Alles wird gut
Noch zwei Jahre, hatten sie gesagt. Perfide präzise kommt der Tod nun. Schickt ein paar Metastasen vorbei, die ihr sagen: Die letzte Reise beginnt – bitte einsteigen, die nächste Fahrt geht vorwärts.
Es ist Juni. Seit drei Wochen ist sie im Hospiz. Oder seit vier? Ich sehe in den Kalender: Es sind erst zwei Wochen. Die Zeit verfliegt, und doch dehnt sie sich. Jede Stunde mit ihr ist Freude, Staunen, Wagnis und Traurigkeit in einem einzigen Moment. Und Furcht.
Sie isst jetzt am liebsten M&Ms. An manchen Tagen sind sie das einzige, was sie isst. Mit spitzen Fingern greift sie nach einer Nuss, legt sie sich in den Mund, zerbeißt sie. Dann nimmt sie ihre Schnabeltasse. Trinkt. Sie ist 57 Jahre alt. Jede Woche altert sie um ein Jahrzehnt.
Es wird Juli. Es ist heiß draußen.
Ich höre ihr zu, obwohl ich sie oft nicht verstehe. Der Krebs, er verwäscht ihre Sprache. Dabei möchte ich jedes ihrer Worte hören, es festhalten, in der Hand halten, keines verpassen, es verwahren, es streicheln und niemals loslassen. Doch ihre Sätze gleiten dahin, zaghaft, leise, ein Hauch – und sind fort.
Wovor fürchte ich mich? Ist es überhaupt Furcht, die ich empfinde? Oder ist es eher Fassungslosigkeit darüber, mit welcher Wucht der Tod kommt? Wie unbeirrt er sie aussaugt. Wie er Tag für Tag etwas von ihr mitnimmt – ihre Mimik, ihre Gestik, die Art und Weise, wie sie spricht, wie sie atmet.
Tage verstreichen. Und doch bleibt die Zeit vage. Ein Pfleger spritzt ihr Morphium in den Oberschenkel. Sie drückt meine Hand zu Mus.
Jeder Morgen, jeder Abend ein neues Befinden. Bei ihr. Bei uns. Natürlich wusste ich: Wenn die Metastasen da sind, auch wenn ich vorbereitet bin, wird es schlimm werden, werde ich hilflos sein. Aber ich bin nicht vorbereitet auf die Tiefe meiner Hilflosigkeit, auf die Schnelligkeit, mit der ein Mensch schwinden kann, auf die Leere und Stille in meinem Innern, die gleichzeitig so prall, so allumfassend, so voll und laut ist.
Ich weine nicht viel in dieser Zeit und wenn, dann nur kurz. Ein lautloses Seufzen, zwei Tränen vor dem Einschlafen, die es kaum die Wange hinab schaffen. Mein Inneres ist grau und stumpf.
Abends. Ich habe den tiefen Wunsch, dass die Zeit stillstehen möge. Möchte jede Minute mit ihr genießen – und habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich zu müde, zu fahrig bin; wenn ich fortlaufen möchte, wenn ich schreien möchte und nicht kann.
Liege ich im Bett, sehe ich Bilder von ihr. Als Blitzlichter tauchen sie vor meinem Auge auf. Wie sie auf dem Sofa sitzt. Wie sie in ihrer Küche steht. Wie sie spazieren geht. Ihre Bewegungen, der wiegende Gang. Wie sie ihre Hände hält. Wie sie ihre Enkel herzt. Ich höre sie sprechen – keine bestimmten Worte, nur den Tonfall. Ihr Lachen.
Ich sage mir: Du beginnst schon zu trauern, eh dass sie tot ist.
Der letzte Tag. Ich denke: Nein. Nein, nein, nein. Das kann nicht sein. Nicht so schnell. Wie kann man so schnell sterben, in nur 20 Minuten? Gestern war doch noch alles gut. Selbst heute Morgen war noch alles gut. So gut es eben sein kann. Aber doch, ja: gut.
Ich trete zu ihr und streichle ihren Arm. Ihre Haut ist weich, warm, wie immer. Aber ihr Gesicht ist verlassen. Sie ist fort.
Wir haben den ganzen Nachmittag mit ihr. Können sie streicheln. Können sie betrachten. Können verstehen. Zwischendurch sitzen wir im Garten. Die Menschen vom Hospiz, sie kommen dazu, herzen uns, plaudern – und scherzen. Sie arbeiten für die Lebenden.
Ich bin dankbar, jetzt, hier. Dass ich sie begleiten durfte.
Ich bin glücklich. Dass wir sie hatten.
Am Abend rufen wir den Bestatter.
„Möchtest du zusehen, wie er sie einpackt?“
„Ja“, sage ich.
Der nächste Tag. Abends kommen die Handballmädels. Ich habe überlegt, sie auszuladen, alle fortzuschicken, um alleine zu sein, um zu trauern. Aber das Leben fährt nur vorwärts, und es tut mir gut, die Mädels nah bei mir zu haben. Auch wenn ich weit weg von ihnen bin.
Anfang August. Als wir sie zu Grabe tragen, lassen wir Luftballons steigen, rote, in Herzform. Wer möchte, darf einen Zettel dranhängen und ihr eine Botschaft darauf schreiben. Mein Luftballon hat keinen Zettel. Es ist alles gesagt.
Die Sonne scheint. In den Bäumen rauscht der Wind. Ich lasse den Ballon los.
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Dies ist ein gekürzter Text. Den ungekürzten Text lesen Sie – gemeinsam mit Beiträgen vieler anderer AutorInnen – im E-Book „1000 Tode schreiben„. Das Buch ist in einer ersten Version heute im Frohmann Verlag erschienen. Es wird in den kommenden Tagen in allen eBook-Stores erhältlich sein.
Mein Autorenhonorar geht wie alle Honorare und der Herausgeberanteil als Spende an das Kindersterbehospiz „Sonnenhof“ in Berlin-Pankow.
Sehr dankbar für eine Spende ist auch „ihr“ Hospiz – das Hospiz „Mutter Teresa“ in Iserlohn-Letmathe (Konto-Nr. 180 56 994, Sparkasse Iserlohn, BLZ: 445 500 45).