Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Heute erwachte ich, Sonne schien durch die Vorhänge und meine Residenz hatte eine Aussicht.

Panoramabild: Blick über das Tal und den See

Der Bolsenasee ist vulkanischen Ursprung. Irgendwann gab’s hier mal vier Vulkane, einen in Latera, einen in Montefiascone, einen in Capodimonte und einen in Bolsena – außerdem mindestens 94 weitere Krater. Das war hier sozusagen die Vorhölle. Der See bildete sich unterirdischen Magmakammern, die einstürzten. Die Caldera füllte sich mit Wasser.

Der See ist einer der saubersten in Europa. Man kann unter Wasser angeblich zehn Meter weit sehen.

Hier wird sanfter Tourismus betrieben: Schon in den 1990er haben die Behörden verboten, das Ufer weiter zu bebauen. Es gibt viel Agrotourismus. In der Umgebung sind historische Stätten – na klar: die Nähe zu Rom.

Nach dem Frühstück stapfte ich los, um die Stadt ohne Nebel zu erkunden. Wie gestern machte ich mich erst auf zum Rocca dei Papi, dem Felsen der Päpste ganz oben auf dem Hügel – und sah zum ersten Mal die große Kuppen von Santa Margherita.

Rocca dei Pai: Kirche Santa Margherita

Danach ging ich auf der anderen Seite wieder runter und durch die Gassen.

Montefiascone: Durchgang mit Blick ins Tal

Es war mächtig was los in der Stadt: Wahlsonntag. Ich wohne in der Nähe des Rathauses, wo die Leute wählten. Dort und auf jedem Platz standen sie und redeten.

In den Gassen und um die Altstadt herum war ordentlich Verkehr. Die Kioske und Cafés hatten geöffnet, es gab einen Stand mit Trockenfrüchten. In den Kirchen war Messe.

Montefiascone, rechts die Stadt auf dem Hügel mit großer Kirchenkuppel, links das Tal

Ich entdeckte ein Schild, in dem Wanderwege eingezeichnet waren. Sie führten alle um See, und ich stand direkt am Beginn eines der Wege. Also stapfte ich ein Stück bergab. Ich hatte ja nichts anderes vor.

Weg durch eine Felsgasse

Ich ging und ging – durch Schilf und Wald, vorbei an Weinbergen und Olivenhainen. Es war warm. Erst legte ich den Schal, dann die Jacke ab. Es war nicht nur mein erster Tag in Italien ohne Pudelmütze. Es war auch direkt mein erster Tag ohne Jacke.

Irgendwann war ich unten am Fuß des Hügels – und mein Dorf oben auf dem Berg.

Mein Berg von unten

Zum See wären es noch gut und gerne vier Kilometer durch die Ebene gewesen. Darauf hatte ich keine Lust. Also ging ich wieder hoch.

Als ich wieder oben war, begann es zu regnen. Ich befeuerte meinen Ofen, holte mir eine Decke, nahm mir ein Buch und legte mich aufs Sofa. Ich las und machte ein sonnelino, ein Nickerchen. Dann war es auch schon Abend. Ein perfekter Sonntag.

Ein Tag in Nebel und Regen.

Heute Morgen erwachte ich, und es prasselte aufs Dach. Das Dach sieht aus dem Bett so aus. Das war das erste, was ich heute morgen sah:

Holzsparren, Ziegelsteine

Das Haus hier ist von 1200, und seither war da offenbar kein Dachdecker mehr dran. Obwohl es keine Dämmung gibt, ist es erstaunlich warm. Relativ gesehen.

Als ich aus dem Fenster blickte, sah ich: nichts.

Dach mit dickem Nebel

Ich wohne in der historischen Altstadt von Montefiascone auf einem Hügel. Eigentlich habe ich eine Aussicht. Schätze ich. Also: Man weiß es nicht. Gestern Abend, bei meiner Ankunft, war es ja auch dunkel.

So sieht das Haus von außen aus – es ist die erste Tür rechts:

Haus in der Altstadt: Alte Steine, Holztür

So sieht es von innen aus – das Wohnzimmer:

Wohnzimmer

Die Säcke im Kamin sind Holzpellets für den Pelletofen rechts. Er heizt das Haus – beziehungsweise das Untergeschoss. Im Obergeschoss gibt es keine Heizung. Im Schlafzimmer ist es daher frisch. Das finde ich aber nicht schlimm. Ich schlafe bei 16 Grad sehr gut. Einzig das Bad könnte wärmer sein.

In Quattro Castella war das Bad warm, aber das Duschwasser kalt. Hier in Montefiascone ist das Bad kalt, aber das Duschwasser warm. Nun denn.

Die Treppe ins Obergeschoss:

Steintreppe ins Obergeschoss

Mittags hörte es auf zu regnen. Ich beschloss, den Ort zu erkunden und einen Supermarkt zu suchen. Mir fehlten Brot und Milch, außerdem Toilettenpapier, Batterien und irgendwas, das ich in den nächsten zwei Tagen kochen könnte. 

Montefiascone liegt 95 Kilometer nordwestlich von Rom und ist ein Titularbistum. Die Stadt stammt aus dem 9. Jahrhundert und gehörte lange zum Kirchenstaat. Im 12. und 13. Jahundert gab es hier einen Papstsitz, den Rocca dei Papi, den Felsen der Päpste, den man heute noch besichtigen kann.

Dort gibt es einen Garten, vom dem aus man einen Rundumblick in die Umgebung hat. Theoretisch.

Garten der Päpste: Bäume im Scherenschnitt vor Nebel

Es war ein bisschen knifflig, sich zu orientieren. Denn ich konnte zwar in die Straßen hineinsehen, aber nicht wieder hinaus – wegen des Nebels. Die Orientierung an Landmarken, Aussichtspunkten und großen Gebäuden fehlte.

Denn die großen Gebäude, etwa die Kirchen Santa Margherita oder San Flaviano konnte ich auch nicht sehen. Die Fassaden sind zu hoch, und der Nebel war zu dick – sie waren nur Schatten. So streifte ich ziellos durch die Gassen und genoss einfach die gespentische Szenerie.

