Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Archiv der Kategorie »Anrainer«

Ferienflieger über Gartensalbei

23. 07. 2014  •  11 Kommentare

Ich lebe in einer Einflugschneise.

Ferienflieger im Gegenlicht

Schon bevor ich diese zauberhafte Wohnung mit Garten und Balkon erwarb, bevor ich hier einzog und Rotkohl und Mangold und Thorstis pflanzte, lebte ich in einer Einflugschneise. Es ist schwierig, in Dortmund nicht in oder am Rande einer Einflugschneise zu wohnen, zumindest nicht, wenn man in einigermaßen netten Stadtteilen leben möchte.

Mir macht es nichts aus, Dortmund ist ja kein Großflughafen. Es gibt Tage, an denen fliegen nur drei oder vier Maschinen übers Haus, von denen ich etwas mitkriege. An anderen sind es ein paar mehr. Ich schaue in den Himmel, betrachte den Flieger und überlege mir, woher er wohl gerade kommt, was für Menschen darin sitzen und ob sie froh sind, wieder zu Hause zu sein, oder eher nicht. Manchmal gucke ich ins Flightradar, oft aber höre ich die Maschinen kaum, vor allem nicht, wenn ich alleine bin und etwas arbeite.

Trotzdem frage ich mich, ob wir so viele Flughäfen brauchen. Denn Dortmunds Flughafen ist defizitär – und mal ehrlich: Es gibt wirklich genug Alternativen rundherum. Düsseldorf, Köln/Bonn, Münster/Osnabrück, Paderborn/Lippstadt – für Urlauber und andere Flüchtende sollte es kein Problem sein, von hier fort zu kommen. Alle umliegenden Flughäfen sind nur zwischen 70 und 130 Kilometer entfernt, und auch wenn man nicht in Dortmund wohnt, sondern in Hagen oder Arnsberg oder Castrop-Rauxel sieht es mit der Strecke, die man zum nächsten Flieger zurücklegen muss, nicht anders aus. Was Frachten angeht, kann ich den Bedarf schlecht beurteilen, aber er scheint mir immerhin genauso fragwürdig.

Ich selbst bin in den vergangenen zehn Jahren nur einmal vom Dortmunder Flughafen aus geflogen: eine eintägige Geschäftsreise nach München. Zu allen anderen Zielen bin ich aus Köln oder Düsseldorf gestartet. Da frage ich mich schon, was das soll und ob so ein Flughafen nicht auch ein Prestigeobjekt ist, etwas, das man haben muss, um Bändchen durchzuschneiden und Sektchen zu trinken, um zu sagen: „Wir tun etwas, um attraktiv zu sein!“ – für Menschen und für Firmen, auch wenn diese ihn gar nicht brauchen und ohnehin niemals ins Ruhrgebiet kommen würden, sondern sich lieber direkt in Düsseldorf ansiedeln, weil es dort auch den Rhein gibt und weil alle meinen, es sei dort nicht so asi und schmuddelig wie in Dortmund. Dabei ist es in Düsseldorf mindestens genauso uselig wie in Dortmund, wenn man mal aus der hübschen, alkoholseeligen Altstadt rausfährt – wenn nicht gar noch schäbbiger (ich habe fünf Jahre in Düsseldorf gewohnt und kann das beurteilen). Aber das ist eine andere Geschichte.

Wo war ich stehen geblieben? Mir soll es wurscht sein. Sollen sie starten und landen, wie sie mögen. Ich stelle mir jedenfalls vor, wie die Menschen im Flieger sich freuen – einige, weil weil sie heim kommen, und einige, weil sie fort fliegen.

 

 

Drei Nachbarn,
acht Prachtfinken und ein Schwein

28. 03. 2014  •  8 Kommentare

Nachbarn haben eine gewisse Tradition in diesem Blog. Wer schon länger hier liest, kennt den Oberinspektor und die Ketchup-Familie, den Ghettonetto und die Entenmutti.

Auch die neue Wohnung hat eine Nachbarschaft. Sie trägt einen Großteil der Verantwortung dafür, dass ich wohne, wo ich nun wohne.

Denn zwei Stockwerke über mir residieren der Coach und seine Kreisläuferin. Sie haben mich, als sie erfuhren, dass unter ihnen etwas frei wird, mit der freien Wohnung bekannt gemacht. Danach haben sie mich direkt Giovanni vorgestellt, einem berenteten, schnauz- und backenbärtigen Lebemann aus dem Dachgeschoss.

