Utersum | Der letzte Urlaubstag auf der Insel – eine schöne Fahrradtour von Wyk über Witsum nach Utersum ans andere Ende der Insel. Von dort aus kann man nach Amrum und Sylt gucken. Es ist nochmal deutlich ruhiger als in Wyk, wo es auch alles andere als überlaufen ist.
Im Café gibt es zwar keine Waffel, dafür Käsekuchen. Draußen sitzen geht auf Föhr gut – hinter Windschutz oder im Strandkorb ist es noch ausreichend warm.
Wie jeden Tag haben wir alles an Wetter: Regen, Sonne, Wind und Wolken. Auf dem Wasser sind Kitesurfer.
Der Rückweg führt uns über Borgsum und Nieblum, über Wirtschaftswege, durch Felder, an Schafen und Kühen vorbei.
150 Kilometer auf dem Pedelec habe ich in diesem Urlaub zurückgelegt. Das war sehr schön. Einfach durch die Landschaft radeln, Kühe und Schafe angucken, über den Wind fluchen, gegen den Regen kämpfen, mich über Sonne freuen und einfach treten.
Niemals kam der Wind von hinten.
Oldsum | Gestern waren wir nochmal in Oldsum. Die Torfrau hatte sich am Vortag schon ’nen Gemütlichen gemacht, als ich dorthin loszog – und so zeigte ich ihr das Dorf.
Ich erwähnte bereits, wie erdend es ist, mit strickenden Menschen in einem Wohnzimmer zu sitzen. Damit Sie einen Eindruck bekommen, wie das hier aussieht:
Für mich als Handarbeitshonk ist es höchst faszinierend, wie eine Socke entsteht. Mit Bündchen! Und Ferse!
(Es motiviert mich nicht, es zu lernen.)
Bemerknisse | Die Insel ist groß genug, um immer andere Wege zu radeln, und klein genug, dass man in zwei Tagen alles gesehen hat.
Kein Aperol zu Lounge-Musik. Keine Austern. Keine Hunde in Handtäschchen. Kein Schickimicki. Dafür Waffeln und Kartoffelsuppe, Gummistiefel, kleine Cafés, zerzauselte Labradors.
Man braucht kein Auto. Trotzdem kommen die meisten Menschen mit dem Auto. Gefühlt die Hälfte mit einem SUV.
Eines dieser hübschen Friesenhäuser kostet ungefähr 1,5 Millionen Euro. Schade.
Ich erwäge, mich über die Wintermonate auf diese Insel zurückzuziehen und hier zu verharren, bis es Frühjahr ist und das Corona-Virus wieder weniger Lust auf Menschen hat. Falls die örtlichen Tourismusmenschen mir das sponsern möchten: Ich bin offen für Angebote und würde auch Geschichten aufschreiben.
Diese Decke ist nicht aus Glas, sie ist aus Beton: extrem hart und undurchsichtig. Wenn die Decke gläsern wäre, könnten wir viel mehr lernen darüber, was dort oben passiert.
Etwa ein Drittel der Bevölkerung hat kein nennenswertes Vermögen und ist daher nur eine Kündigung, eine schwere Krankheit oder einen neuerlichen Lockdown von der Armut entfernt.
Zum Kurzarbeitergeld:
Ich bin ein Befürworter des Kurzarbeitergeldes, weil es Massenentlassungen verhindern kann. Aber ich halte es für einen Skandal, wenn die Bundesagentur für Arbeit durch Zahlung von Kurzarbeitergeld einen Großteil der Lohnkosten von BMW übernimmt, obwohl genug Geld da war, um den Aktionären eine satte Dividende von 1,64 Milliarden Euro zu zahlen.
Sankt Laurentii | Der Tag begann gemächlich: ausschlafen und Frühstück mit Plausch. Bevor wir aufbrachen, bereitete ich ein Kundengespräch für den Nachmittag vor. Ich gehe gerne gedanklich gerüstet in Gespräche und habe mir nochmal den Sachverhalt und seine Rahmenbedingungen ins Gedächtnis gerufen.
Die Torfrau und ich liehen uns Fahrräder, und wir radelten ziellos in Richtung Westen. Nach einigen Meilen gegen den Wind fanden wir einen Friedhof: den Friedhof von Süderende an der Kirche Sankt Laurentii. Dort erzählten die Grabsteine Geschichten.
Zum Beispiel diese (Absätze von mir zur besseren Lesbarkeit):
Denkmal der christlichen Eheleute, des ehemaligen Kaufmannes und Landmannes
Christian Diedrich Roeloffs aus Süderende (geb. d. 30. Jan. 1801, gest. d. 5. April 1885) und der Antje, geb. Ketels, verw. Braren (geb. in Toftum d. 19. Juli 1804, gest. d. 10. Nov. 1890).
Ersterer ist auf seinem Lebenswege reichlich gesegnet worden, hat aber auch mit seinen Gütern und Gaben Andern gern gedient, er hat indes auch des Lebens Last und Hitze tragen müssen:
2 Lebensgefährtinnen, mit denen er nur etliche Jahre gepilgert mit der ersten, Ingke Ocken aus Oldsum, 9 mit der zweiten, Mattje Lorenzen aus Süderende, 8 Jahre, und von seinen 9 Kindern, 4 aus der 1. und 5 aus der 2. Ehe, sind 7 vor ihm ins Grab gesunken, doch war es ihm vergönnt, an der 3. Hausfrau eine langährige Gehülfin zu finden, von 1846 bis zu seinem Lebensende.
Diese hatte ihren ersten Gatten, Brar Braren aus Oldsum, nach 15-jährigem Ehestande verloren und von den 8 Kindern, die sie ihm gebar, hat sie 5 ins Grab sinken sehen.
Auf dem Friedhof finden die Toten der umliegenden sieben Dörfer ihre Ruhe. Der Ort ist voll von Föhrer Namen, von Brarens, Knudsens, Roeloffs und Matzens. Manchmal haben sich ihre Wege gekreuzt, dann gibt es „Geborene“ und „Verwitwete“. Beerdigt sind sie durcheinander, bisweilen in Ansammlungen, seltener in Sichtachsen.
Das Kirchlein, erstmals urkundlich erwähnt im Jahr 1240, ist schlicht und gleichzeitig hübsch.
In die Confitentenlade konnten die Gemeindemitglieder ihr Begehren einwerfen, am Heiligen Abendmahl teilzunehmen – verbunden mit dem Wunsch, vorher zu beichten. Ein Projektmanagement-Instrument des Pfarrers.
