Gelesen im Mai und Juni:
Joshua Ferris. Ins Freie.
(Deutsch von Marcus Ingendaay)
Tim Farnsworth muss laufen, er muss raus, er muss sich bewegen. Wenn er seine Laufanfälle bekommt, hält ihn nichts, dann muss er los, er kann sie nicht kontrollieren. Seine Frau Jane reibt ihn mit Vaseline ein, packt ihm einen Rucksack, zieht ihm Thermowäsche an, damit er nicht erfriert. Denn ist der Anfall vorbei, sackt Tim an Ort und Stelle zusammen und schläft, auch draußen, auch im Winter. Das Buch hat mich etwas ratlos zurückgelassen, was sowohl positiv als auch negativ ist. Ist das Laufen eine Metapher? Wenn ja, wofür? Es wird nicht klar, wovor Tim wegläuft, ob er überhaupt wegläuft oder ob er nur getrieben ist. Das Offene der Geschichte ist gleichzeitig ihr Vorteil: Es lässt dem Leser Raum für eigene Gedanken. Das hat mir gefallen.
Marc Fitten. Valeria letztes Gefecht.
(Deutsch von Claudia Wenner)
Valeria ist alt, wenig hübsch und fürchterlich grantig. Dann verliebt sie sich in den Töpfer des Ortes. Der Töpfer mag Valeria, aber er ist mit Ibolya zusammen, die die Dorfkneipe führt. Was eine nette Verwicklung und auch eine schön verschrobene Geschichte hätte werden können, hat Marc Fitten wie eine Parabel geschrieben: unpersönlich, leidenschaftslos. Gefiel mir nicht.
David E. Hilton. Wir sind die Könige von Colorado.
(Deutsch von Bettina Abarbanell)
Ich nehme es direkt vorweg: ein tolles Buch! Der 13-jährige Will hat einen trunksüchtigen Vater, der ihn und seine Mutter terrorisiert. Eines Tages nimmt Will ein Messer und verletzt ihn damit. Daraufhin kommt er in eine Besserungsanstalt: eine Pferdefarm in Colorado. Dort herrschen Willkür und Gewalt – durch die Aufseher und durch die Mitgefangenen, ebenfalls Teenager. Gleichzeitig entstehen tiefe Freundschaften. Die Geschichte wogt hin und her zwischen diesen zwei Polen, zwischen Gewalt und Zuneigung, sie ist intensiv, aber dennoch ruhig erzählt. Sehr gute Unterhaltung.
Michael Hjorth & Hans Rosenfeldt. Der Mann, der kein Mörder war.
(Deutsch von Ursel Allenstein)
Ebenfalls ein gutes Buch, ein spannender Krimi. Roger Eriksson war ein Teenager; Pfadfinder finden seine Leiche in einem Tümpel im Wald. Kommissar Höglund und sein Team nehmen die Ermittlungen auf – und greifen rasch auf den Psychologen Sebastian Bergmann zurück, einen fiesen Typen und ehemaligen Freund Höglunds, der vor dem Tod seiner Frau und seiner Tochter ein guter Profiler war. Liegt die Auflösung des Falls im Elitegymnasium, das Roger besuchte? Oder steckt anderes dahinter? Die Geschichte hat alles, was gute Unterhaltung braucht: interessante Protagonisten, einen spannenden Kriminalfall. Kann ich empfehlen.
Arne Jysch. Wave and Smile.
Meine erste Grahic Novel. Leider bin ich nur sehr mäßig begeistert: Es geht um den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan. Die Geschichte fängt gut an, endet aber in einem Helden- und Actionspektakel, das ich ausnehmend doof fand.
Herman Koch. Angerichtet.
(Deutsch von Heike Baryga)
Zwei Elternpaare gehen in ein Sternerestaurant. Sie sprechen zunächst über Belangloses. Eigentlich treffen sie sich, um über ihre Kinder zu reden – und um eine Entscheidung zu treffen. Der Leser erfährt lange nicht, was eigentlich los ist; man ahnt nur, dass die Kinder etwas auf dem Kerbholz haben. Der Roman ist gut konstruiert. Er gibt Einblick in die obere Mittelschicht. Es geht um das Festhalten an fragwürdigen Werten, um Rückgrat und um das Aufrechterhalten von Fassade. Mir hat er gut gefallen.
David Levithan. Das Wörterbuch der Liebenden.