Der Coach, die Kreisläuferin und Giovanni wussten bereits vor mir, dass ich zukünftig mit ihnen wohne werde; es gab für sie niemals Zweifel daran, dass ich einziehen wolle. Hegte ich sie, so zerstreuten sie sie mit einem freundschaftlichen Schulterkopfen, führten mich zum Tapas-Essen aus und gaben mir alles in allem das Gefühl, die Sache sei geritzt. Noch vor Erwerb der Immobilie schmiedeten die Drei Pläne, wie man das Zusammenleben gestalten könne: gemeinsame Dolce-vita-Abende und BVB-Samstagnachmittage, Grillfeiern und gegenseitiges Tomatengießen –  als ich schließlich einzog, war es wie Nachhausekommen.

Die Kreisläuferin hatte von Anfang an Ideen, wie ich meinen Garten gestalten könne. Der Gemüseanbau müsse natürlich intensiviert werden. Außerdem sei eine Haustierhaltung erstrebenswert: Ein Hausschwein wäre schön. Es müsse keine ausgewachsene Muttersau sein; ein Minischwein reiche schon, solch ein Tier sei auch sehr gelehrig, wir könnten ihm Kunststücke beibringen.

Der Coach war skeptisch und votierte für eine Schildkröte als das höchste der Gefühle. Giovanni schaffte sich kurzerhand selbst acht Prachtfinken an. Aber davon ab, sagte er, Fink hin oder her: Ein Minischwein sei tatsächlich eine gute Idee; für einen Esel sei der giardino ja leider ein bisschen klein.

In den vergangenen Wochen ruhte das Thema. Ich war nicht unglücklich darüber, denn ich las, dass Minischweine 50 Quadratmeter Auslauf benötigen und überdies nicht alleine leben möchten, also Minischweingesellschaft brauchen, so dass man unweigerlich zur Minischweinezüchterin wird, wenn man die Sache denn einigermaßen ernst nimmt. Die Schweine-Idee geriet also wohlwollend in Vergessenheit – bis zum Wochenende. Da nämlich feierte ich ein kleines Fest und bekam von Giovanni, quasi als Gedächtnisstütze, geschenkt:

 

Mini-Schwein aus Luft

 

Wenn Sie mich fragen, genügt das erstmal als Haustier. Je nachdem, wie der Wind im Wohnzimmer steht, läuft es mir sogar hinterher.

 

Mrrrööööömmm!

19. 11. 2013  •  54 Kommentare

Mein Garten ist ein toller Garten:

Er hat einen Kirsch- und einen Haselnussbaum, Brombeer- und Johannisbeersträucher und außerdem viele verwunschene Ecken. Die Ecken sind aus einem recht unromantischen Grund so verwunschen: Sie sind einfach ziemlich zugewuchert; der Vorbesitzer hat dem Grün nicht wirklich Einhalt geboten.

Auf dem Grundstück gibt es zwei ziemlich große Tannen, die eine ist circa sieben Meter hoch, die andere acht oder neun Meter. Die große ist nicht nur sehr hoch, sondern auch sehr ausladend – ein über Jahrzehnte gewachsenes Prachtstück, das dem Kölner Dom gut als Weihnachtsbaum zu Gesicht stünde.

Tannenbäume mit Regenbogen

Die Tannenbäume mit Regenbogen: Ganz links, halb aus dem Bild ragend, die große Tanne, in der Mitte die schmale. Die rechte der drei Tannen, Bildmitte, steht auf dem Nachbargrundstück.

Die Tanne steht nun aber nicht im Kölner Dom, sondern bei mir im Garten, nimmt Platz weg, beraubt die Nachbarn bis hinauf in den dritten Stock ihres Tageslichts und tut nichts weiter als blöd herumstehen. Deshalb muss sie weg und ihre schmale Freundin gleich mit.

Es ist ja allseits bekannt, dass ich aus dem Sauerland komme, und wer aus dem Sauerland kommt, kennt über drei, manchmal auch schon über eine Ecke immer jemanden, der regelmäßig in den Wald geht und Holz macht. Früher war das mein Großonkel. Früher war allerdings auch alles anders, da brauchte man nicht für jeden Schlag mit dem Beil eine Genehmigung. Da ging man einfach mit der Axt in den Wald, haute um, was man brauchte, und zog es auf dem Schlitten nach Hause.

Heute hat die Verwandtschaft einen Motorsägenschein und darf ganz offiziell „Holz machen“. Mit drei Motorsägen, einem Helm und einem Seil kommt sie also zu mir in den Garten, um die Bäume umzuhauen. Wir haben allesamt ein bisschen Respekt vor der Unternehmung, denn so ein mehrfamilienhaushoher Baum, das ist schon was. Außerdem ist er ja nicht nur hoch, sondern auch breit, gut vier Meter im Durchmesser, wenn man die Äste einbezieht – sowas muss irgendwo zu liegen kommen, und dieser Ort ist bestenfalls nicht der Balkon der Nachbarn von oben oder der Zierteich der Nachbarn zur Rechten, in dem, wenn ich mir die gesamte, zierstrauchbestandene Grünanlage so anschaue, bestimmt Kois im Wert eines Mittelklassewagen schwimmen. Es bleibt eigentlich nur ein 30 Grad breiter Streifen zwischen meinem Kirschbaum und dem Gartenzaun.

