Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Lektüre im März, April und Mai:

Bücher 2013 - 2

Colin Cotteril. Dr. Siri sieht Gespenster
Eine Obstverkäuferin wird ermordet, übel zugerichtet. War es der Bär, der Tage zuvor ausgebrochen ist? Dr. Siri, der einzige Leichenbeschauer Laos‘, macht sich auf die Suche und erkennt schnell, dass die Sache nicht ganz so einfach ist. – Vom ersten Siri-Buch „Dr. Siri und seine Toten“ war ich total begeistert. „Dr. Siri sieht Gespenster“ ist mir zu gewollt mystisch. Mehr Krimihandlung, weniger Esoterik wäre besser gewesen.

Nicholas Dryson. Kleine Vogelkunde Ostafrikas.
Mr. Malik ist sehr verliebt in Rose, die Leiterin der örtlichen Gruppe von Vogelbeobachtern. Gerne möchte er mit ihr zum Nairobi Hunt Ball gehen. Doch er traut sich nicht, sie aufzufordern, und kaum versieht er sich, tritt schon der machohafte Harry Kahn auf den Plan. Die beiden gehen eine Wette ein. – Ein nettes Büchlein, sehr warmherzig.

Tina Fey. Bossypants.
Bossypants ist ein gutes Buch, das leider einen schauderhaften deutschen Untertitel trägt: „Haben Männer Humor?“ Der Untertitel ist daneben, weil es in dem Buch gar nicht um Männer geht, und wenn, dann nur am Rande. Es geht um die Komödiantin Tina Fey, ihr Leben und ihren Job bei NBC. Fey ist witzig und selbstironisch, sie erzählt ihren Aufstieg ohne Pathos und sehr unterhaltsam. Aber wahrscheinlich meinen deutsche Verlage, dass Buchtitel erfolgreicher, humorvoller Frauen besser kommen, wenn sie sich an Männern abarbeiten.

Toni Jordan. Tausend kleine Schritte.
Grace zählt. Am liebsten alles. Die Schritte, die sie geht, die Streusel auf dem Kuchen, die Bisse, mit denen sie ihn isst. Dann kommt Seamus und bringt ihr durchgezähltes Leben aus dem Tritt. Einerseits findet sie es schrecklich, die Kontrolle zu verlieren, andererseits gefällt es ihr. – Die Geschichte ist munter erzählt. Die Figur Grace ist sympathisch und kein bisschen platt. Die Liebesgeschichte verläuft nicht so vorhersehbar, wie es zunächst scheint. Deshalb: Daumen hoch.

Ulla Lachauer. Ritas Leute.
Rita Pauls stammt aus Kasachsten. Ihre Familie lebt inzwischen über die ganze Welt verstreut. Autorin Ulla Lachauer erzählt ihre (Migrations-)Geschichte. Sie hätte gut daran getan, sich dabei zurückzunehmen und nicht ihre Recherchereise nachzuerzählen, sondern sich stattdessen chronologisch der Familie zu widmen. Ich habe das Buch nach der Hälfte weggelegt, weil ich das Gefühl hatte, überhaupt nicht an „Ritas Leute“ ranzukommen.

Audrey Niffenegger. Die Zwillinge von Highgate.
Valentina und Julia sind zwei verwöhnte amerikanische Teenager. Sie erben die Wohnung ihrer Londoner Tante Elspeth und bekommen zur Auflage, ein Jahr dort zu wohnen, bevor das Erbe in ihren Besitz übergeht. Nicht leicht für die Zwei, schließlich sind sie noch ziemlich unselbständig. – Ich sag’s ganz deutlich: Ich fand das Buch doof. Ein Frauen-Schnulli-Roman der schlimmsten Sorte. Valentina und Julia nerven, Elspeth taucht als Geist wieder auf und überhaupt wimmelt das Buch von Figuren, die mir auf den Zeiger gingen. Trotzdem habe ich es zu Ende gelesen. Ein bisschen erträglich war’s also doch.

