Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Archiv der Kategorie »Expeditionen«

Pfingstspaziergang in der Heimat

21. 05. 2013  •  35 Kommentare

Als ich Kind war, wohnten wir am Wald.

Rückblickend ist es erstaunlich, wie sorglos meine Eltern waren. Oder vielleicht waren sie gar nicht sorglos, vielleicht hat meine Mutter sich Nachmittag für Nachmittag vor Angst die Nägel abgekaut. Wie auch immer: Schon als ich fünf war, hatte ich einen Aktionsradius von locker ein, zwei Kilometern. Die Straße hinunter und hinein in den Wald, bis zum Bach beim Förster, manchmal auch weiter hinauf, dort, wo wir im Herbst Eicheln und Bucheckern sammelten, weiter den Weg hinauf, hinein ins dichte Geäst, in dem es unterm Tannengrün eine natürliche Grube lag, die wir mit Zweigen bedeckten, in der wir uns versteckten und von der aus wir mit gezogenen Ästen Feinde bestürmten.

Den Weg rechts entlang, am Abzweig vor der Grube, dann ein Stück geradeaus, dort wohnte Maria, die Schulfreundin. Noch ein Stück weiter hinunter ging es links wieder in den Wald, hinter der Schranke steil bergauf, die Knochenbrecherbahn hinauf. Als Erwachsener geht man die Strecke strammen Schrittes in zehn, fünfzehn Minuten. Als Kinder sind wir sie oft gerannt. Die einzige Abmachung: Abends um sechs seid ihr wieder zu Hause.

Fast jeden Sonntag ging ich mit meinen Eltern spazieren. Das war Pflichtprogramm. Im Winter mit Schlitten, im Sommer in kurzer Lederhose. Wir marschierten bis zur Knochenbrecherbahn und noch viel weiter, zum Hexenteich, einem Weiher im Wald, der seinen Namen aus einer Zeit hat, in dem man Leute in ihm ertränkte.

Menden - Hexenteich

Im Winter konnten wir den Berg hinunter direkt aufs Eis fahren. Eine rasante Schussfahrt! Wenn die Schranke am Wegesende geschlossen war: Nicht vergessen! Kopf einziehen! Ich erinnere mich an Ingo, der einmal mit Karacho dagegen donnerte. Er wurde bewusstlos und bekam, als er wieder bei sich war, vor Schreck Nasenbluten. Wir kühlten die Beule an der Stirn mit Schnee, Gehirnerschütterung, Schleudertrauma. Wer mutig war, legte sich auf den Bauch, Kopf voran den Hügel hinab. Das Eis auf dem Teich: fünfzig, sechzig, siebzig Zentimeter dick. Mit genug Schwung glitten wir auf dem Schlitten bis zum anderen Ufer.

Dort, am anderen Ende: Schiefergestein. Im Sommer nahmen wir uns die flachsten Bruchstücke und ließen sie übers Wasser flitschen. Wir waren gut; dreimal, viermal, bis zu achtmal hüpften sie über die Oberfläche. Es konnte stundenlang so gehen.

Menden - Spazierweg am Hexenteich

Ich kenne jeden Weg in diesem Wald. Den zurück nach Hause, den in die Stadt, den zur Waldgaststätte, die heute verwaist ist, in der damals aber an jedem Sonntag der Damenzirkel mit meiner Oma an seinem Tisch unter der Kuckuksuhr saß, an dem die Großtante die Fliegen mit der Hand fing, und hinter dem ich mich abwechselnd zwischen die alten Damen kuschelte und unter dem hindurch ich nach draußen huschte, zu der kleinen Weide, um die Ziegen zu füttern.

Menden - Bank am Hexenteich

Am Pfingstwochenende war ich nach zehn Jahren wieder dort. Ich war verwundert, wie klein der Weiher ist. Nur fünf Minuten, und man ist einmal drumherum gegangen. Damals aber war er ein Universum.

Nachtzug

17. 05. 2013  •  36 Kommentare

Zehn Minuten vor Abfahrt versammeln sie sich am Gleis:

ein alter Mann mit Schweizer Wappen auf einer Basecap, eine Gruppe amerikanischer Jugendlicher mit dicken Rucksäcken, ein älteres Pärchen, noch eine amerikanische Jugendgruppe und zwei Bier trinkende Polen mit voll beladenen Fahrrädern.

Ich habe mir einen Jutebeutel mit Waschzeug gepackt und liege damit im Trend. Alle älteren Herrschaften haben einen bei sich. Ich merke schnell: Nachtzugfahrer sind Profi-Bahnfahrer.

