, stellt den Schieber wieder auf Seite und seinen Blick zurück auf unendlich.
„Pommes. Wir wollten auch Pommes“, sagt die dürre Bebrillte. Das Vibrato in ihrer Stimme verheißt nichts Gutes. Dönermanns Blick verharrt in der Tiefe des Raumes, als er antwortet: „Mach isch erst Lahmacun. Mach isch eins nach andere.“
Die Bebrillte schnauft vernehmlich. Das Kind, das bislang reglos neben ihr stand, schaut zu ihr auf, ergreift ihre Hand und flüstert: „Keine Pommes heute?“ – „Doch, Thimon, bald.“
Dönermann holt den Fladen aus dem Ofen und legt ihn auf den Tresen vor seinem Bauch. „Mit alles?“ Die Bebrillte nickt. Dönermann füllt das Lahmacun. Dann geht er nach rechts, tippt auf seiner Kasse und sagt: „Swei Euro funfzig.“
„Ich hatte auch Pommes bestellt.“
„Nicht Lahmacun?“
„Doch. Aber auch Pommes.“
„Aber hab ich keine Pommes heute.“
Ich schaue sofort Thimon an und blicke auf seine Unterlippe, die jedoch kein Stück zuckt. Stattdessen stemmt er seine kleinen Hände in die knochigen Hüften und sagt zu Dönermann: „Dann gehe ich eben in den Paradiesgrill. Dort schmecken die Pommes sogar nach Himmel!“
Ich komme mit.
Morgen erzähle ich von dem Büdchen, in dem alles einszehn kostet.
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