Den erste Baum, den schmalen, nehmen wir zum Üben. Die Verwandtschaft geht um ihn herum, prüft Holz und Wuchsrichtung und sagt: „Das machen’wa einfach mit Drücken!“ Wir stellen uns also an den Stamm, Motorsägen-Man sägt – Mrrrööööömmm! – einen Keil in den Stamm, und wir drücken den Baum in die Richtung, in die er fallen sollen. Tatsächlich fällt er wie eine Eins.

Der zweite Baum hingegen, ja, da hat auch Motorsägen-Man Respekt. Er beäugt ihn, prüft, lehnt die Leiter an, klettert hinauf, knotet ein Seil um den Stamm, klettert wieder hinunter, zieht einmal Probe, geht wieder um den Baum herum und sagt dann: „Wird schon.“ Das ist für uns das Zeichen, die Leiter wegzuschaffen und ans Ende des Seils zu treten, bereit für den finalen Zug. Wieder sägt er – Mrrrööööömmm! Mrrrööööömmm! – einen Keil. Es dauert diesmal, der Stamm ist ziemlich dick. Dann der Befehl: „Ziehen!“ Wir ziehen, der Baum neigt sich ein bisschen, dann noch ein bisschen, ein bisschen mehr und schließlich senkt er sich, langsam wie eine Feder, zu Boden, und legt sich sanft in die Brombeersträucher knapp vor Nachbars Zaun. Der Garten ist nun voll mit Tanne – mit so viel Tanne, dass ich eine Adventskranzbinderei aufmachen könnte.

Tannenbaum im Garten

Viel Tanne im Garten.

Wir sägen noch ein bisschen an den anderen Bäumen herum, am Kirschbaum und am Haselnussbaum. Wir sägen sie natürlich nicht um, sondern wir sägen sie nur in Form. Danach ist der Garten endgültig voll. Eine Schar Rotkehlen und fünf Meisenfamilien kommen. Sie bemerken schnell: Hier gibt’s jetzt richtig was zu futtern.

In den folgenden zwei Tagen schmeißen die Vögel eine Riesenparty im Gehölz: Sie hüpfen durch den Garten wie durch ein Bällebad, picken sich die fedrigen Bäuche voll und zwitschern so laut wie sonst nur Uschi Kowalski beim Schlagermove. Die kleinen Dinger sind völlig high und beseelt.

Vogelparadies

Für die einen ist es Grünabfall, für die anderen das Paradies.

Wenn Sie nun in der Nähe von Dortmund wohnen und weihnachtlich schmücken möchten, kommen Sie gerne vorbei. Ich habe Tannengrün ohne Ende. Wirklich: ohne Ende.

Telekolleg „Heizkörper lackieren“

7. 10. 2013  •  38 Kommentare

Hier im Kännchencafé passiert gerade nicht viel.

Im Hintergrund hingegen passiert eine ganze Menge. Denn ich habe Urlaub. In diesem Urlaub renoviere ich entweder – oder schlafe.

Sie denken nun bestimmt: „Oh je, in welch eine Bruchbude will Frau Nessy eigentlich einziehen! Sie renoviert doch schon seit Wochen!“ Das stimmt so nicht ganz, denn zwar renoviere ich tatsächlich seit Wochen, die Wohnung ist aber keine Bruchbude. Vielmehr ist es so: Je weiter man in die Tiefen einer Sache vordringt, desto mehr Details entdeckt man, die man verbessern kann. Und Sie kennen bestimmt die alte Renoviererweisheit: „Was du jetzt nicht machst, machst du hinterher niemals mehr.“

Oder würden Sie, wenn Sie einmal eingezogen sind, die Heizkörper abnehmen?

abgenommener RadiatorSehen Sie. Ich auch nicht.

Dabei kann man mit abgenommenen Heizkörpern so viel machen. Man kann zum Beispiel Dämmplatten in die Nische hinter dem Radiator kleben und so dafür sorgen, dass die Heizung demnächst nicht mehr den Garten mitheizt. Man kann die Heizkörper reinigen und von Spinnweben befreien. Und man kann die kackbraune Farbe weiß überlackieren.

Servicetipp #1: 
Polystyrol-Hartschaumplatten mit Waffelstruktur zur Dämmung. Die lassen sich nachher auch gut streichen.

