Pfingstspaziergang in der Heimat
Als ich Kind war, wohnten wir am Wald.
Rückblickend ist es erstaunlich, wie sorglos meine Eltern waren. Oder vielleicht waren sie gar nicht sorglos, vielleicht hat meine Mutter sich Nachmittag für Nachmittag vor Angst die Nägel abgekaut. Wie auch immer: Schon als ich fünf war, hatte ich einen Aktionsradius von locker ein, zwei Kilometern. Die Straße hinunter und hinein in den Wald, bis zum Bach beim Förster, manchmal auch weiter hinauf, dort, wo wir im Herbst Eicheln und Bucheckern sammelten, weiter den Weg hinauf, hinein ins dichte Geäst, in dem es unterm Tannengrün eine natürliche Grube lag, die wir mit Zweigen bedeckten, in der wir uns versteckten und von der aus wir mit gezogenen Ästen Feinde bestürmten.
Den Weg rechts entlang, am Abzweig vor der Grube, dann ein Stück geradeaus, dort wohnte Maria, die Schulfreundin. Noch ein Stück weiter hinunter ging es links wieder in den Wald, hinter der Schranke steil bergauf, die Knochenbrecherbahn hinauf. Als Erwachsener geht man die Strecke strammen Schrittes in zehn, fünfzehn Minuten. Als Kinder sind wir sie oft gerannt. Die einzige Abmachung: Abends um sechs seid ihr wieder zu Hause.
Fast jeden Sonntag ging ich mit meinen Eltern spazieren. Das war Pflichtprogramm. Im Winter mit Schlitten, im Sommer in kurzer Lederhose. Wir marschierten bis zur Knochenbrecherbahn und noch viel weiter, zum Hexenteich, einem Weiher im Wald, der seinen Namen aus einer Zeit hat, in dem man Leute in ihm ertränkte.
Im Winter konnten wir den Berg hinunter direkt aufs Eis fahren. Eine rasante Schussfahrt! Wenn die Schranke am Wegesende geschlossen war: Nicht vergessen! Kopf einziehen! Ich erinnere mich an Ingo, der einmal mit Karacho dagegen donnerte. Er wurde bewusstlos und bekam, als er wieder bei sich war, vor Schreck Nasenbluten. Wir kühlten die Beule an der Stirn mit Schnee, Gehirnerschütterung, Schleudertrauma. Wer mutig war, legte sich auf den Bauch, Kopf voran den Hügel hinab. Das Eis auf dem Teich: fünfzig, sechzig, siebzig Zentimeter dick. Mit genug Schwung glitten wir auf dem Schlitten bis zum anderen Ufer.
Dort, am anderen Ende: Schiefergestein. Im Sommer nahmen wir uns die flachsten Bruchstücke und ließen sie übers Wasser flitschen. Wir waren gut; dreimal, viermal, bis zu achtmal hüpften sie über die Oberfläche. Es konnte stundenlang so gehen.
Ich kenne jeden Weg in diesem Wald. Den zurück nach Hause, den in die Stadt, den zur Waldgaststätte, die heute verwaist ist, in der damals aber an jedem Sonntag der Damenzirkel mit meiner Oma an seinem Tisch unter der Kuckuksuhr saß, an dem die Großtante die Fliegen mit der Hand fing, und hinter dem ich mich abwechselnd zwischen die alten Damen kuschelte und unter dem hindurch ich nach draußen huschte, zu der kleinen Weide, um die Ziegen zu füttern.
Am Pfingstwochenende war ich nach zehn Jahren wieder dort. Ich war verwundert, wie klein der Weiher ist. Nur fünf Minuten, und man ist einmal drumherum gegangen. Damals aber war er ein Universum.