Ich denke: Bitte lass es nicht die betrunkenen Polen sein.

Ich habe Vierer-Abteil gebucht, für 80 Euro von Berlin in die Schweiz. Auch das ältere Pärchen wäre okay, obwohl bei den Zweien bestimmt nur nur er schnarcht. Es ist 22 Uhr, fühlt sich aber früher an.

Der Zug fährt ein. Ich steige eine, komme zu meinem Abteil. Sechs Pritschen, blau, auf Vieren jeweils ein Kissen und eine Wolldecke. Der Platz zwischen den Liegen ist eng. Ich schiebe meinen Koffer direkt unter meinen Platz und setze mich. Sonst wird es eng.

Ein Pärchen kommt herein. „Oje“, sagt sie. Und: „Das tut mir jetzt leid für dich.“

Ich denke: „Was ist los? Pseudokrupp? Eitrige Wunden?“

Sie zeigt auf ihr Baby. „Wir hatten gehofft, dass wir niemanden stören müssen.“

Seltsam. Diese Tendenz, dass sich Eltern immer schon im Vorhinein für ihre Kinder entschuldigen. Ich sage: „Ach, erstmal abwarten. Ich habe gute Erfahrung mit Babys auf Reisen.“ Habe ich wirklich. Auf einem Nachtflug aus den USA nach Deutschland wurde mir, in einer Reihe mit mehr Sitzabstand, ein Platz neben einer Mutter mit Kind angeboten. Ebenfalls entschuldigend. Es war ein entspannter Flug.

Die Kleine heißt Julia. Ich schätze sie auf sieben oder acht Monate. Sie winkt ihren Großeltern, patscht mit den Händchen gegen das Glas des Abteilfensters, sieht mich dann an, lacht und winkt auch mir. Ich winke zurück.

Der Vater des Kindes verstaut Koffer und Taschen. Er ist Schweizer, sie Deutsche, erzählen sie. Der Zug fährt ab. Wir machen es uns wohnlich. Die Mutter stillt das Kind. Sie fahren nach Zürich. Ich erzähle, dass ich in Berlin auf einer Internetkonferenz war und nach Bern fahre.

„Ah, du arbeitest in Bern!“, sagt er.

Soweit ist es nun schon, dass die Schweizer denken, dass Deutsche per se in der Schweiz arbeiten, sobald sie allein reisen.

„Nein, sage ich. Ich besuche Freunde.“

„Gleich gibt es eine Viertelstunde Geschrei“, sagt er und deutet auf das Kind. „Aber danach ist erstmal Ruhe.“

Wir unterhalten uns, dann wiegt der Zug Julia in den Schlaf, geräuschlos. Wir gehen nacheinander Zähne putzen und legen uns ebenfalls hin. Der Zug ist nun irgendwo zwischen Berlin und Halle. Er wiegt leicht von links nach rechts, wenn er das Gleis wechselt. Ich lege mich hin, lehne mich mit dem Rücken an die Wand, werde geschuckert. Julia liegt auf dem Boden in einer Baby-Trage und schmatzt leise. Manchmal quietscht der Waggon leicht.

Als wir in Halle stehen bleiben, bin ich noch wach, doch dann muss ich eingeschlafen sein, denn die Zugteilung in Erfurt kriege ich nicht mit. Ab und an wache ich auf, werde leicht geschüttelt, schlafe wieder ein. Irgendwann höre ich Julia schreien. Das erste, milchige Licht  wabert schon durch die Vorhänge. Später sehe ich sie neben ihrer Mutter liegen. Auf der obersten Liege brummt leise ihr Vater. Sonst ist es still im Zug, die ganze Nacht schon. Die Polen schnarchen anderswo, die jungen Amerikaner sind wohl auch erschöpft.

Kurz nach Freiburg klopft es an der Tür.

„Guten Morgen!“, sagt eine fröhliche Bahnbedienstete mit schwyzerdütschem Einschlag. Sie wolle mich wecken, ich könne aber noch liegen bleiben, der Zug habe 30 Minuten Verspätung.

Basel Badischer Bahnhof. Dann Basel. Ich verabschiede mich von Julia und ihren Eltern. Der Anschlusszug fährt direkt am Gleis gegenüber ein.

Bern

16. 05. 2013  •  40 Kommentare

Bevor ich mich dem Thema „Nachtzug“ widme, einige Eindrücke, wo ich überhaupt hingefahren bin.