(Deutsch von Andreas Steinhöfel)
26 Buchstaben. Zu jedem Buchstaben mehrere Wörter, anhand derer die Geschichte zweier Liebender erzählt wird. Es ist ein ganz kleines Buch, und es ist ein tolles Buch: Die Geschichte wird nicht von A bis Z chronologisch erzählt, weshalb man an jeglichem Buchstaben beginnen und enden kann. Auch ist offen, wer die Liebenden sind, wie sie heißen: Es gibt einen Ich-Erzähler (oder eine Ich-Erzählerin), der/die sein Gegenüber mit „du“ anspricht – es können Mann und Frau, Frau und Mann, aber auch Frau und Frau oder Mann und Mann sein. Das alles macht das Buch ziemlich super.
Ann-Marie MacDonald. Wohin die Krähen fliegen.
(Deutsch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann)
Kann es sein, dass ich im Mai und Juni nur gute Bücher gelesen habe? Nicht ganz, aber fast. „Wohin die Krähen fliegen“ gehört definitiv ebenfalls in die Kategorie „super“ – wenn auch mit einem Wehrmutstropfen. Erstmal: Worum geht’s? Es ist 1962, Madeleine und ihre Familie müssen wieder einmal umziehen. Ihr Dad arbeitet bei der kanadischen Air Force, Madeleine bekommt neue Nachbarn, neue Freunde, eine neue Schule. Die Geschichte fließt in den ersten 400 Seiten munter dahin, es passiert nicht viel, trotzdem habe ich den Anfang gerne gelesen. Als ich dann dachte: „Jetzt könnte mal was passieren“, passiert auch tatsächlich etwas – jemand wird ermordet. Man meint zu wissen, wer der Täter ist, weiß es aber nicht sicher. Die Geschichte fließt weiter; sie dreht sich um vieles mehr als um einen Mord: Es geht um den Mief der 60er, um Aufrüstung, um den Kalten Krieg, um Loyalität, um die Mondlandung. Die Geschichte erstreckt sich auf 1000 Seiten – ein wahres Epos, das ich sehr gerne gelesen habe. Allein die letzten 200 Seiten fand ich überflüssig, denn sie lösen auf, was besser offen geblieben wäre. Oder nicht? Entscheiden Sie am besten selbst.
Ross Raisin. Unter der Wasserlinie.
(Deutsch von Arnd Kösling)
Mick Little ist in seinen mittleren Jahren, als seine Frau stirbt. Früher war Mick Werftarbeiter, zuletzt fuhr er Taxi. Der Tod seiner Frau wirft ihn aus der Bahn: Er verwahrlost, geht nach London, arbeitet dort kurz, beginnt zu trinken, wird dann obdachlos. Ross Raison erzählt die Geschichte eines menschlichen Niedergangs, die Geschichte eines Kampfs um Würde und eines Kampfs zurück in die Normalität. Das Buch ist okay; es hat mich nicht tief berührt, war aber gut zu lesen.
Peter Stamm. Agnes.
Hach ja, Peter Stamm. Die Geschichte: Er schreibt Sachbücher, aktuell über Luxuseisenbahnwagen. Sie ist Studentin. Die beiden lernen sich in der Bibliothek kennen, werden erst Freunde, dann ein Liebespaar. Parallel zur Realität beginnt er, ihrer beider Geschichte aufzuschreiben; er schreibt sie rückblickend, aber auch voraus. Das Buch ist doppelbödig und von daher recht prima, die Protagonisten machen mich aber wahnsinnig: So schwammig, unentschlossen, rückgratlos wie Stamms Männer sind, möchte ich ihnen beim Lesen fortwährend eine reinhauen.
Thomas von Steinaecker. Wallner beginnt zu fliegen.
Stefan Wallner hat eine Frau (Deutsch-Rumänin), einen Sohn (pubertärer Teenager) und eine Firma für Landmaschinen. Im Betrieb läuft es mehr schlecht als recht, Wallner fühlt sich ausgebootet, wittert eine Verschwörung. Er verlässt die Firma. Sei Sohn Costin nimmt an einer Casting-Show teil, gewinnt und wird für kurze Zeit ein Superstar. Der erste Teil des Buches erzählt von Wallner, der zweite von Costin. Die Geschichte beginnt wirklich gut, wird aber schnell vorhersehbar. So richtig hat sich mich deshalb nicht gepackt.
Klaus-Peter Wolf. Ostfriesenkiller.