Arnold Stadler. Ein hinreissender Schrotthändler.
Er ist ein frühpensionierter Studienrat. Seine Frau Gabi ist Handchirurgin. Irgendwann taucht der Schrotthändler Adrian in ihrem Leben auf, zieht bei ihnen ein und verschwindet nicht wieder. Sie nehmen ihn sogar mit in den Urlaub. – Als ich in das Buch reinlas, konnte ich mich direkt an der Sprache und der Liebe zum Detail erfreuen, mit der Stadler erzählt. Doch das war’s auch schon. Die Handlung ist abstrus und gewinnt auch nicht an Fahrt. Noch ein Buch, das ich nicht zu Ende gelesen habe.

Stephan Thome. Grenzgang.
Das beste Buch des Frühjahrs: Alle sieben Jahre findet im hessischen Bergenstadt Grenzgang statt, ein traditionelles, dreitägiges Volksfest. Die geschiedene Kerstin verliert den Kontakt zu Teenager–Sohn Daniel und pflegt ihre demente Mutter. Lehrer Thomas wollte in Berlin eigentlich eine akademische Karriere verfolgen, doch es hat nicht geklappt. Die Geschichte folgt den beiden über eine Zeitspanne von 21 Jahre in verschiedenen Rückblicken, jeweils zu den Grenzgangstagen. Schön konstruiert, mit viel Liebe zu den Figuren, trostlos und doch Hoffnung gebend, hält der Erzähler dem Leser den Spiegel vor. Ein großartiger Gesellschaftsroman im Stile Jonathan Franzens.

Jonathan Tropper. Sieben verdammt lange Tage.
Papa Foxman ist tot und hat beschieden, dass seine Familie nach seinem Ableben sieben Tage lang Shiwa sitzt. Allen Familienmitglieder steht schon beim Gedanken daran Schweiß auf der Stirn, und es kommt, wie es kommen muss: Bereits nach kurzer Zeit gehen sie sich auf die Nerven. – Die Geschichte wird aus der Perspektive von Judd erzählt, einem der Brüder, der seine Frau erst vor Kurzem in flagranti mit seinem Chef erwischt hat. Ich habe das Buch beim Lesen die ganze Zeit als Film vor mir gesehen. Es würde sich wunderbar auf der Leinwand machen: sehr unterhaltsam, ein bisschen verrückt, ein bisschen tiefgründig und rundum sympathisch.

Richard Yates. Easter Parade.
Das Buch erzählt die Geschichte der Schwester Sarah und Emily. Sarah heiratet früh und bekommt drei Söhne. Emily lebt ein rastloses Leben mit vielen Affären. – Ein schönes Buch. Die Geschichte ist locker erzählt und fließt so dahin. Ich habe es fast ausschließlich im Zug gelesen, was perfekt war. Autor Richard Yates hat übrigens auch „Zeiten des Aufruhrs“ geschrieben, verfilmt mit Kate Winslet und Leonardo di Caprio.

U-bahn. Zwei ältere Damen steigen zu, sich unterhaltend.

„Kär, Kär, die redet in einem fort. Kocht’se Kaffee, sacht’se, dat’se Kaffee kocht. Macht’se Pudding, sacht’se, dat’se Pudding kocht. Nur am Sabbeln isse. Wirße verrückt, wennde da bis.“

Die beiden lassen sich in den Zweiersitz vor mir sinken.

„Wohnt’se allein?“
„Nä, die wohnt doch mit dem Bernhard zusammen, weiße doch. Der sacht abba kein‘ Ton. Is stumm wie’ne Forelle. Naja, wat soll er auch sagen. Gisela quatscht ja die ganze Zeit. Ich hab zu dem Bernhard schon gesacht: Bernhard, hab’ich gesacht, mach doch ma den Ton lauter! Da sacht’er: Wieso denn? Reicht doch, wenn einer redet.“
„Recht hattaja.“
„Klar hattadat.“
„Dabei kannze dich mit dem Bernhard gut unterhalten.“
„Aber nur, wenn seine Olle nich dabei is. Imma unterbrichtse ihn. Ich hab schon zu ihr gesacht, Gisela, hab ich gesacht, lass den Bernhard doch ma ausreden.“
„Und wat sacht’se da?“
„Nix hat’se gesacht. Einfach weitergesabbelt hat’se.“
„Dabei hat’se doch schon den Fritz ins Grabb geredet. Sogar aufe Trauerfeier hat’se nur gequasselt.“
„Da war ich nich‘ bei. Da war ich doch im Knappschaft, da ham’se mir grad die Krampfadern gezogen.“
„Da fällt mir ein, unsa Mutter hat getz Stützstrümpfe. Abba sie is ja so eitel. Gibbet die getz nich auch in dunkel? Die hautfarbenen Dinger zieht’se nich an.“
„Kann ich deine Mutter mitbringen. Hab‘ ich genuch von. Hab gestern ers noch saubere gerollt. Und getz im Sommer trach ich eh nur Söckskes.“
„Dat is nett.“
„Ich hab auch noch so Strumpfhosen mit Stütz. In 42. Sind mir bissken knapp geworden. Hab mich ja so verbreitert. Kann ich deine Mutter auch mit inne Tüte packen. Die is ja wat schmaler.“
„Sach ma, müssenwa nächste raus?“
„Wenn dat da am Stadtgattn is.“
„Is Stadtgattn.“
„Dann müssenwa raus.“