Ich kam also mit dem Zug an. Wenn man mit dem Zug in die Schweiz reist, kommt man nicht umhin zu glauben, man befinde sich, höchstselbst in einer Modelleisenbahn sitzend, im Miniatur-Wunderland. Die kleinen Häuschen! Die Wiesen! Die Hügel! Hach, wie schön. Und alles so sauber.

Mein Reiseziel Bern bemühte sich fürderhin sehr, diesen Eindruck auch nach Ankunft zu bewahren. Schauen Sie nur:

Miniatur-Wunderland Bern

Blick von einer Terrasse hinunter. Es gibt unglaublich viele Terrassen in Bern.
Kaum biegt man um die Ecke, steht man schon wieder auf einer.

Und hier, gucken Sie mal:

Aussicht in Bern (mit Fenster)

Blick von einer … nee, diesmal war’s, glaube ich, eine Brücke.

Vokabeln, die einem in diesem Zusammenhang einfallen und die im Stillen einen Blogbeitrag formulieren, sind: pittoresk, heimelig, malerisch, liebreizend, putzig, eigene Ergänzungen erwünscht.

Stadtgasse in Bern mit Laub

Die Altstadt. Die Straße runter kommen Sie zu einer (tada!) Terrasse, von der aus Sie auf die Aare (Fluss dort) gucken können.

Neben kleinen Häuschen kann man auch andere Dinge entdecken: Kunst zum Zweimalhingucken zum Beispiel.

Haus in Bern mit Malerei

Maler stehen vor einem Haus. Oder Gemalte?

Wie ich so durch die Gassen streifte, ging mir auf, warum so viele Menschen in die Schweiz ziehen und von der Lebensqualität dort schwärmen. Was die Anzucht von Gemüse betrifft, geht da sicher Einiges.

Haus in Bern

Auch in der Schweiz ist Platz zum Züchten von Thorstingern.

Aber das ist es nicht allein. Bern, obgleich eine recht vertikale Stadt, ist so fahrradfreundlich – da träumt selbst ein Münsteraner. Hinz und Kunz ist mit dem Fahrrad unterwegs, niemand hupt, und es gibt an jeder Ecke Fahrradparkplätze. Vor Häusern sind sie sogar überdacht. In Deutschland dagegen überdacht man die Mülltonnen.

Fahrradparkplatz in Bern

Ich dachte, ich guck‘ nicht richtig: Fahrradparkplatz in Bern

Darüber hinaus sind die Freibäder kostenlos. Es ist nicht einmal ein Zaun drumherum. Man stapft einfach auf die Wiese, schon ist man drin. Und auch der Tierpark ist kostenlos. Man kann zwar auch gegen Geld hineingehen. Ein Großteil der Gehege ist aber einfach am Spazierweg der Aare gelegen, so dass man Ziegen, Biber und Pelikane auch so sehen kann.

Das hier allerdings ist nicht der Tierpark, sondern nur eine Stadttaube. Aber eine mit Märklin-Eisenbahnbrücke im Hintergrund.

Berner Taube

Auf Terrasse flanierende Berner Stadttaube vor pittoresker Kulisse.

Was auf den Bildern fehlt, ist die Schokolade. Die war aber zu schnell weg, als dass ich sie hätte fotografieren können.

Zehn tolle Tipps für Laienbahnfahrer

13. 05. 2013  •  87 Kommentare

So klappt’s auch mit dem Bahnfahren:

  1. Es erscheint Ihnen auf den ersten Blick erstaunlich, aber es gibt tatsächlich eine Menge Leute, die Bahn fahren. Und das, obwohl dieses Land so kommode Automobile baut. Die Tatsache, dass es Mitreisende gibt, bringt einige Unannehmlichkeiten mit sich. Zum Beispiel, dass es am Bahnsteig voll ist. Oder dass Menschen, bevor Sie, lieber Laienbahnfahrer, einsteigen können, erst aussteigen wollen. Und dass viele der Sitzplätze besetzt sind. Deshalb:
  2. Es besteht die Möglichkeit, Plätze zu reservieren. Das kostet vier Euro. Es ist unerfreulich, dass eine Reservierung Geld kostet, aber die Tatsache, dass es das tut und dass es noch dazu nicht preiswert ist, suggeriert, dass eine gewisse Nachfrage nach diesem Feature besteht.
  3. Wenn Sie einen Platz reserviert haben, bekommen Sie von der Deutschen Bahn einen Zettel, auf dem der Waggon und die Platznummer stehen. Auf dem Bahnsteig gibt es ein passendes Poster, auf dem zu sehen ist, wo der Waggon mit Ihrer Nummer halten wird. Das ist toll! Denn dann müssen Sie nicht Ihren Koffer, entgegen der Laufrichtung der restlichen Menschheit, durch fünf Wagen ziehen, ehe Sie Ihren Platz erreichen.
  4. Sollten Sie es mal verpasst haben, einen Platz zu reservieren und sich deshalb einfach den erstbesten nehmen, hilft es – gerade vor größeren Bahnhöfen, von denen man annehmen kann, dass dort Leute zusteigen – ein bisschen auf dem Sprung zu sein. Keine Sorge, nichts Schlimmes. Breiten Sie einfach nicht den Inhalt Ihrer großzügigen Tupperware-Schublade auf Ihrem Platz aus, samt Dressing-Shaker und Salat-Chef. Pro-Tipp: Über Ihrem Platz steht, ab wann ein anderer Mensch ihn reserviert hat. Und damit auch, wann Sie Ihre Prima-Klima-Brotbox einpacken müssen.
  5. Steht ein Mensch mit Reservierung an Ihrem Platz, ist das natürlich ärgerlich, keine Frage. Da kann man auch mal unwirsch werden, die freche Jugend verfluchen, darauf verweisen, dass man (a) zuerst zugestiegen ist, (b) nur noch eineinhalb Stunden fahren muss, (c) gerade isst oder (d) beliebige andere Begründung. Machen Sie Ihrem Ärger Luft! Hauptsache, Sie stehen auf.
  6. A propos Essen: Gekochte Eier sind toll. Das Eigelb rausnehmen, Maggi reinträufeln und reinbeißen – ja, das schmeckt. Dazu eine leckere Frikadelle und ein Mettbrötchen mit Zwiebeln – es gibt nichts Schöneres. Für Sie. Nicht für die anderen. Ich weiß, es scheint zunächst nicht denkbar, aber eine vierstündige Fahrt lässt sich durchaus mit einer Flasche Wasser und einer Laugenbrezel überbrücken. Nehmen Sie die Herausforderung an und versuchen Sie es mal.
  7. Thema Gepäck. Gepäck ist lästig, schwer, unhandlich und nimmt Platz weg. Besonders im Gang. Deshalb gibt es über den Sitzen die Möglichkeit, Gepäck zu lagern. Zwischen den Sitzen auch. Am Ende des Waggons. Und oft auch in der Mitte des Waggons. Ich gebe zu, manchmal reicht der Platz nicht. Dann müssen wir alle improvisieren. Aber mit Ihrem shetlandponygroßen Hartschalenkoffer den Gang zuzukorken, ist keine Lösung, glauben Sie mir.
  8. Überhaupt: shetlandponygroße Koffer. Es bietet sich an, statt eines Gepäckstücks, auf dem man  reiten kann, zwei zu wählen, die ein wenig handlicher sind. Und notfalls unter den Sitz passen. Sich auch leichter tragen lassen. Die man nicht herumwuchten muss. Nur so als Idee.
  9. Ja, die Toiletten. Eklig, nicht wahr? Dieser Trichter, der sich saugend und schnaufend nach unten öffnet, nachdem Sie verrichtet haben. Dazu dieses Ruckeln und Schunkeln des Zuges! Da kann man als Mann ja gar nicht treffen! – Sie kommen selbst drauf, oder?
  10. Eigentlich wären wir jetzt fast am Ziel, wenn nur diese leidige Verspätung nicht wäre. Ankunft: 15:08 Uhr in Berlin – so steht es auf dem Fahrplan. Nun ist es schon 15:11 Uhr, und wir fahren erst durch Charlottenburg. Dazu zwei Gedanken. Der erste: Wenn  Sie nicht schon seit Wolfsburg mit Jacke und Schal im Gang stünden, weil Sie Berlin-Ostbahnhof aussteigen müssen, kämen Ihnen diese zwei Minuten nicht so arg lang vor. Zweiter Gedanke: Planen Sie, wenn Sie mit dem Auto fahren, dass Sie um 11:48 Uhr in Dortmund losfahren und um 15:08 Uhr ankommen werden? Vielleicht sollten wir es manchmal nicht ganz so genau nehmen. Dann stimmt auch das Karma.

Nächste Lektionen: umgekehrte Wagenreihung, Verhalten in großen Gruppen und Nachtzug fahren. Oder nein: Zum Nachtzug erzähle ich lieber eine Geschichte.

Kleine Reise

13. 05. 2013  •  22 Kommentare

Dortmund – Berlin – Bern – Dortmund.

