Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Ein Buch, das einen eigenen Beitrag verdient hat:

Der Trafikant

Als ich es in der Hand hielt, dachte ich als erstes: „Seethaler … Seethaler … den Namen kennt du doch …“ – und tatsächlich: Vor Jahr und Tag las ich „Die weiteren Aussichten„, ein mehr oder weniger fürchterliches Buch. Doch „Der Trafikant“ wurde mir mit warmen Worten anempfohlen, also bekam der Autor eine zweite Chance. Ich kann vorwegnehmen: zum Glück. Selten habe ich solch ein gelungenes, in sich stimmiges, sprachlich, geistig und emotional bereicherndes, mit einem Wort: wunderbares Buch gelesen.

Der Inhalt ist kurz erzählt: Franz Hucherl, ein Bub aus dem Salzkammergut, wird von seiner Mutter nach Wien geschickt, um beim Trafikanten Otto Trsnjek als Lehrling anzufangen. In Wien widmet er sich zunächst der Zeitungslektüre, auf Anraten eines gewissen Prof. Sigmund Freud begibt er sich dann auf die Suche nach einem Mädchen.

Und so schlüpfte er schon am nächsten Samstag, kurz bevor ihn die Trafik mit einem letzten, aufmunternden Geklingel ins Wochenende entließ, in seinen Sonntagsanzug, wusch sich sein Gesicht, den Hals und die Hände mit einem extra für diesen Anlass teuer erstandenen Stück Kernseife, schmierte sich einen Batzen Schweineschmalz in die Haare und zerrieb Blütenblätter einiger prächtiger Königsrosen unter seinen Achseln, die er auf einem nächtlichen Streifzug aus den um die Votivkirche akkurat angelegten Beeten gepflückt hatte. Alsdann trat er glänzend und duftend auf die Straße, wo das milde Herbstlicht das Pflaster wärmte, und bestieg die Straßenbahn in Richtung Wiener Prater, um dort sein Glück in Gestalt eines passenden Mädchens zu finden.

Er trifft die Tänzerin Anezka, eine pralle Böhmerin mit Zahnlücke, und verliebt sich sofort. Zudem geschehen seltsame Dinge: Trafikant Trsnjek ist nicht mehr wohl gelitten, weil er an Juden verkauft, und auch Prof. Freud muss sich vorsehen.

Das Buch ist ein Genuss, die Worte perlen aus den Seiten, malen Stimmungen und Charaktere.  Die Geschichte selbst ist nicht sentimental, erhebt keinen Zeigefinger, bleibt stets gelassen und lässt Lücken dort, wo die Fantasie des Lesers eindrücklicher ist als Erzählen.

Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass „Der Trafikant“ zu den zehn besten Büchern gehört, die ich bislang gelesen habe.

Im Kollegenkreis sind wir uns einig:

Es gibt Nahrungsmittel, die schmecken nur im Ur-Zustand, nicht aber in verarbeiteter Form. Bananen zum Beispiel sind als Frucht okay, als Bananenjoghurt, Schokobananen oder Kuchen wirklich widerlich.  Bei Tomaten sind wir uneins: Zwei Damen mögen auch außerhalb des Flugzeugs Tomatensaft, andere wiederum nicht, nie, nirgendwo – und überhaupt, Tomaten sollten nur als Salat oder auf dem Brot gegessen werden, maximal noch als Soße zu Spaghetti. Von Möhren gar nicht zu reden: Möhrengemüse oder -suppe? Lieber nicht, oder doch – in unserem Großraumbüro haben sich Möhrenfronten gebildet.

Und bei Ihnen? Welche Dinge mögen Sie nur roh? Oder nur verarbeitet?

Gestern hatte ich mein erstes Mal.

Kletterhalle

Nach Vorbild von Frau Isabel habe ich einfach mal eine Sache gemacht: Ich war klettern.