Als ich Kind war, wohnten wir am Wald.

Rückblickend ist es erstaunlich, wie sorglos meine Eltern waren. Oder vielleicht waren sie gar nicht sorglos, vielleicht hat meine Mutter sich Nachmittag für Nachmittag vor Angst die Nägel abgekaut. Wie auch immer: Schon als ich fünf war, hatte ich einen Aktionsradius von locker ein, zwei Kilometern. Die Straße hinunter und hinein in den Wald, bis zum Bach beim Förster, manchmal auch weiter hinauf, dort, wo wir im Herbst Eicheln und Bucheckern sammelten, weiter den Weg hinauf, hinein ins dichte Geäst, in dem es unterm Tannengrün eine natürliche Grube lag, die wir mit Zweigen bedeckten, in der wir uns versteckten und von der aus wir mit gezogenen Ästen Feinde bestürmten.

Den Weg rechts entlang, am Abzweig vor der Grube, dann ein Stück geradeaus, dort wohnte Maria, die Schulfreundin. Noch ein Stück weiter hinunter ging es links wieder in den Wald, hinter der Schranke steil bergauf, die Knochenbrecherbahn hinauf. Als Erwachsener geht man die Strecke strammen Schrittes in zehn, fünfzehn Minuten. Als Kinder sind wir sie oft gerannt. Die einzige Abmachung: Abends um sechs seid ihr wieder zu Hause.

Fast jeden Sonntag ging ich mit meinen Eltern spazieren. Das war Pflichtprogramm. Im Winter mit Schlitten, im Sommer in kurzer Lederhose. Wir marschierten bis zur Knochenbrecherbahn und noch viel weiter, zum Hexenteich, einem Weiher im Wald, der seinen Namen aus einer Zeit hat, in dem man Leute in ihm ertränkte.

Menden - Hexenteich

Im Winter konnten wir den Berg hinunter direkt aufs Eis fahren. Eine rasante Schussfahrt! Wenn die Schranke am Wegesende geschlossen war: Nicht vergessen! Kopf einziehen! Ich erinnere mich an Ingo, der einmal mit Karacho dagegen donnerte. Er wurde bewusstlos und bekam, als er wieder bei sich war, vor Schreck Nasenbluten. Wir kühlten die Beule an der Stirn mit Schnee, Gehirnerschütterung, Schleudertrauma. Wer mutig war, legte sich auf den Bauch, Kopf voran den Hügel hinab. Das Eis auf dem Teich: fünfzig, sechzig, siebzig Zentimeter dick. Mit genug Schwung glitten wir auf dem Schlitten bis zum anderen Ufer.

Dort, am anderen Ende: Schiefergestein. Im Sommer nahmen wir uns die flachsten Bruchstücke und ließen sie übers Wasser flitschen. Wir waren gut; dreimal, viermal, bis zu achtmal hüpften sie über die Oberfläche. Es konnte stundenlang so gehen.

Menden - Spazierweg am Hexenteich

Ich kenne jeden Weg in diesem Wald. Den zurück nach Hause, den in die Stadt, den zur Waldgaststätte, die heute verwaist ist, in der damals aber an jedem Sonntag der Damenzirkel mit meiner Oma an seinem Tisch unter der Kuckuksuhr saß, an dem die Großtante die Fliegen mit der Hand fing, und hinter dem ich mich abwechselnd zwischen die alten Damen kuschelte und unter dem hindurch ich nach draußen huschte, zu der kleinen Weide, um die Ziegen zu füttern.