Das Ganze ist eine elende Plackerei – nicht so sehr das Lackieren, sondern das Abnehmen. Deshalb haben das auch zwei kräftige Herren für mich getan, denen es nichts ausmacht, 40 Kilo Heizkörper mit 60 Liter Wasser drin zu heben.

Nun ja, fast nichts. Deshalb:

Servicetipp #2:
Gutes Catering hilft, die Motivation starker Männer hoch zu halten.

Nachdem die starken Männer Ihnen die Heizkörper aus der Wohnung getragen haben, nachdem die Heizkörper im Garten ausgelaufen sind (an dieser Stelle werde ich nächstes Jahr dreiköpfige, sprechende Tomaten ernten) und die Herren die Dinger auf einen Bock gehoben haben, können Sie sich an die dekorative Feinarbeit machen und die Heizkörper lackieren.

Heizkörper lackieren

Servicetipp #3:
Meine Wagner-W-550-Sprühpistole hat ca. 70 Euro gekostet und war ihr Geld wert. Das Lackieren geht zigfach schneller als mit dem Pinsel und spart Farbe. Außerdem fühlt man sich wahnsinnig professionell. Achtung: Es gibt Sprühdinger für Lacke und Sprühdinger für Wandfarben.

So sieht dann hinterher das Ergebnis aus:

Vier lackierte Heizkörper

Nach dem Lackieren müssen die Heizkörper natürlich wieder ran an die Wand (vgl. Servicetipp #2). Wenn Sie in einem Nachkriegshaus wohnen, so wie ich es demnächst tun werde, kann es sein, dass Sie ganz komische Anschlüsse haben. Also nicht Halbzoll-Gewinde oder Viertelzoll, sondern 7/16, angesichts derer sich selbst der anwesende Heizungsbaugeselle rätselnd am Kinn kratzte. Der Baumarkt hatte passende Kappen und Stopfen natürlich nicht vorrätig, denn 7/16 : „Wer verbaut denn sowatt? Hamwa nich!“ Aber wir sind ja Checker:

Servicetipp #4:
Wenn Sie 7/16-Anschlüsse haben, dichtet ein 10-Cent-Stück, eingelegt in die Ventilkappe, passgenau ab.

Als die Heizkörper wieder dran waren, habe ich mich unten im Heizungskeller gefühlt wie in Wolfgang Petersens „Das Boot“:

Heizungskeller

Es fehlten nur die Echolot-Geräusche.

Servicetipp #5:
Wenn die Heizkörper wieder dran sind: Wasser nachfüllen und entlüften.

Als ich dann so herumstand und Wasser nachlaufen ließ und mich ein wenig umsah, denn das Ganze braucht reichlich Zeit und im Heizungskeller ist es schön warm und muckelig, habe ich mich sehr ruhrgebietlich gefühlt:

Aufkleber: IG Bergbau und Energie

Wenn Sie also demnächst Zeit und Muße haben, nehmen Sie doch einfach mal Ihre Heizkörper ab. Ich garantiere Ihnen viele schöne Stunden, ein nachhaltiges Ganzkörpertraining und mindestens ein kniffliges Rätsel.

Mein neuer, wilder Garten

24. 07. 2013  •  63 Kommentare

Darf ich vorstellen?

Mein neuer, wilder Garten

Das ist mein neuer Garten. Wir kennen uns seit Mai. Im Juni haben wir uns füreinander entschieden. Im September ziehen wir zusammen. Hach.

Ich bin dann stolze Besitzerin eines Kirschbaums, eines Haselnussbaums, von Erdbeeren, Himbeeren, Stachelbeeren, Johannisbeeren, Rosen und Tulpen. Und eines verwunschenen Gartenhäuschens, einer Barbecue Area (links daneben hinter den Bäumen), einer Frühstücksterrasse und eines kleinen Teichs.

Ich sehe mich schon mit einem Strohhut und einem Bastkörbchen durch taufeuchtes Gras gehen, um meine Thorstomaten zu pflücken.

Phoenixsee

9. 06. 2013  •  15 Kommentare

Phoenixsee, Dortmund:

Phoenixsee Dortmund im Gegenlicht

Hier stand bis 2007 die Herrmannshütte, ein Stahlwerk. Chinesen haben es ab- und in China wieder aufgebaut. 2006 begannen die Aushubarbeiten für den See, 2010 wurde er geflutet.

Ich bin gerne hier. Vielleicht, weil der See und ich gemeinsam nach Dortmund gezogen sind, es in meinem Innern seinerzeit genauso wüst aussah wie in seinem und inzwischen die Sonne über unser beider Köpfen scheint.

Der Rest vom Ruhrgebiet: Dortmund-Hörde

23. 11. 2012  •  14 Kommentare

Nach Essen-West ein weiterer Stadtteil:
Dortmund-Hörde.