Zuvor hatte ich zahlreiche Videos und Foren konsultiert, um die wichtigste Frage zu klären: Was ziehe ich an? Im Nachhinein hätte ich mich besser mit der Technik des Kletterns vertraut gemacht, denn meine ersten Versuche an der Wand nahmen sich ausgesprochen bescheiden aus. Ich hing auf den Pömpeln wie ein Sack Kartoffeln und brauchte unglaublich viel Kraft, um nicht mal den Hauch von Verve und Eleganz herzustellen, wusste schon nach der Hälfte nicht mehr weiter, nirgendwo war mehr etwas, auf das ich hätte steigen können, oder doch, da vorne, aber wie konnte ich dort hinkommen? „Nimm das linke Bein! Das linke!“, rief Tobi von unten, aber wie sollte das gehen, auf dem linken stand ich doch mit meinem ganzen Gewicht, es ist zugegebenermaßen ein recht hohes Gewicht,  das erwies sich nun eindeutig als Nachteil, das musste ich jetzt senkrecht hochwuchten. Mit krampfenden Händen ließ ich mich in den Gurt plumpsen. Erschütternd, das alles, erniedrigend, deprimierend, und das, ich wage es kaum zu sagen, an einer Wand mit dem Schwierigkeitsgrad drei, die ungefähr, verglichen mit Fahrradfahrenlernen, die Zahl sagt es schon, das Dreirad des Kletterns darstellt. Etwas Einfacheres gab es in dieser Halle nicht, alles andere wäre spazierengehen gewesen.

Ich erholte mich etwas, schüttelte meine Hände aus, die sich anfühlten, als hätte ich Zementsäcke an ihren Sackzipfeln gepackt und in den fünften Stock getragen. Das kann es ja wohl nicht sein, sagte ich mir, so möchtest du nicht enden, nicht als Klops an einer Dreirad-Wand.

Ich ließ  meine erste Wand links liegen und nahm eine andere; wenn der eine Weg nicht klappt, muss man sich halt einen anderen suchen, Hauptsache es geht in die Höhe. „Das ist wie ’ne Leiter hier, das ist ganz einfach“, sagte Tobi, der schon seit Jahren klettert, und ich dachte: „Na super, wenn du das jetzt nicht schaffst, bist du wirklich der Ober-Looser.“ Tatsächlich war es hier deutlich einfacher, die Wand leicht angeschrägt, ich fühlte mich nicht mehr wie ein Kartoffelsack, sondern nur noch wie eine Melone, und als ich oben ankam und hinuntersah, um mich bei Tobi zu versichern, dass das Seil zu ist und ich mich hineinfallen lassen kann, war Tobi plötzlich sehr klein und der Boden sehr weit weg. Eine Welle von Glückshormonen durchrauschte mich und schwappte von innen gegen meinen Kopf.

Nach vier verschiedenen Wänden ging es am Ende ganz leicht, sogar mit viel weniger Kraft als am Anfang, und als ich nach getaner Arbeit dasaß und mir meine Kletterschuhzehen massierte, fühlte ich mich am ganzen Körper toll.

Mit Empfehlungen.

Bücher im September

Urs Augstburger. Als der Regen kam.
Als Mauro seine Mutter wiedersieht, erkennt sie ihn nicht wieder: Sie hat Alzheimer, lebt in einer eigenen Welt. Bei einem Fest tanzt sie mit ihrem unsichtbaren Geliebten. Mauro beginnt, den Mann zu suchen. Die Geschichte wird in Zeitsprüngen aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Es ist zunächst nicht einfach zu folgen, was etwas nervt. Ab der Hälfte wird’s aber besser und das Buch noch gut.

André Kubiczek. Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn.
Kubiczek ist Sohn einer laotischen Mutter, sein Vater ist Deutscher, er wuchs in der DDR auf. In dem Buch erzählt er seine Geschichte und die seiner Familie – mit Detailtreue, Freude am Schreiben und Sinn für Atmosphäre. Der Plot fließt dahin, nimmt mal Tempo auf, wird wieder langsamer – am Ende kann man gar nicht genau sagen, was eigentlich auf den letzten vierhundert Seiten stand außer: Es war gut.

Daniel Mezger. Land spielen.
Eine junge Familie – Mann, Frau, drei Kinder – zieht aufs Land um des Landlebens willen, um rauszukommen und neu anzufangen. Die Idylle erweist sich jedoch als Illusion; am Ende bleibt die Feststellung: Egal, wohin man flieht, man nimmt sich immer selbst mit. Ungewöhnlich am Buch ist die Position des Erzählers: Er nimmt die Wir-Perspektive ein und gibt damit der fadenscheinigen Harmonie ein sprachliches Gesicht. Gelungen.