Aus dem Ruhrgebiet nach Berlin gefahren. Dort die re:publica besucht, Menschen aus dem Internet getroffen und mit Herrn Snaefell zu Abend gegessen. Vorträge besucht, Leuten gelauscht und wieder zu Abend gegessen, diesmal mit Frau Claudine, Frau Monika und Herrn Christian.

Dann in den Nachtzug gestiegen und in die Schweiz gefahren.

Dort den Koffer ausgepackt, die Sonne rausgelassen und durch ein Miniatur-Wunderland lustgewandelt. Frau Gminggmangg, Frau Änni und Herrn jpr gegrüßt. Bären besucht, Schokolade gekauft, Fahrrad-Parkplätze bewundert.

Bern mit Aare

Bern mit Aare

Es gibt natürlich noch viel mehr zu erzählen. Das tue ich später, wenn ich aus dem Schoko-Koma erwacht bin.

Gemüse-Kebap

7. 05. 2013  •  31 Kommentare

Berlin hat viel zu bieten. Zum Beispiel die re:publica. Aber reden wir lieber über die wichtigen Dinge: über Gemüse-Kebap.

In der Nähe meines Hotels, nur die Straße runter, gibt es den besten Gemüse-Kebap Berlins. Sagt man. Mustafas hat für seinen Gemüse-Kebap ein rechteckiges Wägelchen, in das drei Leute reinpassen, von denen zwei Kebap herrichten und einer das Geld zählt.

Direkt gegenüber von Mustafas Wägelchen befinden sich ein Hostel, der „Verein für Lebenskunst“ und „Kim’s Karaoke“, außerdem ein Spätkauf, was alles in allem für eine gesunde Kirmes-Atmosphäre sorgt. Die Schlange bei Mustafa ist außerordentlich lang, war es, als ich am Sonntag in Berlin ankam und war es, als ich mich gestern Abend anstellte. Zehn Meter vielleicht – aber ich denke: So einen Kebap zu bauen, das ist ja nun kein Kunstwerk, das geht einem professionellen Kebap-Bauer mit Sicherheit schnell von der Hand.

Vor mir stehen drei Russen, die sich impulsiv auf Russisch unterhalten. Sie gehören ins Hostel, denn als der kleinste von den dreien am Ende dran ist, bestellt er sechs Kebap, während die anderen zwei sich schon auf die Zimmer verabschiedet haben. Überhaupt bestellt kaum einer nur einen Kebap, was die Zeit in der Schlange deutlich verlängert.

Mustafas Jungs haben währenddessen die Ruhe weg. Sie basteln Kebaps, zählen zwischendurch aber auch immer mal das eingenommene Geld. Man muss ja schließlich schauen, wo man steht, ob man nun bald das Dach runterklappen kann oder ob man noch eine Weile schaffen muss.

Hinter mir wartet ein Touri-Pärchen. Sie stellt sich eingehend die Frage, was der Unterschied zwischen Döner, Kebap und Dürum ist, warum sich in dem Wägelchen ein Fleischspieß dreht, wo doch „Gemüse-Kebap“ vorne drauf steht und fragt mich schließlich: „Du hast hier schonmal Kebap gegessen, oder?“

Ich sehe also aus, als würde ich in Kreuzberg öfter Gemüse-Kebap essen, was bedeutet, dass ich aussehe, als käme ich von hier und nicht vom Land. In Berlin komme ich mir immer fürchterlich landeierig vor, auch wenn das Ruhrgebiet nun wirklich kein Dorf ist. Es ist mir aber so, als laufe ich in unsichtbaren Gummistiefeln durch die Stadt, an denen noch Stroh klebt. Ich kann da einfach nicht aus meiner sauerländischen Haut raus.

Ich verneine, sage, ich käme nicht von hier. Ihr Gemütszustand steigert sich ins Verzweifelte.

In der Zwischenzeit kommen zwei asiatische Mädels aus dem Gebäude gegenüber. Vielleicht gehören sie zu Kim’s Karaoke, jedenfalls müssen sie sich nicht am Ende der Schlange anstellen, das unverändert weit hinten ist, auch jetzt noch, um 22.30 Uhr, sondern fädeln sich noch vor dem Russen ein, von dessen sechs Kebap drei fertig sind. Aber nun sind erstmal die Asiatinnen dran, deren schwarzes Haar vorne eingedrehte Löckchen hat, die sanft wippen.

Nach 30 Minuten bestelle ich einen Gemüse-Dürüm, lecker mit gebratenen Paprika, Zucchini und Kartoffeln, allen drei Soßen, auch scharf, Salat und Käse.

