Wie damals Dreiundneunzig | Ich kümmerte mich um einen Termin für Inspektion und Reifenwechsel, und am Ende geschah etwas Besonderes, aber dazu muss ich etwas ausholen.
Ich mache meine Auto-Termine bei der rot-weißen Autoteile-Firma. Die Menschen, die in der mir nächstgelegenen Filiane arbeiten, sind in etwa genauso unfreundlich wie mein Schuster, und das soll etwas heißen.
Wenn ich als Kundin zu meinem Schuster gehe und Schuhe auf die Theke stelle, die er besohlen möge, macht er mich erstmal nieder. Das gehört zur Atmosphäre, ein Schusterbesuch ist nur echt mit diesem Feature. Ich werde so richtig abgesaut. Er fragt, wie ich bitteschön meine Schuhe derart runterrocken könne, da sei ja nur noch ganz wenig Sohle drauf! Wo ich denn überall hinlaufe, ob ich schonmal eine Fußfehlstellung habe untersuchen lassen, „Sie laufen ja auf der Felge, sehen Sie, wo waren Sie damit denn überall? Haben Sie nur dieses eine Paar?! So geht man doch nicht mit Schuhen um!“ Es ist keinerlei Ironie dabei, die Sache ist sehr, sehr ernst. Er nimmt es als persönlichen Affront, dass seine Kunden ihre Schuhe ablaufen; wahrscheinlich liebt er einfach Schuhe und kann nicht ertragen, dass sie Arbeit verrichten müssen. Ich bin deswegen, als ich mal eine labile Zeit hatte, zu einem anderen Schuster gegangen. Ich hatte schlimmen Liebeskummer, war innerlich ein Krater, in den eine Bombe eingeschlagen war, und befürchtete, bei Infragestellung meines Laufverhaltens in Tränen auszubrechen. Der andere Schuster, dessen Laden weiter weg ist, war allerdings genauso, er machte mich ebenfalls rund wie eine Rumkugel. Also gehe ich seither wieder zum Stammmschuster – wenn ich schon abgesaut werde, dann wenigstens heimatnah.
Bei den Autoteile-Menschen ist es so, dass ich immer einen Termin habe; ich mache ihn online und gebe an, was ich brauche: Reifenwechsel zum Beispiel. Dann komme ich zu gegebener Zeit in den Laden und habe auch schon alles vorbereitet – Autoschlüssel, Fahrzeugschein, Inspektionsheftchen, Treuepunkte, einfach alles, ich weiß ja, wie es läuft, und möchte niemanden zusätzlich verärgern -, die Mitarbeiterin blickt von ihrem Rechner auf und sagt in einem Ton, mit dem man Glas schneiden kann: „JAAAAAAA!“ Ihre Brauen sind dabei tief ins Gesicht gezogen, ihre Augen sind Schlitze. Mit einem Gesicht wie diesem würgt man kleine Kätzchen. Ich werde direkt unterwürfig; ich glaube, das ist Sinn der Sache. Ich nenne meinen Namen und trage mein Anliegen vor, sie unterbricht mich und sagt in ihrer Glasschneidestimme: „Dazu brauchen Sie einen Termin!“ Ich weise darauf hin, dass ich einen solchen habe, 8 Uhr 15, also genau jetzt, und sie antwortet: „Das wollen wir aber erstmal sehen!“
Ich fände es sehr schön, wenn sie es sähe, in ihrem System. Aber das sage ich nicht; schnippische Kommentare sind fehl am Platz, das ist Nordkorea hier drinnen, nicht Dortmund; mit derartigen Bemerkungen kommt man in den Keller und muss dort fünf Tage und Nächte im Dunkeln Reifen wuchten, bei Wassersuppe und schimmeligem Brot. „Kundennummer hamse bestimmt nicht parat, wie alle!“, bellt sie mich an, und ohne eine Antwort abzuwarten: „Ihr Kennzeichen!“ Ich nenne es; sie versteht es nie beim ersten Mal. Man darf das Kennzeichen aber auch nicht sagen wie ein Klugscheißer, „Dora Otto Wilhelm Anton Eins Zwo Drei“, weil sie dann völlig in Rage gerät, das ist zu riskant. Also artikuliere ich die Buchstaben so deutlich wie möglich, schnalze die Laute und lasse meine Lippen vibrieren, als sei ich in der logopädischen Übungsstunde. „Und Sie sagen, Sie haben einen Termin?!“ In der Frage schwingt eine Unterstellung mit, die eine Betonung dadurch erfährt, wie sie mich taxiert, hoch und runter, von den Füßen bis zum Scheitel. Ihr Blick sagt, dass sie es für gänzlich unmöglich hält, dass eine Frau wie ich, in diesen Klamotten, mit dieser Frisur, jetzt und hier einen Termin hat, ausgerechnet zum Reifenwechsel. „Ja“, hauche ich etwas zu hoch, meine Stimme ist leicht angetrocknet und verrutscht mir – gerade jetzt, wo ich Haltung zeigen sollte.
So geht das eine Weile hin und her; ich kürze das jetzt mal ab. Schlussendlich findet sie mich und meinen Termin, und alles geht seiner Wege. Ich bin erleichtert und kann wieder atmen. Wenn ich den Laden verlasse, fühle ich mich wie damals Dreiundneunzig bei der Einreise nach Moskau, als Jelzins Truppen gerade das Parlament mit Granaten beschossen hatten und sich das Land kurz vor dem Bürgerkrieg befand. Zehn Minuten hockten die Grenzer über meinem Pass, während ich allein und 15-jährig in diesem winzigen Raum stand, links internationales Gebiet, rechts die Russische Föderation, hinter mir ein Spiegel und gegenüber die Fensterscheibe mit den grimmigen Militärs, die heftig debattierten und mich dabei immer wieder ansahen, mir befahlen, meinen Rucksack abzulegen und meine Jacke auszuziehen, mich taxierten und dann mit meinem Pass verschwanden, telefonierten, wiederkamen und mich schließlich durchließen.
Was ich eigentlich erzählen wollte: Gestern machte ich einen Termin für Reifenwechsel und Inspektion, und kurz danach rief ein Autoteile-Mensch an. Ich wappnete mich innerlich gegen emotionale Kälte und psychologische Kriegsführung. Doch er sprach sehr freundlich, bestätigte den Termin und sagte, dass er ins System geschaut und noch ein paar Fragen habe, Bremsflüssigkeit hier und Klimaanlage da, ob ich sonst noch einen Wunsch hätte. Das ließ mich so dermaßen perplex zurück, dass ich Schluckauf bekam.
Ausflug | Den Schluckauf hatte ich, als ich in Wuppertal-Barmen auf dem Marktplatz saß und wartete. Später hatte ich dort ein Geschäftsessen, bei dem wir uns sehr gut unterhielten.

Ich habe mich sehr gefreut, den Kunden wiederzutreffen. Ich mag meine Kunden einfach, allesamt. Das kann ich gar nicht oft genug sagen.



