Montefiascone, Gasse im Nebel


Montefiascone, Platz im Nebel

Es gibt hier – gefühlt – genauso so viele Kirchen wie Einwohner. Ständig bimmelt irgendwo eine Glocke.

Es war übrigens tatsächlich so menschenleer, ich habe nicht an irgendwelchen Leuten vorbeifotografiert. Es gab einfach keine Leute. Ich bin in der Altstadt vielleicht zehn Menschen begegnet, davon acht auf dem Platz, wo die Tabaccheria ist. Es war aber auch kurz nach dem Mittag. Da ist eh nie etwas los, und ich glaube, dass bei diesem Wetter einfach niemand auf die Straße geht.

Montefiascone, Gasse mit Lampe im Nebel

Die Luft war wie Dampfsauna bei zehn Grad. Sie war unglaublich feucht, meine Nase lief und lief. Das war bestimmt gut für die Atemwege.

Es duftete allerdings auch sehr gut. Ich kann den Frühling riechen. Und es fühlte sich nach der Kälte der Emilia Romagna sehr warm an.

Montefiascone, Häuser mit Büschen im Nebel

Danach machte ich mich auf die Suche nach einem Supermarkt. Die Supermärkte liegen außerhalb der alten Stadtmauern, den Hügel hinunter.

Ich hatte keine Lust, mein Auto zu nutzen. Das wäre auch übertrieben umständlich gewesen: Vom Parkplatz in der Altstadt raus, einmal um die Altstadt, den Berg hinunter und dann wieder zurück. Da konnte ich auch zu Fuß gehen.

So pittoresk das auch alles ist: Der Rückweg war beschwerlich. So sah’s auf der Hälfte des Weges aus, als ich mich umgeblickt habe:

Montefiascone, Straße

Stellen Sie sich zu dem Bild vor: Zehn Kilo Getränke im Rucksack, weitere fünf Kilo Einkäufe am Arm und ein sanfter Regen, der in den Nacken läuft. Nachdem ich das Stadttor durchschritten hatte, dann nochmal das:

Montefiascone, durch das Stadttor

Wo das Bild zu Ende ist, ist der Aufstieg leider noch nicht zu Ende. Mit dem Herz-Kreislauf-Training war ich danach also durch.

Zur Belohnung gab’s Kaffee – mit frisch gekaufter Milch:

Moka-Kanne und Milch auf dem Gasherd

Die Milch im Topf passt genau in die Elefantentasse. Wie praktisch.

Ich schmiss den Pelletofen an. Der Rest ist Sofa.

Wenn ich irgendwann mal eine Frage an das Leben habe, die ich nicht selbst beantworten kann, werde ich zum magischen Telefon greifen und den Bürgermeister von Quattro Castella anrufen. Denn der Mann weiß einfach alles.

Er hat Eisregen prophezeit, und es kam: Eisregen.

Wettervorhersage

Als ich heute Morgen die Vorhänge öffnete, regnete es verdächtig laut – als wenn Hagel auf gefrorenen Schnee fällt. Und so war’s auch. Der ganze Norden Italiens lag lahm: Genua, La Spezia, die Autostrada A1 von Mailand bis Florenz und die Straßen aus der Emilia Romagna an die Adria, nach Ravenna und Ancona (Berichterstattung: Corriere della Sera und Quotidiano). Nichts ging mehr: Unfälle, quer stehende Lkw, alles eine großes Chaos, zwei Tote, etliche Verletzte, gesperrte Autobahnen.

Ich schlappte rüber zu S und M, wir tranken Kaffee, blätterten in Ss Vogelbestimmungsbuch und bestimmten erstmal die Vögel im Garten. Davon gab’s nämlich heute Morgen besonders viele. M war außerdem sauer auf die Rehe, denn sie sind gestern bis an ihr Küchenfenster gelaufen und haben ihre Veilchen weggefressen.

Es gibt nichts, was man bei Eisregen tun kann – außer warten. Also wartete ich. Zur bildlichen Untermalung: die Türklingel des Hauses. Sie gibt sehr gut den Humor der Hausherren wieder.

Spruch: "I'm so far behind I thought I was first."

Gegen 11 Uhr kam das Postauto, und der Postbote meinte, es ginge inzwischen ganz gut auf den Straßen, so schlimm sei es nicht mehr. S und ich beschlossen, eine Probetour zu machen: Er meinte, er habe Aufträge von seiner Frau bekommen, da könne ich mitkommen und schauen, wie es so sei, und mir Verpflegung für die Fahrt kaufen. Außerdem fanden wir, sei es eine gute Gelegenheit, noch auf dem Weingut Rinaldini vorbeizufahren, und ein wenig Moro del Moro in den Kofferraum zu laden. So tourten wir durch die Nachbarschaft, es regnete zwar bei -1 Grad, war aber wundersamerweise nicht glatt, und ich habe jetzt drei Kisten 2009er Barrique-gereiften Rotwein für ein kleines Vermögen im Kofferraum.

Das Ortszentrum von Cavriago, 9900 Einwohner: 

Cavriago

Die Situation auf dem Boden:

Boden, bisschen gefroren, bisschen Eis, bisschen Wasser

Nach der Rückkehr beschloss ich aufzubrechen.

Es folgten 380 Kilometer Fahrsicherheitstraining von der Emilia Romagna über den toskanisch-emilianischen Appenin bis nach Latiumalso von Modena über Bologna und Florenz, Montepulciano bis kurz vor Rom. Dort bin ich jetzt: in Montefiascone am Bolsenasee.

Landkarte mit eingezeichneten Zielen

Wirklich glatt war es nicht mehr, aber es gab auf dem Weg alles andere: Eisregen, Schnee, Schneeregen, dicken Nebel und Starkregen. Niemand wählte die Panoramica, die Panoaramaroute der A1 durch die Berge; alle – mich eingeschlossen – fuhren über die Direttissima von Bologna nach Florenz, die Direktverbindung mit zahlreichen Tunneln. Entsprechend voll war es dort – alles bei heftigem Regen und schlechter Sicht. Wenn man aus einem Tunnel herausfuhr, fuhr man in eine Nebelwand hinein – und wieder in den nächsten Tunnel. Die Berge rundherum sind mehr als 2.000 Meter hoch.