Christoph Peters. Sven Hofstedt sucht Geld für Erleuchtung.
Ich muss vorweg schicken: Ich bin kein Fan von Kurzgeschichten. Trotzdem habe ich dieses Buch gelesen. Allerdings nicht komplett zu Ende. Denn: siehe oben. Die Geschichten an sich beginnen immer vielversprechend. Die Art des Erzählens gefällt mir auch; sie ist atmosphärisch dicht, alles gut. Aber es fehlt die Pointe. Immer. Deshalb habe ich das Buch irgendwann weggelegt.

Ferdinand von Schirach. Der Fall Collini.
Der Werkzeugmacher Fabrizio Collini geht in ein Luxushotel und tötet den Industriellen Hans Meyer. Dann stellt er sich der Polizei, ohne sein Motiv zu nennen. Anwalt Caspar Leinen übernimmt den Fall – und macht sie daran, das Rätsel darüber, was die Collini und Meyer verbindet, zu lösen. Die Anwaltsstory erinnert mich stark an die Carofiglio-Bücher; mir hat sie ausnehmend gut gefallen. Ich habe das Buch innerhalb eines Tages durchgelesen.

Der Oktober bricht an, es ist die Zeit, in der Mütter Wunschzettel abfragen.

Das war nicht immer so, nicht schon im Oktober. Als ich lütt war, fragte mich meine Mutter stets um Nikolaus herum, was ich mir wünschte. Der Zeitpunkt leuchtete mir ein, denn Nikolaus ist der Kumpel vom Christkind, logisch, dass es von einem zum anderen nicht lange dauert und man zügigst ein paar Dinge aufmalen sollte. Als Teenager musste ich meinen Wunschzettel dann um Sankt Martin herum verfassen, obwohl Sankt Martin nichts mit Weihnachten zu tun hat, außer, dass er auf einem Pferd reitet und bei Nikolaus und Christkind irgendwie Rentiere im Spiel sind.

Inzwischen hält meine Mutter mich Ende September dazu an, einen Wunschzettel zu verfassen –  auch dieses Jahr fragte sie bereits, was ich mir denn „vom Christkind wünsche“ und zwinkerte dabei geheimnisvoll, das ist einer Mutter wohl nicht auszutreiben. Die allgemeinen Formalitäten für Wunschzettel sind inzwischen überdies strenger geworden: Eine Einreichung muss zwingend schriftlich, mit Briefmarke und per gelber Post erfolgen; belangloses Dahergesage von Wünschen wird weder behalten und notiert noch berücksichtigt.

„Apple TV“, antwortete ich vor Wochenfrist trotzdem.
Mutter zog ihre Brauen zur Nasenwurzel und schürzte die Lippen zu einem Schmollmund des Missfallens. „Was soll das sein?“, fragte sie. Ihre Mimik war die gleiche wie damals, als ich mir ein ferngesteuertes Auto wünschte.
„Ein Gerät, damit ich das Internet auf meinem Fernseher abspielen kann“, sagte ich und ergänzte, um es ihr schmackhafter zu machen: „Damit wir demnächst viel einfacher Urlaubsbilder angucken können.“
Doch ihre Stirn blieb gerunzelt, ihr Unterkiefer malmte leise. „Möchtest du nichts für den Haushalt? Eine gute Rührschüssel kann man immer gebrauchen.“

Jetzt von mir auch Lieblingstweets:

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Sie haben ein kleines Reihenhaus. Vor der Tür steht eine Bank.

Auf dieser Bank sitzen sie gerne im Sommer, nach Feierabend, bei einem Gläschen Wein und grüßen die Nachbarn. Manchmal schauen sie nur, wer kommt und geht. Manchmal hält einer der Vorbeigehenden für einen Schwatz an.