Menden - Bank am Hexenteich

Am Pfingstwochenende war ich nach zehn Jahren wieder dort. Ich war verwundert, wie klein der Weiher ist. Nur fünf Minuten, und man ist einmal drumherum gegangen. Damals aber war er ein Universum.

Was Sie woanders nicht verpassen dürfen:

Meister der Inszenierung“ über Menschen, die krankhaft lügen (via: Anne Schüßler). Ein unglaublich guter Text. Unbedingt bis zum Ende lesen.

Es gibt viele Gründe, warum Kinder weinen. „Reasons my son is crying“ vermittelt einen Eindruck. Ich kann mir vorstellen, dass Eltern kleiner Trotzköpfe dieses Blog sehr beruhigend finden. Auch für Eltern: Die Ikea Hackers zeigen, wie man aus Hockern ein Laufrad baut. Das Nido-Magazin zeigt, wie man essbare Regenwürmer herstellt, die nur ein bisschen fies aussehen. Für Menschen, die erst Eltern werden: die Geburt von Zwillingen in Steißlage. Alles ganz harmonisch, wie man sieht.

Eine Bilderserie zeigt, wie der Himmel aussähe, wenn alle Planeten so nah an der Erde wären wie der Mond (via Anke Gröner). Eine andere Bilderserie zeigt die Nester von Webervögeln an Telegraphenmasten.

Eine schöne Anleitung zum Leben im Studentenwohnheim.

Haley Morris-Cafiero ist Professorin für Fotografie in Memphis und ein bisschen dick. Für die Fotoserie „Wait Watchers“  hat sie eine Kamera an einem öffentlichen Ort aufgebaut und sich in einem Abstand dazu hingesetzt oder hingestellt. Die Kamera machte in zeitliche Abständen Fotos – von Haley und von den Blicken, die sie erhält. Bei der Süddeutschen wird das Thema diskutiert – die meisten Kommentatoren finden die Blicke nicht schlimm oder meinen, das Starren liege nicht daran, dass Haley dick ist.

Zu guter Letzt das Serviceblog:

  • Die Fernsehsuche bietet einen Überblick über alle Sendungen in den Mediatheken der privaten und öffentlich-rechtlichen Fernsehsender.
  • Jedes Buch hat ein Lesebändchen verdient (via @isabo_).
  • Für Freiberufler, Kreative und Handwerker: eine Anleitung, wann man kostenlos arbeiten sollte.

Zehn Minuten vor Abfahrt versammeln sie sich am Gleis:

ein alter Mann mit Schweizer Wappen auf einer Basecap, eine Gruppe amerikanischer Jugendlicher mit dicken Rucksäcken, ein älteres Pärchen, noch eine amerikanische Jugendgruppe und zwei Bier trinkende Polen mit voll beladenen Fahrrädern.

Ich habe mir einen Jutebeutel mit Waschzeug gepackt und liege damit im Trend. Alle älteren Herrschaften haben einen bei sich. Ich merke schnell: Nachtzugfahrer sind Profi-Bahnfahrer.

Ich denke: Bitte lass es nicht die betrunkenen Polen sein.

Ich habe Vierer-Abteil gebucht, für 80 Euro von Berlin in die Schweiz. Auch das ältere Pärchen wäre okay, obwohl bei den Zweien bestimmt nur nur er schnarcht. Es ist 22 Uhr, fühlt sich aber früher an.

Der Zug fährt ein. Ich steige eine, komme zu meinem Abteil. Sechs Pritschen, blau, auf Vieren jeweils ein Kissen und eine Wolldecke. Der Platz zwischen den Liegen ist eng. Ich schiebe meinen Koffer direkt unter meinen Platz und setze mich. Sonst wird es eng.

Ein Pärchen kommt herein. „Oje“, sagt sie. Und: „Das tut mir jetzt leid für dich.“

Ich denke: „Was ist los? Pseudokrupp? Eitrige Wunden?“

Sie zeigt auf ihr Baby. „Wir hatten gehofft, dass wir niemanden stören müssen.“

Seltsam. Diese Tendenz, dass sich Eltern immer schon im Vorhinein für ihre Kinder entschuldigen. Ich sage: „Ach, erstmal abwarten. Ich habe gute Erfahrung mit Babys auf Reisen.“ Habe ich wirklich. Auf einem Nachtflug aus den USA nach Deutschland wurde mir, in einer Reihe mit mehr Sitzabstand, ein Platz neben einer Mutter mit Kind angeboten. Ebenfalls entschuldigend. Es war ein entspannter Flug.