Rund um Florenz und in der gesamten Toskana dann fette Staus.

Ich habe nicht in Arezzo oder Lucca oder sonst einer schönen Stadt angehalten, das war alles nicht machbar. Außerdem regnete es Hunde und Katzen. Stattdessen stoppte ich kurz an der Autobahnraststätte Arno-West südlich von Florenz. Die Nachrichtenkanäle kannten heute nur ein Thema: Glatteis.

Arno Ovest

In Orvieto, 125 Kilometer vor Rom, fuhr ich von der A1 ab. Es folgte eine weitere Komplikation: Bei meiner Auffahrt auf die Autostrada hatte der Mautautomat keinen Schein ausgeworfen. Den muss man aber vorzeigen, wenn man abfährt: Auf ihm steht, wo man aufgefahren ist, und sie berechnen die Maut. Ich suchte mir also eine Ausfahrt mit Kassenhäuschen, in dem ein Mensch saß, dem ich das erklären konnte. Er war nicht erfreut. Ich konnte es ja aber nicht ändern, es tat mir auch leid, und wir kriegten es dann hin. Ich musste auch nur die üblichen 18,70 Euro zahlen.

Die nachfolgende Strecke von Orvieto nach Montefiascone deklariere ich zum Stoßdämpfertest 2018, und ich sag’s mal so: Die Markierung der Landstraßen im Dunkeln ist ausbaufähig. Ich war sehr dankbar, dass das Navi anzeigte, was an Kurven kommt und wo sie hinführen.

Weiter ging’s dann in der Altstadt von Montefiascone: Die Straßen hier sind genauso breit wie mein Auto – wenn man den linken Außenspiegel einklappt und auf die Treppenstufen der Häuser achtet. Und sie sind steil. Beim Ausräumen des Autos gab’s den Handbremsentest 2018. Als ich in Montefiascone ankam, meinte mein Vermieter L übrigens, ich hätte mir den beschissensten Tag der vergangenen fünf Jahre ausgesucht, um in Italien Auto zu fahren.

Für diesen Tag verleihe ich mir die goldene Plakette „Autoprinzessin 2018“.

Jetzt sitze ich in der historischen Altstadt von Montefiascone, neben einem Papstpalat und in einem Haus aus dem Jahr 1200, blicke über Latium, im Ofen brennt ein Feuer, und ich fühle mich sehr burgfräuleinesk. Plan für morgen: ausschlafen und nicht Auto fahren.

Ganztägiger Schneefall in Quattro Castella. Ich blieb daheim und legte einen Arbeitstag ein.

Büro

Buchhaltung gemacht. UStVA für Februar erstellt und ans Finanzamt geschickt – aus Italien, online! Was heutzutage alles möglich ist! Einen Haufen Korrespondenz erledigt. Blogbeitrag für meine berufliche Website erstellt: ein Interview mit Frau Moku; ihr geschickt und mir das Okay geholt, dass ich alles richtig wiedergebe. Fragebogen ausgefüllt: Ich werde im nächsten „do it!“-Magazin der Dortmunder Wirtschaftsförderung vorgestellt, habe dazu meine Geschichte erzählt und Fragen beantwortet. Kundenunterlagen einer Anfrage durchgearbeitet, die ich diese Woche erhielt. Telefoniert.

Zwischendurch Blick aus der Tür.

Schnee vor der Tür

Am frühen Nachmittag schneite es statt sehr viel nur noch mittelviel. Ich habe daraufhin meine Expeditionskleidung angezogen und bin spazieren gegangen. Dabei „Was man von hier aus sehen kann“ weitergehört. So, so toll. Bald habe ich es zuende gehört, und was auch immer das Nachfolgehörbuch sein wird: Es wird es schwer haben.

Bild von der Expedition:Wirtschaftsweg in Schneelandschaft

Die Weinreben links gehören zu La Vigna dei Peri. Angebaut wird Lambrusco, Grasparossa, Lambrusco Marani, Lambrusco Maestri, Marzemino, Malbo Gentile, Croatina und Malvasia.

Auf dem Heimweg schneite es dann wieder heftig. Die fleißigen Schneetreckerfahrer schieben hier allerdings auch den letzten Wirtschaftsweg frei.

Starker Schneefall kurz vor Zuhause

*

Ich habe weiterhin Wasser im Haus, heute Nacht ist nichts eingefroren. Ich habe einen Tipp von S befolgt, der mir den gleichen Ratschlag wie Thea gegeben hat: Wasserhahn leicht geöffnet lassen, so dass ein kleines Rinnsal fließt. Dann frieren die Rohre nicht zu. Funktioniert.

*

Am späten Nachmittag kam S rüber und lud mich zum Abendessen ein. Als ich gerade dort war und die Pasta auf dem Tisch stand, klingelte das magische Telefon, und der Bürgermeister war wieder dran. Gelicidio! Glatteis! Nachdem es nun tagelang gefroren und heute den ganzen Tag geschneit hat, soll es morgen im Laufe des Tages zu regnen beginnen. Alle Bürger sollen Salz kaufen, rausgehen, streuen und zuhause bleiben. Wieder dieser Widerspruch!

Beim Abendessen habe ich erfahren, wer im Dorf seine Stromrechnung nicht zahlt, wer ein bisschen verrückt ist und warum wer Photovoltaikanlagen an seinem Haus anbringen darf und andere nicht.

„Ihr kennt auch wirklich jeden im Ort, oder?“
„Es ist umgekehrt: Jeder kennt uns. Das ist viel schlimmer.“

*

Gelesen und kommentiert bei Spontiv, der schreibt:

Ein gleichaltriger Freund hat regelmäßig und dauerhaft Probleme mit seinem Herzen. Das ist zwar alles in Behandlung, zunehmend  frage ich mich allerdings warum niemand aus seiner Tretmühle ausbricht. Was ist am Arbeitsleben so wichtig das man dafür vor die Hunde geht? Das Geld?