Als sie eines Abends nach Hause kommen, ist die Bank fort. Sie wundern sich ein bisschen, machen sich aber keine großen Sorgen. Denn sie verstehen sich gut mit den Nachbarn, und vielleicht hat sich jemand die Bank ausgeliehen. Vielleicht kamen irgendwo mehr Gäste als geplant und man brauchte beim Grillfest ein zusätzliches Sitzmöbel. Das kann vorkommen, sie kennen sich ja alle gut in der Nachbarschaft. Deshalb ist das kein Problem.

Einen Tag später ist die Bank wieder da. Es liegt ein Umschlag darauf, darin eine Karte mit den Worten: „Tut uns leid für die spontane Leih-Aktion! Es war wirklich dringend. Wir hoffen, die Tickets machen es wieder gut!“ Anbei zwei Eintrittskarten für ein Spiel von Borussia Dortmund. Die beiden freuen sich riesig. Er ist großer BVB-Fan, hat einen Aufkleber am Auto und eine Flagge im Garten.

Am betreffenden Tag fahren sie ins Stadion. Es ist ein gelungenes Spiel, der BVB gewinnt. Die beiden sind glücklich.

Als sie nach Hause kommen, ist ihr Haus aufgebrochen und leer geräumt.

Ich glaube, ich bin jetzt das Mannschaftsmaskottchen.

Der Trainer hat es nicht so direkt gesagt. Er nickt mir immer nur andächtig zu, es ist ein Du-weißt-schon-Nicken, ein wohlwollend-mildtätiges Kopfneigen, das man auch Seniorenheimbewohnern zuteil werden lässt, die 1920 im olympischen Tauziehen eine Bronzemedaille geholt haben.

Ich denke, ich bin das Mannschaftsmaskottchen, denn ich bin flauschig und gut für die Moral. Ich darf die Ansprache vor dem Spiel halten, wenn wir einen Kreis bilden und gebeugt beisammen stehen. Ich begrüße den Schiedsrichter und die gegnerische Mannschaft, mache die Seitenwahl und sage unser Sprüchlein auf.

Ich kann nicht mehr so viel trainieren wie die Studentinnen; drei- bis fünfmal pro Woche, das ist nicht machbar. Ich muss einen Beruf ausüben und brauche Regeneration: heute acht Kilometer laufen und morgen Schnellkrafttraining in der Halle, das ist wie Schweinebraten zur Vorspeise und als Hauptgang überbackene Gyros-Pizza – irgendwann geht einfach nichts mehr.

Nach der Begrüßung setze ich mich erstmal auf die Bank. Ich werde die meiste Zeit nur in der Abwehr eingesetzt. Ich bin langsam geworden, kann nicht rennen wie die jungen Spielerinnen, die wir Älteren „Quietschies“ nennen und die wie Carrerabahn-Autos den Seitenstreifen auf und ab flitzen. Ich stehe stattdessen im Mittelblock, haue ein paar Gegnerinnen weg und halte meine Mitspielerinnen an, es mir nachzutun. Die Jungen sind manchmal zu zaghaft, lassen sich einschüchtern. Sie rennen auch zu früh raus, spekulieren, wollen den Ball erhaschen, wollen immer laufen. So entstehen Lücken – eine Überzahl, die nicht mehr zu stopfen ist. Ich sorge dafür, dass sie an meiner Seite bleiben, dass wir zusammenhalten.

Die meiste Zeit aber ist mein Job, einfach nur da zu sein und gute Stimmung zu verbreiten. Das ist meine Lieblingsaufgabe.

Das Leben als Alterspräsidentin ist ganz schön gut.

Fieberhaft erwartet, jetzt hier: der Hochzeitsbericht mit Deutschlandachter.

Ruderblätter vor der Kirche

Wir sitzen in der Kirchenbank, als die Rudermannschaft die Kapelle betritt. Katrins Mund steht offen, Jessica fallen die Augen aus den Höhlen, Pia und Sonja schauen sich an. Wir haben nicht zu viel erwartet, nein, wir haben zu wenig erwartet, unsere Vorstellungen reichten für dieses Bild nicht aus. Sie tragen allesamt Anzug, große Anzüge, sehr stattliche Anzüge, sind einsfünfundneunzig und größer, sehr groß. Der Einmarsch der Gladiatoren.