Das Ding ist wirklich unglaublich lecker. Eine Spitzenidee, gebratenes Gemüse dort reinzupacken. Es ist echt köstlich. Aber 30 Minuten warten ist dann doch etwas übertrieben. Morgen Abend gibt es deshalb etwas anderes.

Özlem schielt und Sebastian fängt Bären

16. 04. 2013  •  30 Kommentare

Auf halber Strecke steigt eine Kindergruppe zu.

Kindergruppen sind der Graus für 99 Prozent aller U-Bahnfahrer, besonders morgens vor der Arbeit. Kommen Kinder, stehen alle auf und setzen sich weg. Ich hingegen mag Kinder-KiTa-Gruppen ganz gerne.

Ich sitze im Vierersitz mit Özlem, Frieda, Melek und Sebastian. Drei sitzen mir gegenüber, Melek sitzt neben mir. Sie stellen sich alle der Reihe nach vor und fragen mich, wie ich heiße.
„Nessy“, sage ich.
„Hihi“, sagt Melek.

Özlem hat eine geheime Superkraft: Sie kann mit beiden Augen zur Nase gucken. Sie führt es mir vor. Sie macht das wirklich gut. Sie sieht aus wie ein schielendes Kaninchen. So kann sie bestimmt auch über Kreuz heulen.
„Meine Mutter sagt, dass meine Augen irgendwann so stehen bleiben.“
Ich frage Özlem, ob sie meint, dass ihre Mutter Recht hat.
„Nöö“, sagt sie.

Frieda erzählt mir, dass sie eine Bifi mithat. Und Schokobons, die sie mit den anderen Kindern teilen soll. Sie weiß aber noch nicht, ob sie das macht.
„Du kriegst auch was von meinen Lakritzvampiren“, sagt Sebastian.
Frieda überlegt. „Na gut“, sagt sie.
„Willst du auch was von meinen Lakritzvampiren?“, fragt Sebastian.
Ich sage, dass ich bald aussteigen muss und bedanke mich.

Melek fragt, wann genau ich aussteige. Sie hat eine rosa Mütze mit Schmetterlingen auf.
„Nächste Station“, sage ich.
„Darf ich dann am Fenster sitzen?“
„Klar“, sage ich.
„Finde ich gut“, sagt Melek.
„Aber wir sind doch in U-Bahn. Du sieht doch gar nichts.“
„Ich stelle mir einfach vor, dass was vor dem Fenster ist.“

„Wir fahren in den Wald“, sagt Sebastian.
„Und was macht ihr da?“ frage ich.
„Bären fangen.“
„Gibt es dort viele Bären?“
„Weiß nicht. Werden wir sehen.“

Özlem sagt: „Wir lernen was über die Natur.“
„Ich kenne schon die Blätter“, sagt Melek. Sie spreizt ihre Hand. „Wenn das Blatt so ist, ist es von einer Kastanie.“
„Stimmt“, sage ich.

Ich muss jetzt aussteigen. Ich wünsche den Vieren einen schönen Tag. Melek rückt ans Fenster und winkt mir beim Abfahren zu.

Der Sturz

28. 03. 2013  •  32 Kommentare

Ich komme aus der U-Bahn und fahre mit der Rolltreppe hoch, ins Licht.

Neben der Rolltreppe führt eine Treppe nach unten. Eine Mutter geht hinunter. Auf einem Arm trägt sie ihr Kind, mit dem anderen hält sie eine Tüte Einkäufe. Sie strauchelt.

Es passiert innert Sekunden. Sie vertritt sich, rutscht auf der Stufe aus, verliert das Gleichgewicht, will sich  festhalten, sie lässt die Einkäufe los, greift zum Geländer, doch das Kind ist schwer, es reißt sie nach unten, sie schreit auf, nur das Kind nicht fallen lassen! Sie windet sich. Halb fällt es auf sie, halb auf die Stufen. Gemeinsam rutschen sie ein Stück die Treppe nach unten, ihren Einkäufen hinterher. Hupp, hupp, hupp. Es tut bestimmt weh im Steiß. Das Kind schreit wie am Spieß. Alle blicken sich um.

Oben, im Licht, setzt der Bodo-Mann zum Sprint an. Auf halbem Weg lässt er seine Obdachlosenzeitungen fallen. Es hat etwas Baywatch-artiges. Derweil geht ein Mann federnden Schrittes an der gestürzten, weinenden Frau vorbei. Zwei Teenager-Chicks ebenfalls, plappernd. Die Leute am Bahnsteig glotzen.