Meine Antwort:

Warum die Leute so selten ausbrechen? Weil das nicht ihrem Selbstbild entspricht und weil es keine alternativen Lebensvorstellungen neben den aktuellen gibt. Wer bin ich, wenn ich nicht arbeite, wie ich jetzt arbeite, wenn ich weniger leiste? Was macht mich aus? Woraus ziehe ich meinen Selbstwert, wenn nicht aus der bezahlten Beschäftigung? Sich weniger von äußeren Faktoren lenken lassen, ist eine Konfrontation mit sich selbst.

Gelesen: „Das ganze gemeinsame Leben hört auf“ über die Beziehung zu einem depressiven Partner.

Gelesen bei Familie Buddenbohm: Die Herzdame startet ein Experiment und Experiment Tag 1. Die Buddenbohm-Eltern sind es satt, die Söhne ständig zu ermahnen, Medienzeit zu reglementieren, zu streiten und Verbote zu verhängen. Deshalb jetzt: Eigenverantwortung als einwöchiges Experiment. Nichts wird mehr reglementiert, aber die Kinder müssen die Konsequenzen selbst tragen.

*

Morgen Weiterfahrt nach Montefiascone. Sofern ich mit dem Auto vom Hof komme. Denn auf dem Hof passen Schneehöhe und Unterbodenhöhe nicht mehr zusammen. Und sofern die Straßen befahrbar sind. Das Leben ist ein großes Abenteuer.

Ausnahmezustand in der Emilia Romagna! Der Bürgermeister hat Recht behalten.

Als ich heute Morgen aufstand, kamen nur drei Tropfen Wasser aus dem Hahn; dann war Ende. Leitungen zugefroren! Ich frühstückte und schluffte aus meinem Scheunenappartment zu S ins Haupthaus hinüber.

Porca miseria!“, fluchte er. „Wie kann das sein? Hier im Haus haben wir Wasser. Und du nicht?“

Er dachte kurz nach. Dann sagte er: „Ich weiß, woran es liegt. Das Wasser kommt aus dem Brunnen und geht zuerst bei uns ins Haus und dann zu dir. Das Rohr, in dem das Wasser in dein Haus geht, liegt nah an der Oberfläche. Wir müssen es aufwärmen.“ Er ging zum Küchenschrank und begann, in der Schublade zu kramen. Unter Verwünschungen schob er Dinge nach links und rechts. Dann reckte er mit einer triumphalen Geste den Arm in die Luft. In der Hand: ein Crème-brûllée-Brenner.

„Das wird helfen!“, meinte er und drückte auf den Anzünder. Doch: nichts.
„Ich mache nicht oft Crème brûllée. Möchtest du eigentlich einen caffè? Ich mache uns erstmal einen caffè. Und guck nicht so skeptisch.“

Nach dem Kaffee, mit aufgefülltem Brenner und einer Rohrzange stapften wir nach draußen. S beugte sich über die steinerne Abdeckung an der Seite des Hauses und zog daran. Wieder: nichts.

Porca miseria! Der Deckel ist zugefroren!“ Wir kamen nicht einmal an die Leitung.

Er hockte sich neben das Viereck und bearbeitete die Kanten mit dem Crème-Brûllée-Brenner. Doch es half nichts: Der Deckel blieb fest. „Wir müssen ein Feuer machen“, sagte er.

Wir sammelten Laub und Äste und stapelten sie auf den Deckel. S ging in die Scheune und holte alte Obstkisten. Mit dem Brenner zündete er alles an. „Das ist schön warm“, sagte er. „Das wird helfen.“

Feuer auf Steinen

Nach drei verbrannten Obstkisten: Heureka! Der Deckel ging auf. S schippte das schwelende Laub ins Loch, direkt unter das Rohr. Wir warteten etwas. Dann ging ich ins Haus und öffnete den Hahn. Yay!

„Es läuft wieder!“, rief ich durchs Fenster nach draußen.
„Ich war mal Pfadfinder!“ rief S zurück.

*

Am Mittag fuhr ich in die Berge zum Castello di Rossena. Die Sonne schien; ich wollte in die Natur. Dieses Mal nahm ich nicht den direkten Weg in die Berge, sondern fuhr durchs Enzatal. Die Enza ist ein Nebenfluss des Po.

Enza, im Hintergrund verschneite Berge

Dass das Castello di Rossena geschlossen sein würde, wusste ich. Nichtsdestotrotz wollte ich hin, um hinauf zu steigen und hinunter zu schauen.  Ich parkte das Auto am Fuß der Burg und machte mich auf den Weg hinauf.

Rossena: Weg hinauf zu Burg

Der Schnee war tief – tiefer als unten in Quattro Castella. Er ging mir bis zur Wade und war mal bretthart gefroren, mal nicht, mal blieb ich darauf stehen, mal sank ich ein, mal nur bis zum Knöchel, mal bis zur Mitte des Unterschenkels. Doch es war immer noch besser als die schmale Rinne, die jemand freigestreut hatte: Sie war vereist.

Rossena: Aussicht von der Burg in die Berge und ins Tal

Nachdem ich das Panorama bewundert hatte, stapfte ich wieder hinunter. Der Tiefschnee machte es wunderbar einfach.

Unten ging ich ein Stück die Straße entlang und folgte einem Weg, der auf die Felder und in den Wald führte.

Rossenna, Eiszapfen an einem Holzhaus

Rossena: Ausicht auf die Burg und die Berge

Überall waren Spuren von Wild:

Rossena: Spuren von Rehen im Schnee

Auch in Quattro Castella haben wir Rehe. Die Spuren sind auf dem ganzen Hof und gehen unter meinem Schlafzimmerfenster entlang. Tagsüber sehe ich die Tiere  in der Ferne auf dem Feld.