Mission „Waffeltestung“ | Mit Gegenwind erreichten wir Nieblum. Das dortige „Eis- und Waffelhaus“ versetzte mich sogleich in zarte Aufregung.
Das Dargebotene erhält allerdings nur 6/10 Punkte auf der Internationalen Waffelskala™: geschmacklich eher fad und zu wenig Fluff. Auch das Eis konnte es nicht rausreißen. Die gestrige Waffel war besser.
Zur Einordnung – die Internationale Waffelskala zieht drei Kriterien zur Beurteilung heran:
Geschmack (natürliche Waffeligkeit ohne künstliche Aromen)
Fluff (Dicke, Weichheit bzw. Knusper, Mundgefühl)
Bräunung (zu dunkel gibt Abzüge)
Je natürlich-waffeliger der Geschmack, je idealer die Bräunung (hell mit einer Andeutung von Braun) und je fluffiger, desto höher die Punktzahl auf einer Skala von 1 bis 10. Alle Kriterien sind absolut subjektiv und gleichzeitig in höchstem Maße professionell und einzig wahr.
Nieblum an sich ist anheimelnd. Es gibt hübsche Friesenhäuser, Nippes-Läden und Cafés, alles sehr pittoresk.
Weniger pittoresk sind die Autos der Touristen, darunter viele SUVs, die sich über das Kopfsteinpflaster schieben, um möglichst nah dran zu parken.
Erdend | Am späten Nachmittag begann es zu regnen. Wir kehrten heim. Ich führte mein Kundengespräch und arbeitete ein wenig. Die Torfrau fuhr in einen Wollladen und sitzt nun, während ich blogge, im Ohrensessel und strickt Socken. Beide haben wir Frischluftvergiftung und müssen heute früh ins Bett.
Im Ohrensessel sitzende und strickende Menschen wirken beruhigend.
Expedition an die See | Kein Bild, kein Ton hier. Das lag daran, dass ich weg bin – an einem Ort, wo es kein WLAN gibt. Ich machte mir selbst WLAN, hatte aber trotzdem keine Lust zu bloggen.
Stattdessen befasste ich mich mit Käthe. Auf der Reise durch ihr Leben habe ich das Jahr 1911 erreicht, die Internationale Luftschifffahrtsausstellung (ILA) hat 1909 erstmals stattgefunden, sie bekommt Motorflugunterricht, und wir steuern direktemang auf den Ersten Weltkrieg zu – und so langsam auch auf das Ende der Erzählung. Noch kein Zielspurt, aber deutlich das letzte Drittel (wenn man das noch folgende Lektorat und Korrektorat außer acht lässt).
Wenn ich nicht schrieb oder, ermattet von der Seeluft, einschlief, fuhr ich mit dem Fahrrad durch die Gegend, einem geliehenen Hollandrad mit sechs Gängen. Die reichten aus. Denn wie ich feststellte, braucht man, um gegen den Wind zu fahren, nur den ersten, um mit dem Wind zu fahren nur den sechsten, alles zwischendrin ist Schischi.
Bilder von meiner Expedition an die Küste:
Wie man sieht, war die Sache mit dem Abstandhalten #wegenderaktuellenSituation nicht allzu herausfordernd.
Neue Fotos | In der verganenen Woche war ein bisschen Weihnachten, als Anke Sundermeier mir die fertigen Fotos von unserem Shooting schickte. Hier eine kleine Auswahl:
Auf meiner Website habe ich sie schon aktualisiert, ebenso in meinen Profilen bei Facebook, Twitter, Xing und Instagram.
In den nächsten Tagen aktualisiere ich noch die Texte auf der Website. Das möchte ich alles etwas straffer haben. Seit Beginn der Selbstständigkeit hat sich mein Profil geschärft. Das soll besser rauskommen. Die Terminseite ist schon frisch.
Tennis als Leibesertüchtigung | Ich verweilte außerdem zwei Nächte beim Patenmädchen Partymädchen im Osnabrücker Land. Im Zuge dessen schaute ich bei einem Tennistraining zu – Hausfrauentennis, wie die Damen selbst sagen.
Wie ich so zusah, konnte ich mir das sehr gut für mich vorstellen.
Neben dem Schwimmen ist Tennis ja eine Sportart, die man bis ins hohe Alter ausüben kann. Ich bin 42. Da muss man bei der Auswahl der Leibesübungen in die Zukunft denken. Was für Tennis spricht: Ich muss nicht mit anderen Menschen rangeln. Ich werde weder umgeschubst noch weggewemst. Niemand haut mich. Niemand reißt meinen Arm nach hinten, während ich gerade nach vorne springe. Das habe ich nach 30 Jahren Handball ein bisschen über. Vielleicht ist Tennis also ein Projekt für den nächsten Sommer. Dafür spricht auch, dass man es in jeglicher Skalierung spielen kann: von „Sich gegenseitig konpromisslos über den Platz scheuchen, bis sich der andere erbricht“ bis „Wir schlagen freundschaftlich Bälle übers Netz und hinterher ein isotonisches Getränk“.
Gelesen auf Papier |Die Dirigentin von Maria Peters, übersetzt von Stefan Wieczorek. Klappentext:
New York, 1926: Für Antonia Brico gibt es nur die Musik. Unermüdlich übt sie an dem alten Klavier, das ihr Vater, ein Müllmann, auf der Straße gefunden hat. Ihr großer Traum: Dirigentin zu werden. Doch noch nie hat eine Frau in dieser Rolle auf der Bühne stehen dürfen. Als sie sich als junge Frau zu einem Konzert ihres Idols Willem Mengelberg schleicht, und sich auf einem Klappstuhl in den Mittelgang setzt, wird sie herausgeworfen und verliert dabei auch noch ihren Job im Konzerthaus. Sie steht vor dem Nichts. Doch sie gibt nicht auf und reist nach Europa, um für ihren Traum zu kämpfen. Sie verlässt sogar ihre große Liebe Frank, um nicht in dessen Schatten zu stehen. Unermüdlich klopft sie an die Türen der großen Musiker. Karl Muck, der legendäre Dirigent in Berlin, zerreißt vor ihren Augen ihr Empfehlungsschreiben. Antonia sieht letztlich nur einen Weg: Ein Orchester nur mit Frauen, von ihr selbst dirigiert. Mit dem Eröffnungskonzert ist klar: Es wird Antonia befreien – und die Musikwelt für immer verändern.
Eine spannende Geschichte, leider mit dem Holzhammer erzählt. Die Biographie Bricos ist einzigartig: Als einer der ersten Frauen wurde sie Dirigentin, nachdem sie aus den USA ausgewandert war und eine Ausbildung in Europa erhielt. Sie dirigierte 1930 die Berliner Philharmoniker, und war auch nach ihrer Rückkehr in die USA als Dirigentin tätig.