Es hat zwar schon jemand über Dortmund-Hörde geschrieben, aber das kann ich so nicht stehen lassen. Denn so ist Hörde nicht. Hörde ist herzlich. Hörde ist freundlich. Doch von vorn.

Der ganze Humor der Ruhrgebiets zeigt sich im Wahrzeichen der kleinen Hörder Innenstadt: der Schlanken Mathilde, einer dreiarmigen Laterne mit Uhr, der Mittelpunkt des Marktplatzes. Namensgeberin ist der Überlieferung nach eine Bürgermeistersfrau, die ziemlich drall war.

In Hörde ist manches nicht so, wie es scheint: Der Stadtteil hatte lange Zeit einen schlechten Ruf, denn Hörde, das sind einfache Arbeiter, das sind Türken und Italiener, das sind die Russen vom Clarenberg, das ist Hoesch, das Stahlwerk, die alte Hermannshütte, die Chinesen ab- und in China wieder aufgebaut haben. Vier Jahre später hat Dortmund an gleicher Stelle ein Loch gegraben, es war ein großes Loch, 2,5 Millionen Kubikmeter Bodenaushub, hat Wasser reingelassen, und heute ist dort ein See. Der See ist recht hübsch, er kräuselt sich gerne im seichten Dortmunder Wind, rundherum wird viel und teuer gebaut, und an sonnigen Sonntagen schiebt die neue Dortmunder Schickeria mit ihren Bugaboo-Kinderwagen in gleichgültiger Eintracht mit den alten, leicht hinkenden Gastarbeitern und ihren in wallende Gewänder gehüllten Frauen das Ufer entlang. Nebeneinander besteigen sie den zu einem künstlichen Hügel aufgetürmten Aushub und blicken versonnen über die reflektierenden Dächer der Autos, die hinter der Lärmschutzwand über die B236 nach Schwerte und Lünen brummen. Doch das ist, wie alles hier, nur eine Seite der Medaille: Drehen sie sich herum, sehen sie die herausgeputzte Hörder Burg, den gesamten Dortmunder Süden bis zum Westfalenstadion und zum Florianturm.

Von Hörde aus ist alles nah: die Vergangenheit und die Zukunft, der Schwerter Wald, der Botanische Garten, die Ruhr und das Stadion, der Westfalenpark mit seinen Lichterfesten, Industriekultur und Schrebergärten, drei Autobahnen und noch mehr Bundesstraßen, Pferdeweiden und die Hohensyburg.

Während sich alles renoviert, bleiben die Menschen, wie sie sind. Sie sind so normal, man möchte Politiker einladen, hier zu wohnen, in den Ghettolemmi zu gehen, den Wochenmarkt zu besuchen, an einem Sommersamstagmorgen zum Frühschoppen im Hörder Treff zu sitzen, sich von Ludmilla die Hose kürzen zu lassen und die Entenfamilie zu besuchen. Hörde ist alles, Hörde ist gestern und heute, war Stahl und Schmutz, ist jetzt mit der Hand fassbarer Wandel und wird die Zukunft sein, eine der möglichen Zukünfte, die es im Ruhrgebiet derzeit gibt.

Das Alte, das Neue, das Normale, die erstarrte Industrie, das erwachende Grün, die Zuversicht und die prollige Herzlichkeit der Menschen – das alles ist das Schöne an Hörde.

Der Rest vom Ruhrgebiet: Die Essener Weststadt

16. 11. 2012  •  45 Kommentare

Es begann alles in Hamburg.

Herr Buddenbohm schrieb über Hamburg, natürlich über Sankt Georg, worüber auch sonst, dort wohnt er schließlich. Danach hat er andere Leute dazu gebracht, über einen Hamburger Stadtteil zu schreiben. Frau  Anne findet, das sollte nicht auf Hamburg beschränkt sein; das schaffen wir für das Rubrgebiet auch. Ich schließe mich ihr an und schreibe über die Essener Weststadt. Wer mitmachen will, ob als Gastblogger oder auf seinem eigenen Blog, der melde sich bitte bei Frau Anne – sie sammelt das ein.

Die Weststadt, ein Niemandsland

Gebäude. Geäst. Essen-West.

Die Weststadt ist ein Niemandsland.