Die Kleine heißt Julia. Ich schätze sie auf sieben oder acht Monate. Sie winkt ihren Großeltern, patscht mit den Händchen gegen das Glas des Abteilfensters, sieht mich dann an, lacht und winkt auch mir. Ich winke zurück.

Der Vater des Kindes verstaut Koffer und Taschen. Er ist Schweizer, sie Deutsche, erzählen sie. Der Zug fährt ab. Wir machen es uns wohnlich. Die Mutter stillt das Kind. Sie fahren nach Zürich. Ich erzähle, dass ich in Berlin auf einer Internetkonferenz war und nach Bern fahre.

„Ah, du arbeitest in Bern!“, sagt er.

Soweit ist es nun schon, dass die Schweizer denken, dass Deutsche per se in der Schweiz arbeiten, sobald sie allein reisen.

„Nein, sage ich. Ich besuche Freunde.“

„Gleich gibt es eine Viertelstunde Geschrei“, sagt er und deutet auf das Kind. „Aber danach ist erstmal Ruhe.“

Wir unterhalten uns, dann wiegt der Zug Julia in den Schlaf, geräuschlos. Wir gehen nacheinander Zähne putzen und legen uns ebenfalls hin. Der Zug ist nun irgendwo zwischen Berlin und Halle. Er wiegt leicht von links nach rechts, wenn er das Gleis wechselt. Ich lege mich hin, lehne mich mit dem Rücken an die Wand, werde geschuckert. Julia liegt auf dem Boden in einer Baby-Trage und schmatzt leise. Manchmal quietscht der Waggon leicht.

Als wir in Halle stehen bleiben, bin ich noch wach, doch dann muss ich eingeschlafen sein, denn die Zugteilung in Erfurt kriege ich nicht mit. Ab und an wache ich auf, werde leicht geschüttelt, schlafe wieder ein. Irgendwann höre ich Julia schreien. Das erste, milchige Licht  wabert schon durch die Vorhänge. Später sehe ich sie neben ihrer Mutter liegen. Auf der obersten Liege brummt leise ihr Vater. Sonst ist es still im Zug, die ganze Nacht schon. Die Polen schnarchen anderswo, die jungen Amerikaner sind wohl auch erschöpft.

Kurz nach Freiburg klopft es an der Tür.

„Guten Morgen!“, sagt eine fröhliche Bahnbedienstete mit schwyzerdütschem Einschlag. Sie wolle mich wecken, ich könne aber noch liegen bleiben, der Zug habe 30 Minuten Verspätung.

Basel Badischer Bahnhof. Dann Basel. Ich verabschiede mich von Julia und ihren Eltern. Der Anschlusszug fährt direkt am Gleis gegenüber ein.

Bevor ich mich dem Thema „Nachtzug“ widme, einige Eindrücke, wo ich überhaupt hingefahren bin.

Ich kam also mit dem Zug an. Wenn man mit dem Zug in die Schweiz reist, kommt man nicht umhin zu glauben, man befinde sich, höchstselbst in einer Modelleisenbahn sitzend, im Miniatur-Wunderland. Die kleinen Häuschen! Die Wiesen! Die Hügel! Hach, wie schön. Und alles so sauber.

Mein Reiseziel Bern bemühte sich fürderhin sehr, diesen Eindruck auch nach Ankunft zu bewahren. Schauen Sie nur:

Miniatur-Wunderland Bern

Blick von einer Terrasse hinunter. Es gibt unglaublich viele Terrassen in Bern.
Kaum biegt man um die Ecke, steht man schon wieder auf einer.

Und hier, gucken Sie mal:

Aussicht in Bern (mit Fenster)

Blick von einer … nee, diesmal war’s, glaube ich, eine Brücke.

Vokabeln, die einem in diesem Zusammenhang einfallen und die im Stillen einen Blogbeitrag formulieren, sind: pittoresk, heimelig, malerisch, liebreizend, putzig, eigene Ergänzungen erwünscht.