Die Art und Weise, wie Maria Peters Bricos Geschichte in einer fiktiven Romanbiographie erzählt, erinnert allerdings in ihrer Flachheit an Herzschmerz-Frauenromane. Die Sätze werden mir als Leserin wie Backsteine um die Ohren gehauen, jeder Gedanke wird vorweggenommen, innere und äußere Konflikte werden holzschnittartig auf den Mann/Frau reduziert. Schade.
Martina kümmert sich um Martha. Martha ist Mitte achtzig und in einer „poetischen Verfassung“. So nannte das Heinrich, der Mann, mit dem Martha fast vierzig Jahre lang zusammenlebte. Aber jetzt ist Heinrich tot, und Martina beschließt, sich der alten Dame anzunehmen, ohne mit ihr verwandt zu sein oder sie auch nur gut zu kennen. Oder ist es vielmehr Martha, die sich Martina ausgesucht hat? So genau ist das nicht mehr auszumachen, aber es ist auch nicht wichtig, weil sie nämlich beide glücklich sind, so wie es ist. Martina Bergmann tritt in ihrem ebenso klaren wie empathischen Bericht den Gegenbeweis dafür an, dass die Betreuung eines dementen Menschen eine Bürde sein muss. Sie schildert, wie es sich anfühlt, mit jemandem zusammenzuleben, der trotz seiner Einschränkungen klug und humorvoll, ja geradezu hellsichtig ist.
Einerseits: eine schöne kleine Geschichte. Eine Erzählung aus dem Leben mit einer freundlichen Sicht auf Demenz und aufs Zusammenleben.
Andererseits glaube ich der Erzählerin nicht. Es kann nicht so einfach gewesen sein mit der dementen Dame. Mir fehlt das Innenleben der Erzählerin, ein innerer Konflikt, das Für und Wider von Zuneigung einerseits und Wut, Überforderung und Frustration andererseits, wenn die Krankheit zu dominant ist. Da bleiben mir zu viele Lücken, das erscheint mir zu viel Schönrederei.
Schwäche des Buches ist, wenn die Erzählerin sich an der empfundenen Missgunst von Nachbarn und Dorfbewohnern abarbeitet. Das wiederholte, leicht gebetsmühlenartige Erwähnen dieses Motivs hinterlässt einen schalen Beigeschmack.
Aus meiner Sicht hätte es der Geschichte gut getan, weiter in die Fiktion zu rücken und aus verschiedenen Perspektiven erzählt zu werden: aus der Martinas, die sich um die alte Dame kümmert; aus Sicht der dementen Marthas; aus der Perspektive eines Nachbarn oder einer Nachbarin; aus der Perspektive des Vermögensverwalters.
Ferdinand von Schirachs neues Buch »Kaffee und Zigaretten« verwebt autobiographische Erzählungen, Aperçus, Notizen und Beobachtungen zu einem erzählerischen Ganzen, in dem sich Privates und Allgemeines berühren, verzahnen und wechselseitig spiegeln. Es geht um prägende Erlebnisse und Begegnungen des Erzählers, um flüchtige Momente des Glücks, um Einsamkeit und Melancholie, um Entwurzelung und die Sehnsucht nach Heimat, um Kunst und Gesellschaft ebenso wie um die großen Lebensthemen Ferdinand von Schirachs, um merkwürdige Rechtsfälle und Begebenheiten, um die Idee des Rechts und die Würde des Menschen, um die Errungenschaften und das Erbe der Aufklärung, das es zu bewahren gilt, und um das, was den Menschen erst eigentlich zum Menschen macht. In dieser Vielschichtigkeit und Bandbreite der erzählerischen Annäherungen und Themen ist »Kaffee und Zigaretten« das persönlichste Buch Ferdinand von Schirachs.
Einige Anekdoten mochte ich. Sie lassen Fragen zu, sind ergebnisoffen, machen nachdenklich. Andere empfand ich als selbstverliebt und aufgesetzt intellektuell.
Der Eindruck, der blieb: ein mir fremder Mann, ein Mensch aus einer anderen Welt, der Welt des Elite-Internats, Spross einer wohlhabenden Familie und ein Jurastudium, das ihn mit der Strafverteidigung ebensolcher Menschen konfrontierte. Was auch bleibt, ist der Eindruck eines verschlossenen Mannes – denn wenn das, was er schreibt, das Persönlichste ist, was er zu schreiben vermag, dann habe ich ein anderes Verständnis von persönlich.
Abenteuer | In meinem Kiez kenne ich inzwischen jeden Baum und jede Ente mit Vornamen. Es war Zeit, mal woanders durch die Gegend zu gehen. Also fuhr ich in die Heimat. Dort gibt es ausreichend Landschaft, um sich die Beine zu vertreten und dabei etwas Anderes zu sehen als das Übliche.
Ich ging die alte Runde, die wir sonntags immer mit der Familie gingen, damals in den 80ern und Anfang der 90er: vom Lahrfeld über Kempers Hof Richtung Barge, von dort zum Hexenteich, über den Kapellenberg und wieder zurück. Das sagt Ihnen jetzt nichts, Sie kennen das alles nicht, das macht aber nichts. Ich nehme Sie mit.
Kempers Hof ist ein Bauernhof zwischen dem Ortsteil, in dem ich aufwuchs, und Barge. Barge ist auch ein Ortsteil, ein besonderer, denn Barge hat einen Segelflugplatz.
Über Kempers Hof geht man drüber: beim Spazierengehen, beim Wandern, beim Joggen. Man geht an der einen Seite rein und an der anderen wieder raus, und wenn grad jemand aus dem Haus oder aus dem Stall kommt, grüßt man nett.
Als ich hier aufwuchs, fürchtete ich mich vor dem Gang über den Hof, denn dort lebten zwei Hunde, sehr wütende Hunde. Sie liefen frei herum. Sie bissen niemanden, aber sie waren eben sehr unfreundlich, sie bellten und liefen hinter jedem her, der ihr Revier betrat. Erst nach Durchqueren des Hofes, am immergleichen Zaunpfosten, ließen sie von den Besuchern ab und trotteten zurück an ihren Platz, mit stolz geschwellter Brust: Schau her! Ich habe die Eindringlinge vertrieben!
Gestern lag ein Großpudel auf dem Hof. Gelangweilt kaute er auf etwas. Kein Gebell, kein Gerenne. Hofhunde sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.