Ich kann nicht zu ihr hin. Ich fahre mit der Rolltreppe nach oben, bin eingeklemmt zwischen Feierabend-Pendlern.

Der Bodo-Mann erreicht die Mutter, die nicht aufstehen kann. Er nimmt das Kind auf, wiegt es. Das Schreien wird zum Schluchzen. Ein weiterer Mann geht an der Szene vorbei, hinunter zum Bahnsteig. Eine alte Frau sammelt die Einkäufe auf und reicht sie der Mutter, die sich nun aufrappelt. Es sei nichts passiert, bedeutet sie. Nur der Schreck.

Sie nimmt das Kind an sich. Der Bodo-Mann und die alte Frau stopfen die Einkäufe zurück in die Tasche und reichen sie ihr. Sie bedankt sich. Unten fährt die Bahn ein. Die Leute glotzen weiter, selbst beim Einsteigen, solange bis sie durch die Türen durch sind und nichts mehr sehen können.

Edit: Bitte folgen Sie in diesem Zusammenhang doch dem Aufruf von Paul.

Tumult in der U-Bahn

16. 03. 2013  •  48 Kommentare

Die U-Bahn ist voll.

Heute fährt nur ein Kurzzug. Normalerweise fährt auf dieser Strecke ein Langzug, das sind zwei Waggons. Diesmal ist jedoch nur ein Wagen da, deshalb müssen alle, die sonst in zwei Wagen passen, etwas zusammenrücken. Schon an der zweiten Station stehen die Leute dicht, warm und behaglich. Wer das Miteinander mag, der ist hier richtig.

Eine alte Dame steigt zu. Sie ist rüstig, wenn auch sicher über 80, klein und drahtig. Ich kann sie mir gut vorstellen, wie sie beim Turnfest ’53 im Hamburg mit einer vollendet eleganten Kür den ersten Platz im Rhönradturnen belegte, vielleicht auch bei der Sportgymnastik, in einem weißen Turnanzug und gemeinsam mit ihren Kameradinnen Gerda, Herta und Hannelore, wobei Herta immer eher dicklich war, aber beweglich wie eine südamerikanische Rollschlange.

Die alte Dame steht, der Enge geschuldet. zwischen zwei Vierersitzen. Vor ihr sitzt eine Mutter mit ihrer Tochter, das Kind vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Ob sie dort bitte sitzen dürfe, fragt die Dame. Umstehende nicken sofort, murmeln etwas von Respekt und älteren Herrschaften.

Die Mutter verneint. Das Kind müsse sitzen, sagt sie. Es fiele sonst um.

Die Dame entrüstet sich. Sowas hätte es früher nicht gegeben, sagt sie. Wenn das Kind schon sitzen müsse, was sie nicht verstehe, aber bitteschön, könne doch wenigstens sie, die Mutter, für eine alte Frau aufstehen. Das Murmeln im Waggon wird zu einem Raunen. Unverschämt sei es, das Verhalten der Mutter. Sie sei eine junge Frau, sie könne zweifellos stehen, früher – und es folgen nun einige Redundanzen – hätte es sowas nicht gegeben, da sei es selbstverständlich gewesen, für Ältere aufzustehen, man selbst habe das immer getan, da habe es gar kein Vertun gegeben, und überhaupt, das Kind, unbegreiflich, warum es sitzen müsse, früher sei man fünf und mehr Kilometer zu Schule gelaufen, die heutige Jugend sei verweichlicht bis dorthinaus, aber nun ja, eigentlich könne sie nichts dafür, Schuld daran trügen allein die Eltern, denn wer solch eine Unverfrorenheit vorlebe, dessen Kinder könnten gar nicht anders als missraten.

Die Mutter verschränkt trotzig die Arme vor ihrer Brust. Jetzt bleibt sie erst recht sitzen. Auf Türkisch redet sie auf ihre Tochter ein, streicht ihr über den Kopf.

Aha. Für die Gruppe neben mir, eine ältere Frau und zwei Herren, ist nun alles klar. Eine Ausländerin. Das hat man auch nicht anders erwartet. Diese Leute wüssten ohnehin nicht, was gute Erziehung sei, das habe man schon häufiger erlebt, diese tiefe sitzende Dreistigkeit. Ich denke: Ihr habt alle noch nicht mit einem Koffer oder einem Kinderwagen an der Treppe zum Bahnsteig gestanden. Die Einzigen, die dort helfen, sind die Türken, die Araber und die Russen, eigentlich alle, nur nicht die Deutschen.