Nach der Trauung, wir warten vor der Kirche, sage ich zu Jessica: „Der da vorne.“ Ich zeige ihr mit meinem Blick einen Ruderer mit blauer Krawatte, Wuschelhaar und Dreitagebart. Pia, die neben uns steht, sagt: „Der sieht aus wie dieser Typ aus ‚Hangover‘.“ – „Bradley Cooper!“

Bradley steht in einer Reihe mit den anderen Jungs und hält sein Ruderblatt in die Höhe. Zu Zehnt bilden sie eine Allee für das Brautpaar, zehn stramme Recken. Wir wischen uns mit dem Handrücken verstohlen Speichel aus dem Mundwinkel. Jessica starrt wie ein Reh im Scheinwerferlicht.

Im Festsaal sitzen wir am Tisch links vom Brautpaar. Die Ruderer sitzen rechts. Die gesamte Verwandtschaft trennt uns, drei mit Plastikefeu geschmückte Säulen versperren uns den Blick. Das Brautpaar wird sich etwas dabei gedacht haben, wollte sich und uns möglicherweise Peinlichkeiten ersparen; wie werden das trotzdem anprangern.

Der Trainer spielt ungeduldig mit seiner Serviette, er hat Hunger und ist verstört angesichts unseres Enthusiasmus. Gereizt moppert er: „Die Jungs sind alle zwei Meter groß – sind die zu doof zum Basketball, oder was? Die fahren rückwärts, und ein Zwerg sagt ihnen Bescheid, wenn sie im Ziel sind. Da steht ihr doch nicht etwa drauf, oder?“ Wir bleiben unbeeindruckt.

Nach dem Essen zeigen Freunde der Braut Jugendbilder des Hochzeitspaares: die Braut beim Handball, der Bräutigam beim Rudern, beim Jubeln im Deutschlanddress und zu guter Letzt mit den Jungs bei einem Klimmzugwettbewerb, mit nackten Oberkörpern. Wir verlangen an der Theke nach Eiswürfeln.

Gegen 22 Uhr starten wir die „Mission Bradley“. Wir erfahren von der Braut, dass Bradley Stefan heißt und Arzt ist. „Arzt!“, entfährt es unseren Mündern, begleitet von einem schrillen Schrei.

„Wie in einem schlechten Film.“
„Nicht nur schön, auch schlau.“
„McDreamy.“

Sonja sagt nur stumpf: „Ich bin raus“, denn ihr Ex-Freund ist Arzt – seitdem stehen Ärzte auf bei ihr auf der schwarzen Liste, nur Veterinärmediziner haben noch den Hauch einer Chance.

In diesem Moment taucht aus dem Nichts eine brünette Schönheit in einem türkisfarbenen Kleid auf, hakt sich bei Bradley ein, stellt sich auf die Zehenspitzen und küsst ihn auf die bärtige Wange. Jessicas Augen verengen sich zu Schlitzen, Sonjas Lächeln fällt aus ihrem Gesicht wie eine Wassermelone und zerschellt auf dem Tanzboden des Festlokals.

Wir sind konsterniert, trösten uns mit einer Runde Caipis, werden jedoch bald wieder hoffnungsfroh, als sich die Gesellschaft mehr und mehr an der Bar versammelt. Wir mischen uns unter das Ruderervolk; ich fühle mich wie eine Elfe im Eichenwald: Die Zahl der Männer, die kleiner sind als ich, bewegt sich bei weniger als zehn. Ich möchte mich gerne überall anlehnen und meinen Kopf an die Schultern und Brustmuskeln der umstehenden Männer betten, aber ich wahre die Contenance und sauge Rohrzucker durch meinen Strohhalm.

„Warum haben große Männer eigentlich immer kleine Frauen? Das ist doch Verschwendung“, jammert Sonja neben mir.

Der Abend endet verschwitzt, müde und friedvoll angetrunken, aber ohne die Idee von Verliebtheit. Doch irgendwas muss uns beseelt haben, denn trotz Schlafmangels spielen wir am nächsten Tag wie die Göttinnen und gewinnen unser Spiel mit bislang selten zutage getretener Eleganz.



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