Hinter den Barger Hügeln liegt der Hexenteich. Um dorthin zu gelangen, läuft man durch einen dichten Wald, so war das jedenfalls damals. Heute ist der Wald licht. Stürme, Trockenheit, Käfer – was immer es war, das die Bäume zerlegt hat: Es war gründlich.
Alles sieht anders aus als in meiner Kindheit. Die Landschaft hat gelitten, hat sich verändert, die Wege sind nicht mehr dort, wo sie waren, vielleicht finde ich sie auch nur nicht. Es geht am Wald vorbei über die Wiese – und dann ist er wieder da, der Weg, markiert vom Sauerländischen Gebirgsverein.
Mitten im Wald liegt der Hexenteich. Er heißt so, weil dort im 16. und 17. Jahrhundert Frauen hingerichtet wurden. Sie wurden ertränkt oder verbrannt. 1631 überlebte eine Frau mit dem Namen Dorte Hilleke die Folter. Deshalb heißt die Mendener Bücherei „Dorte-Hilleke-Bücherei“.
Mein Großonkel Paul (*1906) ging bis ins hohe Alter mehrmals in der Woche zum Teich. Er spazierte viel, und er haute beim Spazierengehen viel auf die Erde. Er sagte immer, dort könne man gute Dinge aufsammeln, wenn man nur aufmerksam genug sei. Er fand oft Tennisbälle, die er uns Kindern mitbrachte. Außerdem fand er ständig Geld, mal Pfennige, mal eine oder zwei Mark, einmal sogar 20. Einmal rettete einen Menschen, der in den Hexenteich gefallen war, vor dem Ertrinken. Er erhielt dafür ein Verdienstkreuz.
Als ich klein war, liefen wir Schlittschuh auf dem Teich. Oder wir fuhren mit dem Schlitten den angrenzenden Berg hinab, durch dichten Tannenwald. In guten Wintern ging die Fahrt bis aufs zugefrorene Wasser, lang und steil und mit zahlreichen vereisten Stellen. Es gab eine Rampe hinab auf den Teich; wenn man richtig Schwung drauf hatte, hob man kurz ab.
Heute stehen Kunstwerke des Bildhauers Mile Prerad um den Teich. Er ist ein serbisch-bosnisch-deutscher Bildhauer, lebte lange in Menden, mittlerweile auf Rügen. Seine Skulpturen sind aus großen Baumstämmen und zeigen Krieg und Verfolgung.
Wenn man vom Teich aus weitergeht, kommt man in den Kapellenberg. Im Kapellenberg steht die Antoniuskapelle. Der Weg von der Vincenzkirche in der Mendener Altstadt bis zur Kapelle im Wald, der Weg über den Berg und wieder runter in die Stadt ist gesäumt von kleinen Häuschen mit Bildstöcken und Figuren. Sie zeichnen den Leidensweg Jesu nach.
Zu Ostern findet dort die Karfreitagsprozession statt. Die ganze Nacht hindurch ziehen stündlich Prozessionen von Gläubigen über den Berg. Freiwillige melden sich bei der Kirchengemeinde, um das schwere Kreuz zu tragen. Die Träger bleiben anonym; sie sind in Sackleinen gehüllt, eine Perücke verhüllt ihre Gesichter.
In diesem Jahr trugen nur Zwei das Kreuz über‘n Berch: der Pfarrer und der Bürgermeister. Die große Tradition, die Prozession mit Hunderten, nochmal Hunderten und je tiefer die Nacht wird, mit Vereinzelten, fiel aus – wegen Corona. Wer dennoch wollte, ging allein den Weg, zum Tag oder zur Nacht.
Nach zweieinhalb Stunden war ich gestern wieder am Auto – mit dem Gefühl, ein großes Abenteuer erlebt zu haben, nach fünf Tagen nur im Dortmunder Kiez.
Gartenarbeit | Heute war ich im Garten. Die letzten Kürbisse wollten in die Erde. Ich säte Mangold und Lauchzwiebeln ein, setzte ein paar Blumenzwiebeln, macht das neue Beet vor den Wasserbecken schön und topfte ein bisschen was um.
Es ist erstaunlich, wie lange das alles dauert. Ich werkelte den ganze Nachmittag. Immer, wenn ich dachte, alles sei erledigt, sag ich noch etwas, das ich tun könnte. Es gibt immer noch etwas, das ich aufharken oder gießen kann, das noch eingepflanzt oder umgesetzt werden möchte.
Nun ist alles in der Erde, was dort hin soll. Auch die Kartoffeln sind gesetzt.
Der erste Salat ist schon fast gar, die Radieschen sind gut aufgestellt, und auch die ersten Möhren zeigen sich.
Am Dienstag, Mittwoch und Donnerstag soll es regnen. Das wäre toll.
In den Augen seines Vaters ist Nelson eine Enttäuschung. Wer will schon ein Kind, das weder Freunde noch Selbstbewusstsein besitzt? Je intensiver der verunsicherte Junge sich nach Zuwendung sehnt, desto stärker sondert sich der Vater ab, bis er irgendwann ganz aus dem Leben seines Sohnes verschwindet. Doch in einem Punkt hat er sich getäuscht. Nelson ist nicht allein. Jonathan, sein bester Freund aus dem Pfadfinderlager, ist das genaue Gegenteil von Nelson: bei allen beliebt, pragmatisch und mit einer unverwüstlichen Leichtigkeit ausgestattet. Was aber treibt jemanden wie Jonathan dazu, sich mit einem Außenseiter anzufreunden? Und stand Jonathan wirklich immer so rückhaltlos zu ihm? Das Leben im rauhen Wisconsin verlangt Nelson, Jonathan und dessen Familie Prüfungen ab, die Freundschaft und Loyalität auf eine harte Probe stellen.
Gerne gelesen. Die Geschichte macht zwei Zeitsprünge: Sie beginnt, als Nelson und Jonathan etwa neun Jahre alt sind. Dann springt sie in einer Zeit, in der beide Ende 40 sind. Im letzten Teil sind sie um die 80.
Nickolas Butler entwickelt die Charaktere gut und nachvollziehbar, über verschiedene Szenen, ohne selbst zu werten. Er erzählt, beschreibt und lässt mir als Leserin ausreichend Leerstellen, um eigene Gedanken zu entwickeln. Das mochte ich.
Ausflug | Das Wochenende habe ich in Geldern und Xanten verbracht. In Xanten war ich zuletzt in der fünften Klasse; es war eher unschön. Die Fahrt vom Sauerland an den Niederrhein war gefühlt so lang wie ans Ende Europas, es hat in Strömen geregnet (tatsächlich oder erinnerlich), es war sterbenslangweilig und überhaupt: Klassenfahrt. Ich habe Klassenfahrten gehasst: Ausflugsfahrten zu Zielen, die man sich freiwillig nie ausgesucht hätte, gemeinsam mit Leuten, die man sich nie eingeladen hätte, garniert mit Mobbing und Gruppendruck.