Nachdem ich den Hügel umrundet hatte, machte ich Rast und setzte mich auf eine Schranke. Ich saß eine ganze Weile dort; so lange, wie man braucht, um ein Zitronenbonbon langsam zu lutschen.

Rossena: Aussicht von der Schrank aus

Ich schaute in die Berge und ins Tal, und es war still. Der Wind wehte Schnee von den Bäumen. Vögel durchkreuzten den Himmel. Ich atmete und schaute und irgendwann schloss ich die Augen. Erst habe ich an vieles gedacht. Dann habe ich an nichts mehr gedacht. Es war sehr schön.

Als ich die Augen wieder öffnete, war die Welt erst blau; dann war es, als wäre die voller Seifenblasen; dann wurde sie wieder klar.

Rossena: Panorama im Schnee mit Schranke

Es war kalt geworden. Der Himmel hatte sich zugezogen. Ich ging zurück zum Auto.

Auf dem Rückweg nach Quattro Castella hatte ich noch einmal einen Blick auf Canossa, über die Schneeberge an der Straße hinweg:

Blick über die Schneeberge an der Straße hinweg auf den Hügel mit der Canossa-Ruine

*

#DerKleineWissenschaftler. Ich bin einem Phänomen auf der Spur: der Milchhaut. Wenn ich daheim in Deutschland Milch für meinen Kaffee koche, gibt es keine Haut. Koche ich hier Milch, gibt es sofort welche. Ich mache das in beiden Fällen mit einem Topf auf dem Herd. Folgende Variablen habe ich für die Untersuchung dieses Phänomens als relevant identifiziert: Fettgehalt der Milch, Vorbehandlung der Milch, maximale Erhitzungstemperatur, Erhitzungsgeschwindigkeit.

Die Variable „Fettgehalt der Milch“ konnte ich schnell als nicht maßgeblich ausschließen, indem ich einmal Vollmilch und einmal Magermilch gekauft und erhitzt habe. Kein Unterschied. Die Variable „Maximale Erhitzungstemperatur“ macht auch keinen Unterschied. Die Haut bildet sich zuverlässig, egal wie warm die Milch wird.

Nach einer Lektüre tippe ich entweder auf eine geringere Vorbehandlung der italienischen im Vergleich zur deutschen Milch oder auf eine schnellere Erhitzung auf dem Gasherd. Daheim habe ich Induktion, das geht schnell. Möglicherweise entwickelt aber der Gasherd in noch kürzerer Zeit eine noch größere Hitze, so dass sich eher Haut bildet. Chemiker, die zu dieser Fragestellung etwas beitragen können, sind herzlich willkommen.

*

Angesehen: Automated Vehicles can’t save cities – darüber, wie Städte gestaltet sein sollten, damit möglichst viele Menschen sich möglichst effizient in ihnen bewegen können. Spoiler: Das Auto trägt nicht viel dazu bei.

Gelesen: Volk und Vertreter – darüber, wie bestimmte Bevölkerungsgruppen im Bundestag vertreten sind.

Gelesen: Ordnung muss sein über die Geschichte der Normen.

Den Morgen daheim verbracht. Mails gecheckt und geschrieben, die nächste Unterkunft gebucht. Ich folge der Empfehlung von S und reise am kommenden Freitag in die Nähe von Orvieto: an das Ufer des Bolsenasees nach Montefiascone.

Zur besseren Übersicht eine Karte (#serviceblog):

Landkarte mit eingezeichneten Zielen

Aktuell bin ich das obere Quadrat zwischen Parma und Modena. Am Freitag geht’s nach Süden zum zweiten Kästchen, nördlich von Rom. Ich reise übrigens nicht in große Städte.

Heute Nachmittag war ich in Reggio nell’Emilia. Da lag der Hund begraben.

Reggio Emilia

Es ist wirklich saukalt. Wer konnte, folgte den Empfehlungen des Bürgermeisters und blieb zu Hause. Wer musste, zog den Schal bis über die Nase und huschte geduckt durch die Stadt. Die Straßen waren leer, die Geschäfte waren leer, niemand hatte Lust auf irgendwas.

Reggio, Marktplatz: leer

Mit Pudelmütze und in meiner Schneezauber-Winterjacke war mir zwar obenrum warm, trotzdem war ich hinterher durchgefroren. Die Kälte kroch von den Beinen hoch.

Ich bin durch die Straßen und die Geschäfte gestreift und habe Bücher und Duftzeugs gekauft. Denn M hat hier in den Schränken toll riechende Plättchen liegen. Die wollte ich auch haben. Es gibt hier ganze Abteilungen voller Schrank- und Raumdüfte. Großartig.

Einkäufe: Bücher und Orphea-Duft

Wo wir grad beim Einkaufen sind – so sehen die Schaufenster der Metzger aus:

Schaufenfenster mit ganzen Parmaschinken

Entdeckung aus dem Supermarkt: Kinder Cards. Mit einem cuore cremoso al latte e cacao, einem Cremeherz aus Milch und Kakao. Es ist noch besser, als es sich anhört, vor allem, weil die Plättchen so dünn und zerbrechlich sind und das Herz wirklich super ist.

Kinder Cards: Verpackung

Zweite Entdeckung aus dem Supermarkt: Limonensirup. Bodendeckend ins Glas, Mineralwasser drauf. Gut.

Flasche "Sciroppo di Limone"

Abends den örtlichen Pizzabäcker ausprobiert. Margherita gibt’s dort für drei Euro, Pizza Crudo mit Parmaschinken für sechs Euro. Ich habe eine Pizza Crudo genommen, regionale Produkte unterstützen und so. Gute Wahl.

Heute war ich in der Stadt des guten Essens, in Parma.

Um dorthin zu gelangen, bin ich durch circa dreißig Kreisverkehre gefahren. Ich glaube, die Strecke, die ich in Kreisverkehren verbracht habe, war insgesamt länger als die Strecke außerhalb. Die  Kreisverkehre sind meist zweispurig und erfordern eine beherzte Fahrweise. Wenn man zu wenig beherzt ist, wird man angehupt. Wenn man zu viel beherzt ist, auch. Es ist nicht leicht. Manchmal folgt auf einen Kreisverkehr direkt der nächste, die Ausfahrt des einen ist die Zufahrt des anderen. Das fühlt sich dann an wie Tetris, kurz bevor die Rakete kommt.