Stadtgasse in Bern mit Laub

Die Altstadt. Die Straße runter kommen Sie zu einer (tada!) Terrasse, von der aus Sie auf die Aare (Fluss dort) gucken können.

Neben kleinen Häuschen kann man auch andere Dinge entdecken: Kunst zum Zweimalhingucken zum Beispiel.

Haus in Bern mit Malerei

Maler stehen vor einem Haus. Oder Gemalte?

Wie ich so durch die Gassen streifte, ging mir auf, warum so viele Menschen in die Schweiz ziehen und von der Lebensqualität dort schwärmen. Was die Anzucht von Gemüse betrifft, geht da sicher Einiges.

Haus in Bern

Auch in der Schweiz ist Platz zum Züchten von Thorstingern.

Aber das ist es nicht allein. Bern, obgleich eine recht vertikale Stadt, ist so fahrradfreundlich – da träumt selbst ein Münsteraner. Hinz und Kunz ist mit dem Fahrrad unterwegs, niemand hupt, und es gibt an jeder Ecke Fahrradparkplätze. Vor Häusern sind sie sogar überdacht. In Deutschland dagegen überdacht man die Mülltonnen.

Fahrradparkplatz in Bern

Ich dachte, ich guck‘ nicht richtig: Fahrradparkplatz in Bern

Darüber hinaus sind die Freibäder kostenlos. Es ist nicht einmal ein Zaun drumherum. Man stapft einfach auf die Wiese, schon ist man drin. Und auch der Tierpark ist kostenlos. Man kann zwar auch gegen Geld hineingehen. Ein Großteil der Gehege ist aber einfach am Spazierweg der Aare gelegen, so dass man Ziegen, Biber und Pelikane auch so sehen kann.

Das hier allerdings ist nicht der Tierpark, sondern nur eine Stadttaube. Aber eine mit Märklin-Eisenbahnbrücke im Hintergrund.

Berner Taube

Auf Terrasse flanierende Berner Stadttaube vor pittoresker Kulisse.

Was auf den Bildern fehlt, ist die Schokolade. Die war aber zu schnell weg, als dass ich sie hätte fotografieren können.

So klappt’s auch mit dem Bahnfahren:

  1. Es erscheint Ihnen auf den ersten Blick erstaunlich, aber es gibt tatsächlich eine Menge Leute, die Bahn fahren. Und das, obwohl dieses Land so kommode Automobile baut. Die Tatsache, dass es Mitreisende gibt, bringt einige Unannehmlichkeiten mit sich. Zum Beispiel, dass es am Bahnsteig voll ist. Oder dass Menschen, bevor Sie, lieber Laienbahnfahrer, einsteigen können, erst aussteigen wollen. Und dass viele der Sitzplätze besetzt sind. Deshalb:
  2. Es besteht die Möglichkeit, Plätze zu reservieren. Das kostet vier Euro. Es ist unerfreulich, dass eine Reservierung Geld kostet, aber die Tatsache, dass es das tut und dass es noch dazu nicht preiswert ist, suggeriert, dass eine gewisse Nachfrage nach diesem Feature besteht.
  3. Wenn Sie einen Platz reserviert haben, bekommen Sie von der Deutschen Bahn einen Zettel, auf dem der Waggon und die Platznummer stehen. Auf dem Bahnsteig gibt es ein passendes Poster, auf dem zu sehen ist, wo der Waggon mit Ihrer Nummer halten wird. Das ist toll! Denn dann müssen Sie nicht Ihren Koffer, entgegen der Laufrichtung der restlichen Menschheit, durch fünf Wagen ziehen, ehe Sie Ihren Platz erreichen.
  4. Sollten Sie es mal verpasst haben, einen Platz zu reservieren und sich deshalb einfach den erstbesten nehmen, hilft es – gerade vor größeren Bahnhöfen, von denen man annehmen kann, dass dort Leute zusteigen – ein bisschen auf dem Sprung zu sein. Keine Sorge, nichts Schlimmes. Breiten Sie einfach nicht den Inhalt Ihrer großzügigen Tupperware-Schublade auf Ihrem Platz aus, samt Dressing-Shaker und Salat-Chef. Pro-Tipp: Über Ihrem Platz steht, ab wann ein anderer Mensch ihn reserviert hat. Und damit auch, wann Sie Ihre Prima-Klima-Brotbox einpacken müssen.
  5. Steht ein Mensch mit Reservierung an Ihrem Platz, ist das natürlich ärgerlich, keine Frage. Da kann man auch mal unwirsch werden, die freche Jugend verfluchen, darauf verweisen, dass man (a) zuerst zugestiegen ist, (b) nur noch eineinhalb Stunden fahren muss, (c) gerade isst oder (d) beliebige andere Begründung. Machen Sie Ihrem Ärger Luft! Hauptsache, Sie stehen auf.
  6. A propos Essen: Gekochte Eier sind toll. Das Eigelb rausnehmen, Maggi reinträufeln und reinbeißen – ja, das schmeckt. Dazu eine leckere Frikadelle und ein Mettbrötchen mit Zwiebeln – es gibt nichts Schöneres. Für Sie. Nicht für die anderen. Ich weiß, es scheint zunächst nicht denkbar, aber eine vierstündige Fahrt lässt sich durchaus mit einer Flasche Wasser und einer Laugenbrezel überbrücken. Nehmen Sie die Herausforderung an und versuchen Sie es mal.
  7. Thema Gepäck. Gepäck ist lästig, schwer, unhandlich und nimmt Platz weg. Besonders im Gang. Deshalb gibt es über den Sitzen die Möglichkeit, Gepäck zu lagern. Zwischen den Sitzen auch. Am Ende des Waggons. Und oft auch in der Mitte des Waggons. Ich gebe zu, manchmal reicht der Platz nicht. Dann müssen wir alle improvisieren. Aber mit Ihrem shetlandponygroßen Hartschalenkoffer den Gang zuzukorken, ist keine Lösung, glauben Sie mir.
  8. Überhaupt: shetlandponygroße Koffer. Es bietet sich an, statt eines Gepäckstücks, auf dem man  reiten kann, zwei zu wählen, die ein wenig handlicher sind. Und notfalls unter den Sitz passen. Sich auch leichter tragen lassen. Die man nicht herumwuchten muss. Nur so als Idee.
  9. Ja, die Toiletten. Eklig, nicht wahr? Dieser Trichter, der sich saugend und schnaufend nach unten öffnet, nachdem Sie verrichtet haben. Dazu dieses Ruckeln und Schunkeln des Zuges! Da kann man als Mann ja gar nicht treffen! – Sie kommen selbst drauf, oder?
  10. Eigentlich wären wir jetzt fast am Ziel, wenn nur diese leidige Verspätung nicht wäre. Ankunft: 15:08 Uhr in Berlin – so steht es auf dem Fahrplan. Nun ist es schon 15:11 Uhr, und wir fahren erst durch Charlottenburg. Dazu zwei Gedanken. Der erste: Wenn  Sie nicht schon seit Wolfsburg mit Jacke und Schal im Gang stünden, weil Sie Berlin-Ostbahnhof aussteigen müssen, kämen Ihnen diese zwei Minuten nicht so arg lang vor. Zweiter Gedanke: Planen Sie, wenn Sie mit dem Auto fahren, dass Sie um 11:48 Uhr in Dortmund losfahren und um 15:08 Uhr ankommen werden? Vielleicht sollten wir es manchmal nicht ganz so genau nehmen. Dann stimmt auch das Karma.

Nächste Lektionen: umgekehrte Wagenreihung, Verhalten in großen Gruppen und Nachtzug fahren. Oder nein: Zum Nachtzug erzähle ich lieber eine Geschichte.

Dortmund – Berlin – Bern – Dortmund.

Aus dem Ruhrgebiet nach Berlin gefahren. Dort die re:publica besucht, Menschen aus dem Internet getroffen und mit Herrn Snaefell zu Abend gegessen. Vorträge besucht, Leuten gelauscht und wieder zu Abend gegessen, diesmal mit Frau Claudine, Frau Monika und Herrn Christian.

Dann in den Nachtzug gestiegen und in die Schweiz gefahren.