Die Klassenfahrt des Wochenendes war freiwillig in der Wahl des Ziels und in der Wahl der peer group, fürs allgemeine Wohlbefinden gab es Sauna, Rotwein und Prosecco. Vor diesem Hintergrund erstrahlte der Ausflug in ganz anderem Licht als weiland 1988.
Fazit der Führung „Frauen in der römischen Antike“: So richtig geil war’s im Alten Rom nicht. Außen vorm Legionärscamp hocken, vom Feind als erstes geschlachtet werden, kein Recht auf Heirat und Versorgung, Mädchen wurden ausgesetzt und mussten sich prostituieren. Immerhin gab’s Fußbodenheizung in der Therme.
Werbung, unbezahlt: Der Seepark Geldern war top, tolle Wellnesslandschaft, sehr freundlich, gutes Essen. #serviceblog
Verfall | Seit Tagen schleppe ich einen Infekt mit mir herum. Nichts, was den Namen „Krankheit“ verdient, ich bin einfach matt. Gestern gings mir tagsüber zusehends elender, auf der Heimfahrt vom Kunden ereilten mich Unwohlsein, Gliederschmerzen, Übelkeit, bleiernde Müdigkeit, später Husten, warm, kalt, alles doof. Heute Morgen war das Befinden dann so lala, das Elend war unelendiger, kein Schnupfen, nur leichter Husten, aber auch nicht gut, weiterhin Gliederschmerzen obenrum. Keine Ahnung, was das nun wieder ist.
Ich blieb heute zu Hause, lag und saß herum, mit großer Konzentration auf Besserung hoffend, die sich am Vormittag nicht, am Nachmittag zumindest ansatzweise einstellte.
Loslassen | Ein Entschluss des Urlaubs ist: Ich muss delegieren. So wie im vergangenen Jahr geht das nicht weiter, es ist zu viel, besonders in den Belastungsspitzen.
Ich engagierte deshalb jüngst Claire als virtuelle Assistenz und als jemanden, der mir Kleinkram wegschafft und mir ein externes Gehirn ist. Es gibt nämlich ein paar Dinge, die ich gut delegieren kann:
Infos recherchieren, zum Beispiel Brancheninformationen zu Kunden oder praktische Dinge wie Reiseplanung
Dinge tun, die nicht dringend und nicht wichtig sind, aber irgendwann dringend und wichtig werden und mich dann in Stress bringen, zum Beispiel endlich mal mein Logo als Wort-Bild-Marke schützen lassen.
Ideen anfangen, brainstormen, andenken; einen Beginn finden in etwas, mit dem ich mich vorher noch nie beschäftigt habe.
Ich benötige niemanden, der mir Routineaufgaben abnimmt. Die habe ich, zum Beispiel in Sachen Buchhaltung, so automatisiert, digitalisiert und routinisiert, dass sie mir keine Belastung sind. Ich brauche Unterstützung für die Summe der Einzelfälle, die, gemessen an ihrer Relevanz, unverhältnismäßig viel Energie und Geisteskraft benötigen – oder die Kreativität erfordern, wenn ich gerade keine habe.
Erfahrung der ersten Wochen:
Es ist entlastend, Dinge abzugeben.
Das Ergebnis ist nicht schlechter, als wenn ich es selbst erledigte.
Bisweilen ist das Ergebnis sogar besser. Diese Möglichkeit hatte ich, dank der mir eigenen Hybris, gar nicht so präsent. Man hat ja eher Angst loszulassen. Shame on me.
Seminartage | Im Juni und im November werde ich Volontärinnen und Volontären aus Medien und PR wieder die Grundlagen des Projektmanagements nahebringen. Wie schon in 2019 wird das ein pragmatischer Tag: ein wenig Theorie aus dem Lehrbuch, in der Mehrheit aber praktische Ratschläge fürs daily business in kleinen Print- und Digitalprojekten.
Verwunderung | Es ist befremdlich, wie dieser Tage alte Männer, mit denen Merkel irgendwann mal Schluss gemacht hat, aus dem Mottenkeller kriechen und sich für den CDU-Parteivorsitz anbiedern. Gibt es keine einigermaßen jungen Männer und Frauen, die demokratischen Sachverstand haben, einen einigermaßen tauglichen moralischen Kompass haben und moderne, konservative Politik machen wollen?
Nicht, dass ich sie wählen wollte. Ich habe nur das Gefühl, dass es dafür einen Bedarf gibt und dass es für uns alle gut ist, wenn dieser Bedarf ein demokratiekompatibles Angebot findet.
Abschied ins kalte Dunkel | Ich freute mich durchaus, wieder nach Hause zu kommen, nur auf eine Sache habe ich mich nicht gefreut: aufs kalte, nasse Dunkel. Das Licht, die Wärme – vielleicht bin ich gar kein Mensch. Vielleicht bin ich eine Blume.
Die andere Filterbubble | Sehen wir das Positive: Das Schöne an touristischen Flughäfen ist, dass man sich dort gemeinsam mit Leuten aufhält, mit denen man im sonstigen Leben nicht zusammenkommt. Weil man nicht zusammenkommen möchte. Ein zauberhafter Ort der Auseinandersetzung mit sich selbst, seinen Werten, den Werten der Anderen, der eigenen Achtsamkeit, des Gleichmuts und der Fähigkeit zur Nächstenliebe.
Am Flughafen Teneriffa-Süd fällt der deutsche Reisende auf. Das liegt nicht einmal an seinem Hang zu Rentnerbeige, Sieben-Achtel-Hosen und Bauchtaschen; letztere als Nylon gewordener Beweis, dass der Ausländer zum Klauen neigt – besonders dann, wenn man sich in seinem Land befindet.
Nein, das alles ist es nicht, auch wenn das Genannte gute Hinweise sind. Es ist vor allem sein Auftreten als Grantler, das den deutschen Reisenden unverkennbar zu einem Vertreter seiner Nation macht. Er weiß nämlich alles und vor allem alles besser. Im Gegensatz zum spanischen Flughafenmitarbeiter weiß er zum Beispiel, wie man einen Check-in organisiert, einen Duty-Free-Shop betreibt und Anzeigentafeln bedient. Weil er im Zuge der Entwicklungshilfe rückständigen Nationen gerne selbstlos unter die Arme greift, erklärt er dem Spanier zu jeder sich bietenden Gelegenheit, was er falsch macht. Wenn der Spanier es nicht versteht, erklärt der Deutsche es nochmal lauter.