Ein junger Mann steht weiter hinten auf und bietet der alten Dame seinen Platz an, aber die möchte jetzt nicht mehr. Entweder auf dem Platz der Mutter oder gar nicht, es müsse nun wirklich kein anderer aufstehen, wenn es doch der Sitz vor ihr ist, der ihr gebührt.

Wir erreichen die Innenstadt. Der Waggon leert sich, die Dame steigt aus. Eine Station weiter verlässt auch die Mutter mit dem Kind die U-Bahn, die Aufregung legt sich, ein Punk blockiert für einen Oppa mit Rollator die Tür, dann setzen wir die Fahrt vor. Es gibt nun nichts mehr zu sehen, alle können sitzen.

Der Taxifahrer

29. 01. 2013  •  24 Kommentare

Ich steige in ein Taxi. Der Taxifahrer ist in meinem Alter, ein korpulenter Mann mit dichtem, dunklem Bart und großen, fast schwarzen Augen.

„Zum Krankenhaus bitte“, sage ich.

Er stellt den Taxameter ein und fährt los. „Hastu kranken Freund?“, fragt er, dann legt er los:  „‚Schab auch immer nachts Husten. Der hört gar nisch‘ auf. Hab isch schon seit Wochen. Aber liegt vielleischt daran, dass isch immer bis sechs abends arbeite. Dann ess‘ isch und gehe ins Bett, aber boah! Wenn isch huste, kommt das wieder hoch. Bis hier!“ Er deutet mit der Handkante an seinen Hals. „‚Schab mir schon gedacht, vielleischt soll isch abends weniger essen. Weißtu, meine Frau kocht voll gut.“

Öhm.
„Vielleicht besser nur ein Süppchen?“, sage ich.

„Hastu vielleischt rescht. Hastu Kinder?“

Ich verneine.

„’sch werde Vatta. In einem Monat.“ Er schweigt, streckt unmerklich den Brustkorb vor und sieht mich von der Seite an.

„Herzlichen Glückwunsch!“, sage ich. „Junge oder Mädchen?“

„Junge. Aber weißtu was? ‚Sch hätt‘ gern ’n Mädschen gehabt. Escht jetz‘. Weißtu, in meine Kultur … meine Kumpels haben mir auf die Schulter geklopft und gesagt, Stammhalter und so, Glückwunsch und so. Aber weißtu, Mädschen ist irgendwie, da fühl‘ isch voll viel im Herzen. Weißtu, weil: Mädschen beschützt man mehr.“

„Wenn das Kind erstmal da ist, ist bestimmt egal, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist. Und den Jungen beschützt du dann auch ganz doll.“

„Ist bestimmt so. Weißtu, ist sowieso ein ganz besonderes Kind, weil: Meine Frau hatte vorher zwei Fehlgeburten. Immer in zehnter Woche. War isch voll traurisch, und meine Frau war noch trauriger, natürlisch. Hat viel geweint.“ Wir stehen an einer Ampel. „Im Dezember hat sie vier Wochen im Krankenhaus gelegen. War sooooo weit auf, der Muttermund -„, er hält seine Hände melonenbreit auseinander – „deshalb musste sie im Krankenhaus liegen, weil: Sonst flutscht das Kind da raus, weißtu.“

Die Ampel wird grün. Wir fahren weiter.

„War ein escht schlimmer Monat. Weißtu, meine Mutter hat immer viel Wert auf Essen gelegt – früher, als isch noch ein Junge war. Hat immer warm gekocht, jeden Tag. Und isch bin so froh, weil: Meine Frau ist wie meine Mutter. Kocht auch immer warm, jeden Tag. Aber im Dezember, das war schlimm. Ein Monat ohne Essen. Konnte isch kein Fast Food mehr sehen.“

„Dann musst du halt selbst kochen“, sage ich.

„Kann isch doch nisch, Alta!“ Er erschrickt. „Oh, ’schuldigung, wollt‘ isch nisch ‚Alta‘ sagen.“

„Kein Ding. Es gibt Kochbücher. Da steht drin, wie kochen geht.“

„Jaaaaa“, er zieht verschämt die breiten Schultern hoch und grinst verschmitzt. „Weiß isch, weißtu, aber bin isch zu faul. Oh mann, isch freu misch so auf meine Kind. Isch freu misch ja jetzt schon, jeden Tag nach Hause zu kommen, aber dann – Wahnsinn, alta. Zehn Euro zwanzisch.“

Wir sind am Krankenhaus. Ich bezahle und wünsche ihm alles Gute für seine Frau. Er winkt beim Wegfahren. Ich fühle voll viel im Herzen.



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