Aus der Halle geht ein Aufzug zur Station.
Wir steigen ein: eine Frau mit Pflaster auf dem Auge, ein Mann mit Pflaster am Hals, ein weiterer ohne alles, aber mit einer flauschigen, grauen Jogginghose, die wie das Maul eines Mantarochens einen sehr dicken Bauch umspannt – und ich. Ich drücke die Vier, die beiden Pflaster die Fünf, der Flauschjogger nichts. Die Türen gehen zu. Er drückt die Eins.
Erster Stock. Die Aufzugtür öffnet sich mit einem metallischen Reiben.
„Ist das die Eins?“, fragt Flauschjogger.
„Ja“, sage ich.
„Dann muss ich hier nicht hin.“
Tür zu.
Er drückt die Zwei. Ruckelruckel. Tür auf.
„Ist das die Zwei?“
„Das ist die Zwei.“
„Hier muss ich auch nicht hin.“
Tür zu.
Er drückt die Drei. Fahrt. Tür auf.
„Drei?“
„Ja-ha!“, sage ich.
Die beiden Pflaster sagen nichts. Mit leerem Blick starren sie an die gegenüberliegende Aufzugwand.
„Hier muss ich nicht hin.“
„Wo müssen Sie denn hin?“
Tür zu.
„Muss ich gucken.“ Er will die Vier drücken. Doch sie leuchtet bereits.
„Is‘ ja schon“, sagt er.
„Is‘ schon“, sage ich.
Tür auf. Flauschjogger guckt. Und guckt. Macht einen Schritt vor. Guckt.
„Hier isses“, sagt er. Er steht jetzt in der Lichtschranke.
Die Pflaster starren weiterhin, sind völlig sediert.
„Dann steigen Sie doch aus“, sage ich ermunternd.
„Weiß nicht.“
„Ich muss hier aber aussteigen“, sage ich, denn er verstopft die Tür.
Pflaster Eins atmet vernehmlich ein und aus.
„Hier muss ich hin“, sagt Flauschjogger. Er ist noch nicht alt, vielleicht Mitte vierzig, sein T-Shirt ist trockentuchartig rot-weiß-kariert, seine Unterlippe dicker als die Oberlippe. Wir fahren jetzt seit fünf Minuten Aufzug, neben mir stehen zwei untote Bepflasterte, vor mir bildet eine unschlüssige Nicki-Hose in 4XL einen Propfen in der Fahrstuhltür. Ein Mann in einem Rollstuhl schiebt sich in Zeitlupe über das Foyer von Station Vier, indem er seine Füße voreinander setzt wie Dreispringer Jonathan Edwards in Super Slow Motion. Trübes Sonnenlicht bricht sich Bann durch eine ungeputzte Panorama-Scheibe, vor der aneinander montierte Stühle stehen.
„Was ist nun?“, frage ich. „Rein oder raus?“
Der Dreispringer ist vor einem Cola-Automaten angelangt. Flauschjogger geht einen Schritt vor, aber nicht so weit, dass ich an ihm vorbeikomme. Er bleibt erneut stehen, blickt links, blickt rechts, sagt: „Nä, hier is‘ dat nich'“, dreht sich wieder um, doch er ist nun aus der Lichtschrank heraus, in diesem Moment schließt sich die Fahrstuhltür. Ich versuche noch, ein Bein in die Tür zu werfen, habe beide Hände voll, aber ich krieg’s nicht hin, treffe nicht richtig oder wie auch immer, jedenfalls geht die Tür zu.
„Weg isser“, sagt das Halspflaster.
Die Frau mit dem Augenpflaster lacht mit geschlossenem Mund, lautlos, nur ihre Schultern hüpfen auf und ab. Ihr verbleibendes Auge ist weit aufgerissen. Sie ist ein Zyklop.
Die Tür geht auf. Fünfter Stock, wir steigen aus. Als ich die Treppe hinunterkomme, ist Flauschjogger weg. Jonathan Edwards sitzt vor dem Cola-Automaten und wirft Geld in den Schlitz. Eine Wolke hat die Sonne verdunkelt. Lineoleumboden schimmert im Zwielicht.
„Wo ist er?“, frage ich.
„Wer?“, fragt Jonathan.
„Der Mann, der eben hier ausgestiegen ist.“
„Hier ist keiner ausgestiegen.“
Bong Klong – eine Colaflasche fällt aus dem Automaten.
Krankenhaus, Station vier. Es ist 14.03 Uhr an einem Donnerstagnachmittag.
Kommentare
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Ist ja schon perfekter Krankenhausjargon: „Die Pflaster fahren Fahrstuhl“. Sonst muss ja immer die Galle gekremt, die Niere gewickelt, der Dickdarm entleert werden oder so ähnlich.
Ich habe das als ehemalige Physiotherapeutin oft genug im Stationszimmer gehört.
Sind wir nicht alle auch „die Sinusitis“, „die Appendizitis auf Zimmer zehn“ und „die Ruptur in der Drei“? Und nicht zuletzt „die Currywurst, denn die Pommes „ist die Dame vor mir“.
Eine Sinusitis plagt mich gerade außerhalb des stationären Bereichs, die Appendizitis habe ich mit 13 abgehandelt, kurz vor der Ruptur konnte ich gerettet werden.
Jetzt bin ich die Kaffeetasse :-)
Dieses Ultratalent zur erzählenden Schilderung, das Sie haben, macht mich sprachlos. Ich werde mal überlegen, wie viele Autoren der letzten 200 Jahre mir einfallen, die diese Kunst beherrschen, ohne zu langweilen. Mir werden nicht viele einfallen. Und dann natürlich Sie. Wow.