Tschüß, Sonne! Tschüß, Wärme!
Das Leben war jedoch gut zu mir und platzierte mich für den Flug neben einem jüngst ins Rentnerleben eingetretenen Holländer, der sich, frisch verliebt, mit seiner Herzensdame einen VW Bus gekauft hat. Den Bus richten die Beiden her. Dann fahren sie damit im Sommer auf Festivals – und was danach komme, sagte er, werde man sehen. Wir unterhielten uns über Gott und die Welt und über den Job; er war mal Verkaufsleiter, wir tauschten uns über Teams und Mitarbeiterführung aus – und darüber, was wichtig ist im Leben und im Zusammensein mit Menschen. Ein sehr erbauliches Gespräch.
Eine von 19 Tasten ist die richtige | Nach der Landung stieg ich in den Regionalexpress von Düsseldorf-Flughafen nach Dortmund. Zuvor beschäftigte ich mich mit dem Ticketautomaten.
Stellen wir uns zu diesem Zwecke vor, ich sei ein Mensch, der selten Bahn fährt oder der aus Paris, Rom oder Moosach im Landkreis Ebersberg kommt. Ich möchte von der Stelle, an der ich mich befinde, dem Bahnhof des Sky Trains, nach Dortmund fahren. Ich bin ein redlicher Mensch und möchte beim Lösen des Fahrscheins alles richtig machen.
Ich tippe den Bildschirm an und sehe:
Wie hoch schätzen wir die Chance ein, dass ich mit dem richtigen Ticket in den Zug nach Dortmund einsteige?
Das destroyed sie voll | Wir fuhren schon ein Weilchen durch die Dunkelheit, als plötzlich aus einem Vierersitz Satzfetzen zu mir herüber flogen.
„Sie hat dich gehatet, sie hat mich gehatet, aber sie ist irgendwie cool.“ „Laura ist voll der Facepalm.“ „Okay, true. Sie wollte die ganze Zeit was mit Noah haben, das war so obvious, aber sie sagt immer: Nee, will ich nicht.“ (nachgeäfft) „Noah, kann ich noch‘n Wein haben. Noah, gibste mir ne Kippe. „ „Ich hab jetzt einen getindert, der sah cute aus, aber der hatte voll die ekelige Caption. Ich hab den trotzdem geliked. Das Date war so abgefucked, ey.“ „Guck dir mal so Tinder-Dokus an, dann bist du auch durch damit. Geh doch einfach auf irgendwelche Parties.“ „Geh ich doch.“ „Aber nicht auf die richtigen.“ [Gesprächspause] „Ich finde das voll wag von mir selber, dass ich so viele Menschen um mich herum habe, aber qualitativ halt auch irgendwie wenig.“ „Ich hab auch voll wenig Leute, auch an der Uni, weil wenn du von der Qualität her denkst, dann sind da nicht viele.“ „Leute müssen halt neue Ideen in mein Leben bringen. Weißt du, so – wenn sie mir neue Versionen von mir selber zeigen. Manche greifen nur Teile von dir und manche greifen dich ganz. Ich versuch noch dahinterzukommen, was der Key zu dem Ganzen ist, so that‘s it und so. Das destroyed mich dann manchmal, aber manchmal bringts mich auch echt weiter.“
Björn Diemel wird von seiner Frau gezwungen, ein Achtsamkeits-Seminar zu besuchen, um seine Ehe ins Reine zu bringen, sich als guter Vater zu beweisen und die etwas aus den Fugen geratene Work-Life-Balance wieder herzustellen. Denn Björn ist ein erfolgreicher Anwalt und hat dementsprechend sehr wenig Zeit für seine Familie. Der Kurs trägt tatsächlich Früchte und Björn kann das Gelernte sogar in seinen Job integrieren, allerdings nicht ganz auf die erwartete Weise. Denn als sein Mandant, ein brutaler und mehr als schuldiger Großkrimineller, beginnt, ihm ernstliche Probleme zu bereiten, bringt er ihn einfach um — und zwar nach allen Regeln der Achtsamkeit.
Die Idee ist ganz wundervoll und unterhält zu Beginn auch sehr gut. Über die gesamten 416 Seiten ist das Thema aber ein bisschen dünn, die Geschichte hat Längen, die Charaktere zu sehr von der Stange. Ein zweiter Handlungsstrand wäre hilfreich. Den gibt’s aber nicht. Okay als Strandroman zum Nichtnachdenken.
Abreise | Abschied von M, vom Eremitenhäuschen, von der Stille. Fahrt nach San Sebastián. Den Mietwagen abgegeben. Zeit bis zur Abfahrt der Fähre. Ich lief durch die Stadt, aß ein Bocadillo, kostete einen Barraquito – wie man hört, eine Spezialität auf den Kanaren: Kaffee, Kondensmilch, Likör. Vier von zehn Punkten.
Ich setze mich auf eine Bank am Strand. Dann lege ich mich auf eine Bank am Strand.
Am Wasser versucht sich ein Mann am Handstand. Er hockt sich hin wie in den Startblock, lange, sehr lange, er sammelt sich, dann wirft er die Beine hoch, vergebens. Wieder vergebens. Neuer Anlauf. Hinstellen, Startblock, Beine hochwerfen. Er hält den Handstand. Einundzwanzig. Zweiundzwanzig. Er fällt um. Stellt sich wieder hin. Wischt seine Hände an seinen Shorts ab. Hockt sich wieder in den Startblock. Er tut dies eine Stunde lang. Es ist meditativ.
Am späten Nachmittag gehe ich zum Fährterminal. Das Gepäck kommt in Schließfächer. Ein Wägelchen fährt es aufs Schiff.
Im Fährterminal sitzt ein Pärchen. Die Beiden fallen mir auf, weil er ein T-Shirt mit einem Aufdruck trägt.
Sie ist dick, sehr dick, die Füße quillen aus den Schuhen, von ihre Armen hängt das Fleisch hinab. Er ist hager mit Hörgeräten, die Haare ein Kranz, die Füße in Turnschuhen. Sie sind beide jenseits der 70. Auf seinem T-Shirt steht: „Old Guys‘ Club.“
Sie telefoniert mit irgendwem, Britisch. Er pellt derweil eine Mandarine, sehr sorgfältig macht er das, zieht jedes weiße Fädchen ab, legt es in die Mandarinenschale, reiht dann die freigepulten Stücke auf seinem Oberschenkel auf. Dann lehnt er sich zurück und beginnt zu essen, vorwärts vom Schritt bis zum Knie, eine Spalte, dann die zweite. Bei jeder Mandarinenspalte schließt er kurz die Augen.