Irgendwann erreichte ich Parma. Die erste Parkmöglichkeit, die mir angeboten wurde, hieß Barilla Center. Ein Parkplatz, der wie Pasta heißt – das hat mich direkt angesprochen, also parkte ich dort. Ein guter Griff, denn ich konnte direkt die Strada della Repubblica in die Altstadt hinablaufen.

Ich bin dann vier Stunden durch die Stadt gelaufen und habe mir alles angesehen. Parma hat einen hübschen und großen Dom, von innen wie von außen. So sieht er von außen aus:

Parma, Dom

Und so von innen:

Parma, Dom: Bögen mit Wand- und Deckengemälden

Parma, Dom: Bögen mit Wand- und Deckengemälden

Die Katholiken können wirklich gut Kirchen einrichten. Der Dom wurde zwischen 1055 und 1106 gebaut. Der Glockenturm ist zweihundert Jahre jünger. In der italienischen Wikipedia sind noch ein paar mehr Bilder. Sehr beeindruckend.

Weitere Eindrücke aus Parma:

Parma

Parma, Straßen mit Lampen

Parma, bunte Häuser

Zum Mittag habe ich ein Panino mit Prosciutto Crudo gegessen, so wie sich das in Parma gehört, und einen caffè getrunken. Es gibt viele Schinkengeschäfte hier, was nicht wirklich überraschend ist:

Prosciutteria

Auf dem Rückweg habe ich in Bibbiano angehalten. Dort gibt es eine Molkerei, die Parmesan verkauft, den bekannten Parmigiano Reggiano. Das war ein Tipp von S, bei dem ich  auf dem Hof wohne.

Latteria Sociale Moderna, Bibbiano

Latteria Sociale Moderna, Bibbiano

Ich habe jetzt eineinhalb Kilo Parmesan im Kühlschrank, außerdem Aceto Balsamico mit Trüffel und ein paar Sfoglie al Parmigiano Reggiano, Parmesanblättchen, die man zwischendurch knabbern kann.

Übrigens liegt in Parma kein Schnee, nullkommanix, auch wenn es keine 30 Kilometer von Quattro Castella weg ist. Verrückt. Muss am Appenin liegen, in dessen Ausläufern ich wohne.

*

Hier ist es weiterhin sehr kalt, heute Morgen hat zu dem Thema sogar der Bürgermeister auf dem Hof angerufen. Er hat eine Vorrichtung, mit der er alle Einwohner Quattro Castellas gleichzeitig antelefonieren kann – wenn zum Beispiel ein Krieg kommt oder wenn ein Atomkraftwerk explodiert, also bei wirklich gravierenden Dingen. Heute hat er alle Schäfchen angerufen und ihnen gesagt, dass es kalt werden soll, gravierend kalt, und dass er es als seine Pflicht als Bürgermeister ansieht, darüber zu informieren.

M und S, die Hofbesitzer, kicherten belustigt, als sie mir davon beim Abendessen erzählten. Alle Einwohner, hat der Bürgermeister gesagt, sollten ausreichend Salz kaufen, die Wege streuen und auf keinen Fall das Haus verlassen. Das ist ein Widerspruch, der den Leuten seither zu schaffen macht. S hat vorsichtshalber vier Packungen Speisesalz gekauft, die jetzt in der Küche stehen.

M und S haben mich heute eingeladen, gemeinsam mit ihnen Abendbrot zu essen. Es gab Pasta, und ich weiß nicht, wie sie es machen, aber diese kleine Pasta, gekocht von einem italienischen Fotografen in einer Küche in einem Bauernhaus in der Emilia Romagna, schmeckt besser als jede Restaurantpasta in Deutschland. Wir aßen also Pasta und dann noch ein bisschen Seewolf und Zucchini und natürlich Brot und Käse und tranken Wein. Ich weiß jetzt, wie die Familienverhältnisse in der Nachbarschaft sind, wer mit wem gut kann, wer der Mann ist, mit dem ich in Canossa gesprochen habe (den kennen M und S nämlich), wessen Haustiere sich nicht verstehen, was die Pläne des Obsthändlers sind und noch vieles mehr.

Wenn wir zusammensitzen, spricht S mit mir Englisch und M mit mir Italienisch. Ich antworte in der Sprache, in der ich gerade Wörter parat habe, was manchmal gar keine ist und manchmal beide sind, weil der Mischmasch bei mir Systemfehler verursacht. Das fällt allerdings nicht weiter auf; S und M wissen ausreichend zu erzählen.

Wir haben gemeinsam gelacht und Pläne für meine Weiterreise gemacht. Ich solle unbedingt nach Orvieto, dort sei es wunderbar, und es gebe viel zu sehen, meint S. Außerdem nach Ascoli Piceno. Das kenne niemand, S versteht nicht, warum; dort sei es wunderbar, dort solle ich hinfahren. Alternativ nach Urbino. Auf der Rückreise nach Deutschland könne ich dann in Ravenna Halt machen, das sei auch sehr schön, und wenn ich überall eine Woche bleibe, sei ich Ostern wieder zu Hause.

Das klingt nach einer Idee.

Heute Morgen schneite es. Deshalb beschloss ich, das Auto stehen zu lassen und einfach rauszugehen.

Ich machte mich auf den Weg zum Castello di Bianello, das ist die Burg oberhalb des Ortes. Um dorthin zu gelangen, muss man erst einen Kilometer in die entgegengesetzte Richtung gehen. Ansonsten müsste man durch Weinreben laufen, und das geht nicht, grundsätzlich nicht und schon gar nicht bei Tiefschnee.