Eingekeilt zwischen einer der freudlosesten Universitäten des Landes und Deutschlands einzigem Innenstadt-Ikea auf der einen Seite, einer Bahntrasse, der Autobahnauffahrt nach Mülheim und dem Gebäude-Koloss des größten deutschen Regionalzeitungsverlags auf der anderen Seite ist sie selbst: nichts. Nicht Frohnhausen und nicht Holsterhausen, nicht Innenstadt und schon gar nicht Rüttenscheid, kein Stadtteil im eigentlichen Sinne, alles grenzt nur an. Die Essener Weststadt ist eine Ansammlung von Brachflächen, Elektronikmärkten und Möbelhäusern, kleinen Gewerbetreibenden und, ach ja, da war doch noch was, dem Collosseum, der ehemaligen Kruppschen Werkstadthalle, die bis 2010 monumentale Musicalstätte war und die man jetzt mieten kann. Zwischen all dem gibt es ein paar Wohnhäuser und zwischen all dem habe ich fünf Jahre meines Lebens gelebt.

Als ich hinzog, sagte die Torfrau, dass viele ihrer Kunden von dort wech kämen. Sie arbeitet in einem Kinderheim, einer Inobhutnahmestelle, dort, wo die Kinder zuerst stranden, wenn es in der Familie nicht mehr geht. Tatsächlich zog mir gegenüber bald die Ketchup-Familie ein, Stammgäste des Kännchen-Cafés kennen sie noch, eine Mutter mit ihren vier Kindern, der Vatta im Knast, so wusste es der Oberinspektor zu berichten. Drei Straßen weiter befindet sich auch heute noch die Essener Suchthhilfe, ausgerechnet in der Hoffnungsstraße.

Trotz aller Gegenargumente habe ich gerne dort gewohnt, denn die Weststadt ist zwar nichts, sie ist aber nah bei, nah an der Innenstadt, nah am Hauptbahnhof und nah an Rüttenscheid, diesem Prenzlauer Berg Essens – nun ja, so ungefähr. Nachts hörte ich von der einen Seite das Feuewerk, das die Musicalbesucher verabschiedete. In all den Jahren habe ich es nie gesehen, immer nur das Knallen und Knistern der Feuerwerkskörper gehört, ein Autohaus versperrte den Blick. Auf der anderen Seite erklang die Bahntrasse zum Hauptbahnhof, das Rattern und Klappern von Waggons in der Nacht, das Hupen von Lokomotiven, schwere Güterzüge. Dazu das unterschwellige Rauschen der A40, dieser Schlagader, die im Ruhrgebiet alles am Leben erhält und sich, chronisch verstopft, seit Jahrzehnten vorm Infarkt befindet. Es waren fast poetische Geräusche, leise hallend und vom Mond beschienen, die Geräusche einer Großstadt, der ehemaligen Schwerindustriestadt, Stadt der Konzernzentralen.

Essen-West, verschneit

Eine Enklave.

Ich lebte also im Niemandsland, aber wir haben auf uns achtgegeben, der Unterinspektor, der Mann mit dem kleinen, weißen Hund, der papierdünne Opa und ich – und alle gemeinsam haben wir nach dem Oberinspektor gesehen, der nach dem Tod seiner Frau zu vergehen drohte wie eine welke Tulpe; und nach der Ketchup-Familie, damit den Jungen nichts Böses widerfuhr, etwas, das ich der Torfrau hätte erzählen müssen, so dass die Ketchupkinder in ihre Obhut kommen. In der Weststadt lebte auch Angela, eine Frau mit Tetraspastik, deren Rollstuhl einen kleinen Elektromotor hatte, dessen Batterie immer nur für den Hinweg ausreichte. Ich traf sie stets, aus der Innenstadt kommend, auf der Alfred-Herrhausen-Brücke, ihre Hände drückten gegen die Räder, zitterten vor Anstrengung. „Die Batterie ist alle, nie reicht die Batterie“, sagte sie jedesmal, und ich schob sie nach Hause. Nicht ein Mal erkannte sie mich bei diesen zahlreichen  Begegnungen wieder, und so stellten wir uns stets von Neuem vor, während ich sie in ihre winzige Wohnung fuhr.

Irgendwann wurde neben den City-Ikea, in den ich für Teelichter immer zu Fuß ging, ein Shoppingtempel gebaut – mit 70.000 Quadratmetern eines der größten innerstädtischen Einkaufzentren Europas, etwas, das sonst nur auf der grünen Wiese entsteht. Aber Essen hat keine freien Wiesen, Essen ist voll, deshalb wurde erst etwas abgerissen und dann dieses riesige Rund, ein Ufo mit bunten Lichtkugeln, mitten in die Stadt gesetzt – mit Kraft, Lärm und Gewalt, so geht’s im Ruhrgebiet, auch wenn Stahl und Kohle nicht mehr hier zu Hause sind.

Mit dem Einkaufszentrum gab es plötzlich einen Bäcker in meiner Nähe – nicht nur einen, sondern gleich mehrere, wie das in einem Einkaufsparadies so ist, und ich konnte Samstagsmorgens dort hingehen und Brötchen holen. Wenn ich dann mit wirrem Haar und in Schlumperhose zwischen all den angestrengten Shoppingwütigen stand, war ich ganz Weststadt: irgendwie unsichtbar, irgendwie nicht schön, aber trotzdem da.