Sie beendet ihr Telefonat. Er hält ihr stumm eine weitere Mandarine hin. Sie sagt etwas, nimmt sie und pellt sie. Dann gibt sie ihm die gepellte Frucht und er macht die Feinarbeit, zieht die weißen Fäden ab, legt sie in die Schalen, reiht die Stückchen auf ihrem Oberschenkel auf.
Dann essen sie gemeinsam die Mandarinen, von vorne nach hinten, und mittendrin, sie sind beide noch nicht am Knie, schauen sie sich an, lächeln und küssen sich.
Tschüss, bis dann | Adiós, La Gomera.
Overflow | Auf Teneriffa, in Los Christianos, Sinnesoverflow. Überall Blinki-Blinki, Musik, Menschen, die Sirenen der Ambulanz unter dem Balkon.
Kraxelei | Heute war der letzte Tag auf La Gomera, morgen reise ich ab. Deshalb ging ich nochmal wandern, eine kleine, stressfrei Tour sollte es sein, nachdem ich ja vorgestern, als ich nur ins Nachbardorf wollte, doch nicht nur ins Nachbardorf ging.
Es ließ sich auch geschmeidig an.
Der Weg machte ein paar Schleifen, steuerte auf eine Schlucht zu und lief zunächst hoch über dem Tal weiter.
Danach ging es bergab. Steil bergab. Im Wanderführer heißt das „felsiger Talschuss“.
Über eine Felsnase stieg ich runter, im Hintergrund das Dorf Imada und die Südspitze La Gomeras.
Ja, richtig: Das geradeaus ist der Weg. Über die Felsen ging es drüber und dann rechts hinab. Dort der weitere Abstieg:
Ich bin mir nicht sicher, ob man es sieht: Es ist steil. Ich bugsierte mich rückwärts, mit Festhalten, über die Felsen. Auch das, was danach kam, war wenig anheimelnd: eine fast ebene Fläche den Berg hinab. Ich erwog, mich einfach auf den Hintern zu setzen und runterzurutschen. Es ging dann aber doch irgendwie aufrecht und seitwärts.
Im Folgenden, das kennen Sie von anderen Wanderungen, sah es dann so aus, links der Weg:
Über Felsen und Schleifen stieg ich ins Tal.
Bei solchen Abstiegen gilt ja die goldene Regel: Nicht an Kakteen festhalten. (Nicht lachen! Passiert total schnell.) Während ich hinabkraxelte, dachte ich: Das ist gleichzeitig eine Weisheit fürs Leben, ein schönes Bild, im übertragenen Sinne.
Das Zauberhafte am Runterlaufen ist, dass es postwendend wieder hinauf geht. Ich erspare Ihnen immergleiche Fotos der folgenden Aufstiegsstunde. Beispielhaft:
Während ich hinaufschnaufte, zogen Wolken das Tal hoch. Jeder Versuch zu eilen schlug allerdings fehl: Schneller hinaufsteigen war nicht drin.
Eine Stunde später verflachte sich der Weg, stieg aber weiter stetig an.
Auf der Hochfläche wuchsen nur Sträucher und Heidekräter und sehr große Disteln. Ich ging an einer einsamen Kate mit einzelnen Terrassenfeldern vorbei. Dort waren riesige Kakteen.
Am Bushäuschen genehmigte ich mir eine Pause. Ich brauchte ein bisschen Sprit im Tank, aß eine Banane und zwei Kekse, beobachtete Hühner und beäugte den Schädel.
Das letzte Stück auf den Garajonay war identisch mit der ersten Tour. Allzu viele Wege führen eben nicht nach oben.
Nach dreieinhalb Stunden Wandern erreichte ich das Gipfelplateau.
Vor mehr als zwei Wochen stand ich vollständig in Wolken. Diesmal war es wärmer, die Wolken waren deutlich weniger – aber dennoch: Sie waren da. Die Nachbarinseln sah ich nicht.
Es waren einige andere Wanderer dort oben; es schwäbelte vernehmlich. Überhaupt schwäbelt es hier an allen Ecken und Enden. Vielleicht ist es manchmal auch Badisch – was weiß ich als Dortmunderin schon. Im Januar scheint La Gomera jedenfalls eine Rentnerwanderinsel für rüstige baden-württembergische Frühsenioren zu sein.
Beim Abstieg saß ein Turmfalke auf dem Wegweiser.
Das Schild sagte, es seien 3,7 Kilometer bis zu meinem Parkplatz „Pajarito“. In weiten Schleifen sollte der Weg den Berg hinabführen. Gerade das Richtige, um die Beine auszulaufen.
Ich stapfte also frohen Mutes über die Forststraße hinab, oberhalb des Dorfes Igualero. Dort gab es eine tolle Wolkenshow.
Als ich weiterlief, war jedoch plötzlich Schluss: Felssturz! Der halbe Hang war runtergekommen, riesige Felsen überall – kein Durchkommen. Hierher kam ich nicht nach Hause.
Zweihundert Meter vor dem Felssturz hatte ich einen Weg den Berg hinauf gesehen. Vielleicht führte er drumherum? Ich ging hinauf, es sah zunächst gut aus, aber dann endete der Weg in immer dichter werdender Baumheide. Sehr naturnah, besonders für meine nackten Beine.
Ich kehrte um, blätterte im Wanderführer, schaute auf meine Offline-Karten. Es gab keine Alternative: Ich musste zum Garajonay-Sattel zurücklaufen, wieder zwei Kilometer hoch, um dann über die andere Seite steil abzusteigen.
Sonne und Wolken schenkten mir dabei doch noch einen Blick nach Teneriffa.
Rechts unten der Parkplatz.
Infos zur Tour: Rother Wanderführer Nr. 11: Von Pajarito über Imada auf den Garajonay / 10 Kilometer / 650 Höhenmeter
Für mich waren es 14 Kilometer und um die 850 Höhenmeter.
Zurück am Auto war ich feddich wie’n Brötchen. Auf der Heimfahrt ins Eremitenhäuschen musste ich einen Nothalt einlegen und ein Stützeis kaufen.
Letzter Abend | Das Tal gab nochmal alles, um mir den Abschied schwer zu machen.
Tagwerk | Morgens in der Hängematte geschaukelt, Podcasts und ZEIT Audio gehört. Wäsche gewaschen. Mittags Gazpacho. Nachmittags geschrieben. Himmel bedeckt, das Wetter machte auch Sonntag.