Ich war gerade losgestapft, es windete und schneite mir in die Augen, als mir S im Auto entgegenkam. Ich wohne bei S auf dem Hof. Er hielt an, kurbelte das Fenster herunter und fragte, wo um alles in der Welt ich bloß hinwolle, zu Fuß und bei Schneetreiben.

„Zum Castello“, sagte ich.

S schaute mich mit einer Mischung aus Belustigung und Entsetzen an. Wenn ich in Not geriete, meinte er ernst, solle ich bitte auf jeden Fall anrufen.

Ich stapfte weiter, die Allee hinauf zur Landstraße, die Landstraße entlang und von dort in Richtung Dorf. Ich war die einzige, die Fuß unterwegs. Es schien bislang auch niemand das Haus verlassen zu haben, denn alle Einfahrten, Eingänge und Treppenstufen waren jungfräulich verschneit.

Erst später traf ich auf Fußstapfen, die Richtung Dorf führten. Wahrscheinlich auch ein deutscher Tourist.

Der Aufgang zur Burg:

Castello di Bianello: Eingangstor, im Hintergrund die Burg auf einem Berg

Das Castello ist eine von ehemals vier Burgen, die Quattro Castella umgaben. Deshalb auch Quattro, vier. Es stammt aus dem 8. Jahrhundert. Die Immobilie gehörte einst Mathilde von Tuszien, also der Dame, die auch Canossa besaß.

Mathilde muss ein Händchen für Besitzungen gehabt haben, denn ihr gehörten die Toskana, Mantua, Parma, Reggio, Piacenza, Ferrara, Modena, ein Teil von Umbrien, das Herzogtum Spoleto, der Kirchenstaat von Viterbo bis Orvieto und ein Teil der Mark Ancona. Hoffentlich konnte sie sich das alles merken.

Weg zum Castello die Bianello den Berg hinauf

Das Castello di Bianello war angesichts all dieser Liegenschaften wahrscheinlich eine Hütte, auf der man mal Rast machen und eine Limo trinken konnte. Bis heim nach Canossa sind’s schließlich noch elf Kilometer.

Um in die Burg zu gelangen, muss man den Berg hinauf („Lage! Lage! Lage!“, sage ich nur). Von unten sieht das nach nur einem kurzen Weg aus. Zwischendrin ändert sich die Perspektive.

Auf der Homepage der Castello stand, dass es sonntags immer um 12:15 Uhr eine Führung gebe. Was dort nicht stand: erst wieder ab Ende März. Das stand auf einem handgeschriebenen Schild an der Tür.

Castello di Bianello vom Innenhof aus

Nun denn, was soll’s! Es war trotzdem schön. Wenn man dort oben ist, kann man nämlich runtergucken, man hört die Kirchenglocken im Dorf, das Kreischen der rodelnden Kinder, und Spatzen fliegen um einen herum.

Castello di Bianello, Aussicht

Unterhalb der Burg gibt es einige Spazierwege. Sie sind auf einem Schild eingezeichnet. Auf dem Schild steht: Qui potete: camminare sui pratiabbracciare gli alberiannusare i fioriparlare agli animali.

Schild mit Landkarte und Schrift

Auf Deutsch: „Bitte auf den Wiesen spazieren, die Bäume umarmen, an den Blumen rieche, mit den Tieren sprechen.“ Darüber habe ich mich sehr gefreut.

Ich bin dann ein Stück den Weg reingegangen. So sah das dort aus – stellen Sie sich dazu das Rauschen eines Bächleins und Vogelgezwitscher vor:

Waldweg

Ich bin dem Weg allerdings nicht sehr weit gefolgt. Denn ich stand nicht nur bis zum Stiefelschaft im Schnee – ich sank auch noch tiefer ein, so dass alles in die Schuhe schwappte.

Auf dem Bild ging’s noch; weiter hinten wurde der Boden doppelt so tief und sumpfiger, da war’s dann völlig vorbei.

Schuhe im Schnee

Bei Wanderschuhen ist es ja so: Was rein schwappt, kommt nie wieder heraus – denn die Schuhe sind dicht. Gamaschen wären gut gewesen.

Auf dem Weg heim ging ich durch Quattro Castella. Der Ort hat ein recht übersichtliches Angebot. Allerdings gibt es einen sehr gut sortierten Laden mit Reizwäsche. Der Name:

Titti intimo

Der Weg heim: windig und kalt. Der anschließende Platz auf dem Sofa: kuschelig und warm.

Eigentlich wollte ich heute Morgen nur einkaufen fahren.

Ich setzte mich also in mein Auto und fuhr nach Quattro Castella. Das ist der nächste Ort in zwei Kilometern Entfernung. Doch als ich dort war, verpasste ich den Supermarkt.  Der Supermarkt ist wirklich klein und steht hinter dem ersten und dem zweiten Kreisverkehr unter Bäumen. Man sieht ihn auf den ersten Blick nicht, denn er ist praktisch nur ein normales Haus.

Ich fuhr also vorbei und weiter den Berg hinauf. Ich wusste, dass ich falsch war, aber es war auch schön, denn die Häuser wurden schnell weniger, und ich hatte einen Blick über das Tal. Also fuhr ich einfach noch weiter den Berg hinauf – die Forrestgumpigkeit, Sie wissen schon. Die Landschaft wurde noch schöner. Ich beschloss, dass ich auch später noch einkaufen kann, und entschied, jetzt erstmal dorthin zu wollen, wo der Weg hinführt. Die Landschaft weitete sich; es gab großartige Blicke über das Tal. Ich fuhr weiter und weiter, überholte zwei Radfahrer, die bergan trainierten, und als der Blick besonders schön war, hielt ich an. Das war hier:

Emilia Romagna, Berge, Schnee und Nebel im Tal

Danach fuhr ich noch ein bisschen weiter, weil: Der Weg war ja noch nicht zu Ende. So erreichte ich Canossa.