Neben das Ufo und die ehemalige Krupphalle Collosseum, auf das Areal eines Güterbahnhofs, wird seit meinem Fortzug eine neue Stadt gebaut. Die Planer nennen sie die „grüne Mitte Essens„, ein kleines Venedig mit Kanälen und teuren Eigentumswohnungen, ein Universitätsviertel, in dem keine Studenten wohnen werden. Das Niemandsland wird Hippsterland.

Als ich vor einigen Monaten wieder einmal in Essen war, ging ich auch durch die Weststadt – und habe natürlich den Oberinspektor getroffen. Es geht ihm gut.  Er war zuletzt sogar in Italien im Urlaub, ohne seine Frau, mit einer Busgesellschaft, das sei sehr traurig gewesen, aber auch schön. Er habe seine Lebensliebe im Herzen mitgenommen, sagte er, so sei es fast gewesen wie zu Zweit.

[Ergänzung von Elizabeth]

Ghettolemmi

15. 08. 2012  •  70 Kommentare

Seit dieser Woche gibt es ein neues Einkaufsparadies im ehemaligen Ghettonetto: einen Ghettolemmi.

Die Einrichtung ist schlicht: Drahtkörbe und Paletten. Das Sortiment ist es auch. Es gibt nur das, was wirklich nachgefragt wird – also kein Obst und Gemüse. Dafür Restposten an Fleisch, Ketchup, Süßigkeiten und Kaffeepads.

Am Eröffnungstag steht ein magerer, pusteliger Mitarbeiter neben der Eingangstür und tritt von einem Fuß auf den anderen. Luftballons wiegen sich im Wind. Neugierige drängen sich vor den Waren, die den Eingang säumen. Eine Oma wirft mit lässigem Schwung zwei Tüten Chips in den Korb ihres Rollators.

Der Mitarbeiter ist Käpt’n eines hölzernen Glücksrads. Minimal auffordernd stupst er das Rad an. Es dreht sich ratternd und bleibt bei einer Niete stehen. Die Stimmung ist verhalten ausgelassen.

Ich gehe an ihm vorbei, ziehe einen funkelniegelnagelneuen Einkaufswagen aus der Führungsschiene und schiebe ihn durch den Laden. Es gibt Produkte, bei denen das Haltbarkeitsdatum fast abgelaufen ist. Außerdem Waren aus Holland und aus Polen. Die Getränkeflaschen sind größer als anderswo: Riesenkübel mit zwei Liter Fassungsvermögen.

In der Kühlabteilung, einem abgetrennten Raum im Raum, der dröhnend mit kalter Luft bepustet wird, stützt sich eine massige Frau auf ihren Einkaufswagen. Mit ihren Kinns deutet sie auf eine Palette bunter Becher und ruft einem hageren Typen zu: „Kukma, Kinderjochurts! Nur neunzehn Zentz dat Stück. Die isst unsere Dschoi doch so gerne!“ Sie dreht den Kopf zu einem kleinen, pummeligen Mädchen mit blonden Locken. „Wonnich, Dschoi?“

Das Kind, das gerade intensiv eine Auslage von Riesenfleischwürsten studiert, entgegnet aus tiefstem Herzen: „Hääää?“

„Ich hab‘ gesacht, dattu die Kinderjochurts so gern isst. Die gibbet hier für neunzehn Zentz. Da könnwa dir ma watt Gesundes kaufen, dat auch schmeckt.“

Dschoi hüpft freudig auf und ab. Aber das Glück währt nur kurz. Von hinten ruft jemand: „Erbil! Langsam!“, doch es ist zu spät: Ein kleiner Junge fährt Dschoi volles Pfund mit einem Laufrad in die Flanke. Dschoi fängt augenblick an zu heulen, besitzt aber noch ausreichend Geistesgegenwart, um zu einer eingeschweißten Fleischwurst zu greifen. Ansatzlos holt sie aus und schallert Erbil damit eine. Der reißt vor Schreck erst die Augen auf, die Szene gefriert für einen Moment im Raum-Zeit-Kontinuum, dann beginnt er innerhalb von Sekundenbruchteilen derart zu flennen, dass ihm die Speichelfäden das Kinn hinuntertropfen.

Ich kaufe, um überhaupt etwas zu kaufen, eine Packung mit Popcorn, das, wenn man dem Etikett glauben darf, von Daniela Katzenberger persönlich mit Schokolade dragiert wurde, und verlasse den Laden. Neben mir rattert das Glücksrad. Man hätte die Figuren in diesem Aldi-Downgrade nicht besser erfinden können. Das wird ein großer Spaß.

