Bei mir gegenüber wohnt die Ketchup-Familie. Sie heißt Ketchup-Familie, weil die Kinder eine ganze Menge Ketchup-Flecken auf ihrem Gesicht und ihrer Kleidung spazieren tragen und weil sie den Eindruck machen, als gäbe es bei ihnen nur Dinge zu essen, zu denen Ketchup passt. Wobei Ketchup natürlich zu allem passt, wenn man Kind ist, aber davon mal abgesehen.
Die Ketchup-Familie ist eine jener Großstadt-Familien, in der zwar keine Kinder verhungern, sie aber auch keine besondere Beachtung finden. So werden die drei Buben der Ketchups, nennen wir sie Marvin, Melvin und Justin, morgens auf die Straße geschickt und erst abends wieder reingeholt. In der Zwischenzeit laufen sie orientierungslos den Bürgersteig entlang, dreschen aufeinander ein, bis einer heult, oder sitzen einfach nur da und graben mit Stöcken in den Blumenrabatten, bis einer der Passanten mit ihnen schimpft.
Marvin, Melvin und Justin haben eine Mama und ein paar Männer, die vielleicht ihre Papas sind. Die Mama hat blond gefärbte Haare und trägt unter ihrem Top einen kleinen Hängebauch von den Schwangerschaften. Sie ist noch keine 30, aber ihre Gesichtshaut ist fahl und ihr Blick stumpf. Manchmal schubst sie die Kinder hinaus und ich sehe sie an der verglasten Tür des Mehrfamilienhauses, eine Kippe in der einen Hand, ihr Handy in der anderen. Es gibt Tage, da kehrt sie mit ihren drei Buben von einem unbekannten Ort zurück, die Kinder laufen vor ihr her, schlagen sich mit gefundenen Ästen und schreien „Fick dich!“ durch die Straßenschluchten, während sie SMS tippt.
Wenn einer der Papas vorfährt, heften sich Marvin, Melvin und Justin an seine Beine, kaum dass er aus dem Auto gestiegen ist. Mit fahrigen Bewegungen fährt seine Hand über die Köpfe der Kinder. Aber eigentlich will er zur Ketchup-Mama, die die Treppe hinunter kommt, weil sie das Jubelgeschrei der Buben gehört hat. Die beiden gehen ins Haus, und während sie in der Wohnung sind, klingeln die Kinder vor der verglasten Haustür so lange, bis der Papa hinunter kommt und sie ausschimpft.
Seit einigen Wochen haben Marvin, Melvin und Justin einen neuen Freund, den Mann mit der Geige. Der Mann mit der Geige ist ein großer Asiate mit vollem, fast langem Haar und feinen Gesichtszügen. Er wohnt in einem der Appartments in der Nachbarschaft, die auf Zeit vermietet werden. Jeden Tag steht er an der Straße, den Geigenkasten über der Schulter, die Hände in den Taschen seiner Hose vergraben und wartet auf seinen Chauffeur. Es dauert immer nur wenige Minuten, dann kommen die Ketchup-Kinder und umschwirren ihn wie kleine Motten das Licht. Sie lieben ihn, denn er kniet sich hin, wenn er mit ihnen spricht, fragt nach, wenn sie ihm etwas erzählen und berührt sie vorsichtig am Arm, wenn er mit ihnen lacht. Jedesmal, wenn der Mann mit der Geige bei seinem Chauffeur ins Auto gestiegen ist, laufen die Ketchup-Kinder winkend neben dem Wagen den Bürgersteig entlang, bis er um die Ecke und auf die Hauptstraße gebogen ist. Dann gehen sie gesenkten Hauptes wieder zurück, setzen sich an ein Blumenrabatt und schlagen mit Stöcken auf die Pflanzen ein.