Die aufregendsten Ereignisse heute (in genannter Reihenfolge):
Ein Rettungshubschrauber flog übers Tal.
Zwei schwarze Katzen stritten sich und jagten sich ums Haus.
Zwei Wanderer gingen am Haus vorbei die Straße runter.
Home, sweet (grey and cold) home | Die Gedanken sind schon bei der Abreise. Ich plane die ersten Tage zuhause, den Kochstammtisch, Einkaufslisten, Verabredungen.
Entdeckung gemacht | Als ich gestern den Ofen anfeuerte, dachte ich: Der riecht wie mein gomerischer Käse. Erkannt: Ich verbrenne Baumheide. Recherchiert: Der gomerische Käse wird mit Baumheide geräuchert.
Gelesen | Der Tagesspiegel schaut aufs Dortmunder Konzerthaus: Moll und Dur an der Ruhr. Dortnund sei der „hidden champion unter den bundesrepublikanischen Klassik-Institutionen“.
Sicher, Dortmunds Innenstadt wurde im Zweiten Weltkrieg zu 98 Prozent zerstört, doch was dann entstand, sieht aus, als hätten sich die schlechtesten Architekten der Republik zusammengetan, um den Prototyp der gesichtslosen modernen Großstadt zu schaffen.
Das Dortmunder Konzerthaus wurde in die schlechte Gegend der Innenstadt gebaut, auf die Brückstraße, zwischen Imbissläden und türkischen Klamottenglitzer. Es gibt eine Reihe, die „Die jungen Wilden“ heißt, und es gibt Blackbox-Konzerte, bei denen die Leute erst, wenn sie da sind, erfahren, was gespielt wird. Die Akustik ist großartig. Und es ist super, wenn die schnieken Konzerthausbesucher vor der Veranstaltung durchs Problemviertel ziehen – oder sich danach einen Döner holen. Schön, dass da jemand hingeschaut hat.
Playa de Arguamul | Eigentlich wollte ich heute nur einen kleine Runde runde drehen, einmal den Nachbarort auschecken und wieder zurück. Ich hatte noch schwere Beine von der Roque-Blanco-Tour. Doch es trieb mich eine ganze Strecke bis hinab zum Strand.
Der Nachbarort von Tazo ist Arguamul, der nördlichste Ort La Gomeras. Vor Jahrzehnten war es eines der landwirtschaftlichen Zentren der Insel, grüne Hänge, Terrassenfelder, Weinreben, Fischfang. Heute ist es das ursprünglichste Nest der Insel, weitab von allem, erreichbar über eine gewundene Straße.
Arguamul liegt hinter den Cumbres de Chijeré und dem Gebirge Bejira und ist einer der am stärksten isolierten Orte der Insel. Einige Häuser sind nicht mehr durchgängig bewohnt. Sie dienen als Wochenend- oder Ferienhäuser der Familien, die hier früher lebten. Andere Bewohner betreiben zwar noch Landwirtschaft, aber hauptsächlich für den Eigenbedarf.
Unterhalb von Arguamul liegt ein wilder und oft windumtoster Steinstrand.
Um dort hinzukommen, bin ich von Arguamul erstmal ins Unterdorf nach Guillama gegangen. Der Weg führt über einen Camino.
Man sieht, dass der Camino keiner der bekannten Wanderwege ist, obwohl er markiert ist. Der Weg ist hier und da überwuchert – aber nur mit Gras und freundlichen Pflanzen, nichts mit Dornen.
In Guillama muss man den Hof von Pablo überqueren. Das ist hier oft so: Man geht zwischen den Häusern hindurch, über die Höfe und Terrassen.
Hinter dem Hof zeigt ein Schild in Richtung Strand.
Am Rand des Plateaus geht ein steiniger Weg nach unten, immer in Spitzkehren bis in einen Barracanco, der zum Strand führt.
Der Playa de Arguamul ist einen halben Kilometer lang und zum Schwimmen nicht geeignet – wie die meisten Strände auf La Gomera. Überall dicke Steine, außerdem gibt es heftige Unterströmungen.
Über dem Strand finden sich auch in hoher Höhe noch Muschel- und Schneckenschalen, auch noch in Höhe von Guillama, mehrere hundert Höhenmeter über dem Wasser. Die Schnecken sind klein, manchmal winzig, manchmal auch größer, und sehr filigran.
Ich nahm einige mit, ebenso Muschelschalen. Sie sind sehr hübsch.
Unten am Strand gibt es einen kleinen Steinbau, davor eine Feuerstelle. Davor liegt eine Pfeife. Neben der Tür eine stehengebliebene Uhr.
Im Häuschen selbst ist nur Müll.
Ich lasse alles, wie es ist, bleibe eine Weile am Strand, dann gehe ich auf demselben Weg wieder zurück nach Arguamul. Der Aufstieg über den Pfad ist steil, aber erstaunlich einfach. A piece of cake, würde M sagen.
Der Buddha | In Arguamul steht ein Buddha an der Straße. Er steht da in einer Kurve unter Palmen.
Ein Anwohner, ein Zugezogener, der ein Haus in der Gegend gekauft hatte, verliebte sich in Asien in ihn und ließ ihn herbringen, per Schiff über Singapur nach La Gomera. Alles ging glatt, nur auf dem letzten Stück Weg kam der Lkw mit dem zwei Tonnen schweren Marmorbuddha nicht weiter, die Straße ist eng und nicht asphaltiert, der schwere Transport steckte fest.
Dann passierte das, was wir alle von unseren Paketdiensten kennen: Der Lieferant dachte sich, was soll der Mist, welcher Idiot bestellt einen beknackten, zweitausend Kilo schweren Buddha, ich habe die Schnauze voll – setzte den Koloss an Ort und Stelle ab, Lieferung bis Bordsteinkante, und dokumentierte das Teil als ausgeliefert.
Alle Versuche, ihn dort wegzuschaffen, schlugen fehl. Die Leute haben sogar überlegt, ihn zu zersägen und wieder zusammenzusetzen. Am Ende blieb er, wo er war. Da steht er nun, noch auf Palette.
Besucher, die vorbeikommen, legen dem Buddha oft Münzen in die Hand, das soll Glück bringen. Das Geld bekommt die örtliche Kirchengemeinde.
Ich ließ das Meer hinter mir und ging zurück nach Hause. Bis Tazo waren es dreieinhalb Kilometer.
Zuhause schaukelte ich den Tag aus.
Freestyle-Tour: Tazo – Guillama – Playa de Arguamul – Guillama – Arguamul – Tazo / 15 Kilometer / geschätzte 700 Höhenmeter / Gehzeit dreieinhalb bis vier Stunden
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