Dort den Koffer ausgepackt, die Sonne rausgelassen und durch ein Miniatur-Wunderland lustgewandelt. Frau Gminggmangg, Frau Änni und Herrn jpr gegrüßt. Bären besucht, Schokolade gekauft, Fahrrad-Parkplätze bewundert.

Bern mit Aare

Bern mit Aare

Es gibt natürlich noch viel mehr zu erzählen. Das tue ich später, wenn ich aus dem Schoko-Koma erwacht bin.

Berlin hat viel zu bieten. Zum Beispiel die re:publica. Aber reden wir lieber über die wichtigen Dinge: über Gemüse-Kebap.

In der Nähe meines Hotels, nur die Straße runter, gibt es den besten Gemüse-Kebap Berlins. Sagt man. Mustafas hat für seinen Gemüse-Kebap ein rechteckiges Wägelchen, in das drei Leute reinpassen, von denen zwei Kebap herrichten und einer das Geld zählt.

Direkt gegenüber von Mustafas Wägelchen befinden sich ein Hostel, der „Verein für Lebenskunst“ und „Kim’s Karaoke“, außerdem ein Spätkauf, was alles in allem für eine gesunde Kirmes-Atmosphäre sorgt. Die Schlange bei Mustafa ist außerordentlich lang, war es, als ich am Sonntag in Berlin ankam und war es, als ich mich gestern Abend anstellte. Zehn Meter vielleicht – aber ich denke: So einen Kebap zu bauen, das ist ja nun kein Kunstwerk, das geht einem professionellen Kebap-Bauer mit Sicherheit schnell von der Hand.

Vor mir stehen drei Russen, die sich impulsiv auf Russisch unterhalten. Sie gehören ins Hostel, denn als der kleinste von den dreien am Ende dran ist, bestellt er sechs Kebap, während die anderen zwei sich schon auf die Zimmer verabschiedet haben. Überhaupt bestellt kaum einer nur einen Kebap, was die Zeit in der Schlange deutlich verlängert.

Mustafas Jungs haben währenddessen die Ruhe weg. Sie basteln Kebaps, zählen zwischendurch aber auch immer mal das eingenommene Geld. Man muss ja schließlich schauen, wo man steht, ob man nun bald das Dach runterklappen kann oder ob man noch eine Weile schaffen muss.

Hinter mir wartet ein Touri-Pärchen. Sie stellt sich eingehend die Frage, was der Unterschied zwischen Döner, Kebap und Dürum ist, warum sich in dem Wägelchen ein Fleischspieß dreht, wo doch „Gemüse-Kebap“ vorne drauf steht und fragt mich schließlich: „Du hast hier schonmal Kebap gegessen, oder?“

Ich sehe also aus, als würde ich in Kreuzberg öfter Gemüse-Kebap essen, was bedeutet, dass ich aussehe, als käme ich von hier und nicht vom Land. In Berlin komme ich mir immer fürchterlich landeierig vor, auch wenn das Ruhrgebiet nun wirklich kein Dorf ist. Es ist mir aber so, als laufe ich in unsichtbaren Gummistiefeln durch die Stadt, an denen noch Stroh klebt. Ich kann da einfach nicht aus meiner sauerländischen Haut raus.

Ich verneine, sage, ich käme nicht von hier. Ihr Gemütszustand steigert sich ins Verzweifelte.

In der Zwischenzeit kommen zwei asiatische Mädels aus dem Gebäude gegenüber. Vielleicht gehören sie zu Kim’s Karaoke, jedenfalls müssen sie sich nicht am Ende der Schlange anstellen, das unverändert weit hinten ist, auch jetzt noch, um 22.30 Uhr, sondern fädeln sich noch vor dem Russen ein, von dessen sechs Kebap drei fertig sind. Aber nun sind erstmal die Asiatinnen dran, deren schwarzes Haar vorne eingedrehte Löckchen hat, die sanft wippen.

Nach 30 Minuten bestelle ich einen Gemüse-Dürüm, lecker mit gebratenen Paprika, Zucchini und Kartoffeln, allen drei Soßen, auch scharf, Salat und Käse.

Das Ding ist wirklich unglaublich lecker. Eine Spitzenidee, gebratenes Gemüse dort reinzupacken. Es ist echt köstlich. Aber 30 Minuten warten ist dann doch etwas übertrieben. Morgen Abend gibt es deshalb etwas anderes.



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