Danke.
Jetzt gilt nur noch zu Klären was wollen Sie auf der Station 4 ? Nach Ihren Schilderungen muss es sich um eine pyschiatrische Station handeln……
Psychiatrische Stationen haben ein größeres humoristisches Element. Glauben Sie mir.
Nää, das ist Orthopädie oder Geriatrie. Die Unterschiede liegen in der Geschwindigkeit der Dreispringer… ;)
Liebe Frau Nessy,
wie immer verneige ich mich tief vor Ihrer unglaublichen Kunst, eine Situation so lebendig und treffend zu schildern. Vielen, vielen Dank dafür!
Sollten Sie mal in München weilen werden Sie mit Waffeln versorgt, bis nix mehr reingeht!
Viele Grüße,
der Ponder
Oooaaaaaar, Waffeln!! Leider, leider schaffe ich immer nicht mehr als zwei. Aber wenn wir dann ein wenig quatschen, etwas ruhen, vielleicht ein Schnäpschen trinken – dann passt danach bestimmt noch eine dritte rein.
Weil das hier ja ein Serviceblog ist mal noch eine nur leicht themenverwandte Information: hier startet offenbar gerade eine Serie mit Waffelrezepten. Das Versprechen waere: jeden Montag ein neues.
So schön. Danke.
Sehr schön geschrieben wenn auch aus einem nicht so schönen Grund. Daumen werden weiter gedrückt gehalten. Nur Tippen, hab ich festgestellt, wird dadurch enorm erschwert… Ach nein… Essen schneiden auch. Die Gemeinde erwartet dann irgendwann das „go“ zum wieder los lassen. Nicht vergessen bitte. Ich bekomm am Sonntag Gäste und soll kochen.
Sie können Ihre Daumen wieder benutzen. Aber vielleicht könnten Sie zwischendurch immer nochmal … man weiß ja nie.
Ah vielen Dank. Dann funktionierts morgen sicher auch wieder besser im Bad :-) Mein Schatten sieht heute nämlich besser aus als mein Spiegelbild.
Sagen Sie mal, wohnen Sie in Stenkelfeld?
Das Ruhrgebiet ist oft nicht viel anders. Wir sind hier ja nicht so weltgewandt, auch wenn wir manchmal so tun.
Klasse!
Einfach sensationell. Bin völlig hin und weg. Bong klong! (Prognose: Dieser Text wird Sie noch lange verfolgen.)
So ein feiner Text! Unglaublich. Es macht sooooo einen Spaß bei dir zu lesen, liebe Nessy!
//*verneigt sich freudig
Ich als Retter drücke ja immer Daumen :) Und ich muss danke sagen, dass es sie gibt!!
Inzwischen geht’s wieder gut – den Umständen entsprechend. Die Genesung ist dennoch erstaunlich. Vor drei Tagen noch kurz vorm Sterben, dank schneller Versorgung (es lebe die Großstadt!) nun fast quietschfidel.
Das freut mich sehr!!
Neurochirurgie. Die wildesten Erlebnisse waren auf der Neuro. Inklusive Scheich und Teppich. Und rosa Haaren mit 10xTumor und dem unflätigsten Wortschatz ever.
Ich finde, alle Stationen haben etwas für sich – nur Orthopädie nicht. Diese handwerklich bearbeiteten Menschen, uuargh, das tut mir alles schon vom Zusehen weh.
Meine letzten Eindruecke aus Krankenhaeusern waren eher immer so, wie Ihr Linoleum. Stumm, ein wenig isoliert und immer deutlich auf Gebrauch ausgelegt. Und die Leute eher immer den Eindruck hinterlassend, dass man froh ist sobald man raus darf (sind allerdings ja auch die meisten). Vielleicht lernt man ja auch dem etwas abzugewinnen, wenn man drueber schreibt.
Danke fuer den athmosphaerischen Text.
Klasse. Wenn Sie erzählen, ist man mitten drin statt nur dabei!
[…] die liebe Nessy fährt im Krankenhaus Fahrstuhl und Elisabeth Rank vermisst jemanden und überhaupt sind Blogs super. Umso schlimmer, dass die […]
Alter Falter. Es freut mich sehr, dass es noch mehr von meiner Sorte gibt. Das ist sehr schön geschrieben und ich fühle mich irgendwie verstanden. Ich musste schmunzeln, das tue ich bei Texten echt recht selten. Ich kommentiere selten, dieser Kommentar musste aber wirklich mal sein. Hut ab, weiter so!
Dankeschön.
Mit ihrer Art zu erzählen, reißt man sich darum, Ihnen in Echtzeit mal beim Plaudern zuhören zu dürfen – Schlangestehen für ein gemeinsames Gläschen Bier/ Tee/ Kaffee, quasi!
Und die Gesundheit? Geht es Ihnen wieder gut? Die besten Genesungswünsche!
Danke der Nachfrage. Die Gesundheit ist fast wieder da – es ziept nur noch ein bisschen. Bin seit zweieinhalb Wochen ohne Schmerztabletten. Nur der Handball muss noch warten.
[…] Aufzug. Krankenhaus. | Draußen nur Kännchen Er drückt die Zwei. Ruckelruckel. Tür auf. “Ist das die Zwei?” “Das ist die Zwei.” “Hier muss ich auch nicht hin.” Tür zu. […]
Ich war mit den Aufzügen im Krankenhaus immer sehr zufrieden ;)