Zum Schluss dann doch ein, nun ja, schwer erträgliches Buch. Nicht wegen der Story – die Geschichte ist okay: In Aurich wird erst ein Mann ermordet, dann noch einer und noch einer. Alle haben für den gemeinnützigen Verein „Regenbogen“ gearbeitet, der sich für die Integration Behinderter einsetzt. Kommissarin Ann Kathrin Klaasen, frisch von ihrem Mann getrennt, übernimmt die Ermittlungen. Der Stil Klaus-Peters Wolfs gleicht Schlägen mit dem Holzhammer: simpel, stumpf, stupide und ohne Rücksicht auf den Leser; er lässt keinen Raum für eigene Gedanken und nervt irgendwann unglaublich.
Kommentare
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Liebe Frau Nessy,
vielen Dank für die immer wieder tollen Rezensionen! Heute habe ich auch mal zwei Tipps: Das Lavendelzimmer. Morgen kommt ein neuer Himmel.
Ich wünsche viel Spaß beim Lesen!
Danke für den Tipp! Das Buch ist auf meinem Wunschzettel. Das Cover sieht ein bisschen schnullig aus (manchmal ist es mir ein Rätsel, was sich die Verlage bei Covern denken) – aber ich habe reingelesen: Es beginnt gut.
Liebe Frau Nessy,
ich stelle mir bei der tollen Liste die Frage „Wann machen die das“, um einen Bogen zum Eintrag von neulich zu schlagen :) – ich würde gern dazu kommen, nur halb so viele Bücher zu lesen wie Sie, klappt aber nicht – Kind, Haushalt, Garten, Arbeiten, …
Viele Grüße,
der Ponder
Es sieht nach mehr Zeit aus, als sie tatsächlich in meinem Leben einnimmt. Ich fahre halt morgens eine halbe Stunde mit den Öffentlichen zur Arbeit – abends zurück. Das sind 60 Minuten. Mit ein bisschen Warten am Bahnsteig habe ich in dieser Zeit gut 60 Seiten weg. Dann lese ich oft auch in der Mittagspause, während ich etwas esse. So kommen durchschnittlich 100 Seiten zusammen, zumindest werktags. Das sind schonmal eineinhalb Bücher pro Woche.
Da hab ich eine Frage, nämlich was ist eine Grahic Novel?
Das ist so beiläufig erwähnt, als müsste man es wissen.
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Ich weiß nicht mehr, ob ich „Ostfriesenkiller“ oder ein anderes Buch von K-P Wolf gelesen habe, aber ich habe das Buch irgendwann grimmig zugeklappt und beschlossen, so einen Schund nicht weiterzulesen.
Und bis dahin kann sich der Autor einiges erlauben!
Was hat das Lektorat zum Frühstück bekommen, dass so etwas veröffentlicht wird?
Das ist die moderne Bezeichnung für Comics. Besser: Es umschreibt eher Comics für Erwachsene. Asterix und Obelix dürften nicht als Graphic Novel durchgehen – „Sin City“ hingegen nicht wirklich als Comic.
Oh ja, Frau Vorgarten, das habe ich mich auch gefragt. Ich habe mich tapfer durch 2,5 der „Ostfriesen…..“ Bücher gekämpft (weil Kollegin immer wieder sagte: „Oh das sind sooo tolle Bücher“). Und war dann in erster Linie auch WÜTEND, daß ein nicht unrennomierter Verlag einen solchen Schund veröffentlicht. „Technischen“ Schund, wohlgemerkt – denn Geschmack ist ja durchaus subjektiv. Wenn aber Bücher so dermaßen unlektoriert, inhaltlich schwachsinnig und sprachlich grindig sind, finde ich das Betrug (an uns Kunden).
Danke Ihnen und Frau Nessy, daß Sie mir meinen Glauben an meine Geschmacksnerven zurückgeben :-)
Danke Frau Nessy, ich freue mich immer über neue Lesetipps. Bin im Moment auch bei Der Mann, der kein Mörder war, gefällt mir gut. Wohin die Krähen fliegen habe ich auf meinem Wunschzettel notiert.
Gute Tipps gibt es nie genug und schon gar nicht fuer gute Buecher. Ich werde wohl auch das eine oder andere mit auf die „will ich auch noch“ Liste tun (auch wenn die sowieso nie droht leerzulaufen).
Wenn Sie mit einer guten Geschichte im Weltraum (kein SciFi!) etwas anfangen koennen, empfehle ich ‚The Martian‘ von Andy Weir. Keine Riesenerkenntnisse, aber schoen und spannend geschrieben (und im Gegensatz zu vielen anderen solchen Geschichten auch korrekt in den Fakten).