Ghettonetto – und was danach passierte

25. 07. 2012  •  45 Kommentare

Ein paar Worte zu meiner Supermarkt-Situation:

Nachdem vor einigen Monaten der Ghettonetto fort– und dem Strukturwandel entgegen gezogen ist, befindet er sich außerhalb meiner Reichweite. Dafür gibt es nun einen frisch renovierten Rewe, den ich mit dem Bus erreiche:

Die Einkaufssituation

Meine Supermarkt-Situation: Der Ghettonetto ist dem Strukturwandel entgegen gezogen und für mich nun weit ab vom Schuss, der Rewe erstrahlt in neuem Glanz.

Grund für die Entwicklungen im Einzelhandel ist der Strukturwandel. Er krempelt grad meinen Kiez um. Fördertürme und Stahlwerke kommen weg, stattdessen wird Naherholung hergestellt: Rasen wird gesät; Seen werden angelegt; noch schüchterne Baumsetzlinge stehen auf schlackehaltigem Grund und beobachten Sonntag um Sonntag neugierig promenierende Ruhrgebietsmalocher, die sich heute ansehen, wo sie morgen abspannen und gestern noch unter Schweiß und Schmutz Erz verhütteten.

Wo aus Hochöfen Industriekultur und aus Stahlwerksbrachen Parkanlagen entstehen, werden auch neue Immobilien gebaut – architektonisch anspruchsvolle Niedrigenergiehäuser mit Glasfronten und Panoramabalkonen, gepflegte Eigentumswohnungen mit direktem Blick ins jungfräulich sprießende Grün. Mit den Bauherren zeichnet sich wachsende Kaufkraft ab – und dort, wo bald das Geld hinzieht, ist auch der Ghettonetto hingezogen. Nicht, dass der Ghettonetto ein Einkaufsparadies für die gehobene Kundschaft wäre, aber irgendwie möchte doch jeder ein Stück vom Kuchen abbekommen, auch der Kolonialwarenhändler.

Der Rewe, den ich statt des Ghettonettos nun aufsuche, hat die Zeichen der Zeit ebenfalls erkannt und sich in den vergangenen Monaten kernsaniert: das Außen, das Innen, das Sortiment, die Scannerkassen und die Kittel der Angestellten. Nur die Kundschaft hat sich nicht renoviert, was den Gesamteindruck etwas trübt. Denn sie neigt – Strukturwandel hin oder her – immer noch dazu, sich von der Bäckereitheke im Foyer durch die Gemüseabteilung bis zum Pfandautomaten zu prügeln, wenn es denn nötig ist; Kleingruppen von Männern in Trainingshosen erwerben Toastbrot, Hartwurst und Alkoholika, die sie noch vor Verlassen des Geschäfts unter der rechtschreibfreien Kleinanzeigen-Tafel verzehren; Muttis mit und ohne Hauskittel, mal mit Hijab, mal ohne, in Stringtanga und Hüfthosen oder in schwarzer, bodenlanger Hidaja schieben ihren an Sommertagen nur mit einer Baumwollunterhose bekleideten Nachwuchs durch die Gänge, reißen vorm Kauf die Blätter von den Kohlrabi und marodieren durch die Auslagen der neu konzeptionierten Feinkostabteilung wie durch einen Leibwäsche-Wühltisch bei Woolworth. Da hilft es auch nichts, dass die frisch installierte Akzentbeleuchtung die Szenerie in stimmungsvolle Wohlfühlatmosphäre taucht. Man möchte am Eingang des Geschäfts gerne eine Schild aufstellen, das dem Eintretenden signalisiert: „Achtung, Sie verlassen jetzt den proletarischen Sektor und betreten den gentrifizierten Supermarkt!“, damit die Kundschaft versteht, dass es ab hier ernst für sie wird, dass die Spaß-Einkäufe in zwangloser Schlumperkleidung vorbei sind, dass sie jetzt bitte illuster sein soll.

Zurück zu meinem alten, verwaisten Ghettonetto. Dort hängt seit einer Woche ein Schild im leeren Schaufenster: „Hier zieht bald ein neuer Discounter ein“, daneben Job-Angebote. Frauen in Hüftjeans und Synthetik-Blusen, mit und ohne Kopftuch, stehen Tag für Tag davor und notieren sich die Mobilfunknummer des Discount-Managers. Der Strukturwandel hier ist eine Moräne, die sich gemächlich durch mein Viertel schiebt und dabei eine Menge Geröll bewegt. Bis er allerdings in meinem Straßenzug angekommen ist, werden noch einige Jahre ins Land ziehen – und es wird einen neuen, alten Ghettonetto geben.



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