Burg von Canossa

„Der Gang nach Canossa“, das kennt man als geflügeltes Wort, und ich habe hinterher nachgeschaut, warum man das sagt: weil nämlich König Heinrich IV. im 11. Jahrhundert zu Papst Gregor wollte, um vom Kirchenbann befreit zu werden. Wenn man von der Kirche gebannt ist, darf man keine Sakramente empfangen, also nicht heiraten, nicht zur Beichte und keine Kommunion. Das ist nicht nur schlecht fürs Seelenheil, sondern war damals auch schlecht fürs Business.

Heinrich und Gregor trafen auf der Burg Canossa aufeinander, die damals Mathilde von Tuszien gehörte. Heinrich war es sehr ernst mit der Entbannung; er harrte mehrere Tage lang vor der Burg im Büßerhemd aus. Deshalb sagt man heute „Gang nach Canossa“, wenn man sich erniedrigt, um jemanden um etwas zu bitten.

Damals war Januar, und vielleicht lag so viel Schnee wie heute. Das stelle ich mir sehr unangenehm vor.

Canossa

Gestern sagte ich, es lägen rund 20 Zentimeter Schnee. Das war, glaube ich, etwas untertrieben, denn hier zum Vergleich meine Hand:

Schnee mit Hand

Ich hielt unterhalb der Burg, wo ein alter Mann Schnee schippte. Ein gutes Auto hätte ich da, sagte er, als ich ausstieg. Er habe auch eins von der Sorte, nur ein kleineres Modell, das sei ganz wunderbar. Woher ich denn käme? Ah, aus Deutschland – ob ich denn dann auch Winterreifen drauf hätte? Natürlich, sagte ich.

Er schippte und sagte, heute sei die Burg geschlossen. Zu viel Schnee auf der Straße und zu viel Schnee auf den Ästen, das falle alles runter und den Leuten auf den Kopf. Außerdem wisse niemand, wohin mit dem ganzen Schnee in der Burgruine, deshalb könne man die nicht begehen und deshalb sei zu. Ich könne aber gerne hinaufgehen, schaden tät’s nix, nur die Burg selbst, die sei halt geschlossen.

Ich ging also hinauf auf den Schneehaufen zu, den der Schneetreckerfahrer dort hingeschoben hatte, lehnte mich dagegen und guckte in die Landschaft.

Canossa

Dann bog ich rechts ab und ging zum Hof. Dort blieb ich wieder eine Weile stehen und sah ins Tal. Neben mir klatschte Schnee von den Bäumen, dick und nass. Ein beständiges Fallen und Rieseln. Sonst war es sehr still.

Canossa

Als ich zurück zu meinem Auto kam, schippte der alte Mann immer noch. Er sagte, Dienstag oder Mittwoch sei vielleicht wieder geöffnet, so genauso wisse das niemand. Es solle ja diese Eiseskälte kommen, die noch mehr Schnee bringe.

Dann kam der Schneetreckerfahrer und stieg aus, es gab ein großes Hallo, die beiden umarmnten sich und begannen zu schwatzen. Ich verabschiedete mich und machte mich auf den Weg zurück.

Auf dem Rückweg kaufte ich dann ein: Brot und Milch, Salat und was man halt so braucht. Gelernt: Hier muss man nicht nur die Äpfel und die Bananen und die Tomaten, sondern auch die Salatköpfe abwiegen.

In Quattro Castella hielt ich dann nochmal kurz an. Eingekauft hatte ich zwar schon, aber ich wollte wenigstens den nächstgelegenen Ort einmal gesehen habe. Außerdem, so steht es im Hausprospekt meiner Unterkunft, gebe es ein gutes Obstgeschäft und einen guten Bäcker, eine gute Pizzeria und gutes Eis. Das wollte ich alles erkunden, damit ich es, wenn Not am Mann ist, wenn zum Beispiel ein Pizzanotstand oder ein Eisnotstand eintritt, schnell finde.

Allerdings musste ich feststellen: Zwischen 13 und 16 Uhr ist in Quattro Castella Siesta.

Quattro Castella

Total tote Hose, alle Geschäfte haben geschlossen, und wenn du um diese Zeit auf dem Parkplatz an der Via I. Lenin parkst, hält die Oma, die gegenüber ihr Kissen aus dem Fenster schüttelt, inne und guckt dir hinterher, wie du durch den Ort gehst, denn fürs Durch-den-Ort-Gehen gibt es um diese Zeit keine Erklärung, nicht heute, nicht an einem anderen Tag, nicht mittags um Zwei. Da hilft auch kein freundliches Buongiorno, damit man auf seinem Gang weniger wunderlich wirkt.

Im Radio ist das beherrschende Thema übrigens das Wetter. Bis zu minus 30 Grad in den Bergen, Schnee im Norden, Regen im Süden. Für Quattro Castella steht für morgen eine Wolke mit drei dicken Schneeflocken in der Wettervorhersage, dazu Windchill mit gefühlten minus acht Grad.

So schaut’s direkt vor meiner Haustür aus – links das Haus, sonst Weinreben:

Quattro Castella: La Barquessa, Panoramabild

Hier geht’s rein:

Quattro Castella: La Barquessa, Zufahrt

Das ist das kleine Appartment in der Scheune. Am Vogelhäuschen ist immer große Party:

Quattro Castella: La Barquessa, Appartment in der Scheune

Wenn es morgen ungemütlich ist, bleibe ich einfach im Bett und ziehe die Decke bis zur Nase, schaue Filme aus der DVD-Sammlung und den Vögeln zu, wie sie Sonnenblumenkerne knacken.

550 Kilometer geradeaus gefahren. Allerdings – Überraschung – nicht nach Norden, zurück nach Dortmund. Sondern weiter in den Süden.

Ich bin in Italien, in der Emilia Romagna. Hier sitze ich grad:

La Barquessa: Wohnzimmer

Es ist ein Geschenk an mich selbst. Denn im kommenden Monat werde ich 40 Jahre alt, und das Schönste, was man einem Menschen – und auch sich selbst – schenken kann, sind Zeit und Erlebnisse.

Weil das Leben kurz ist, weil es in der Gegenwart stattfindet und nicht in der Zukunft, weil es genau diese Dinge sind, auf die ich im Alter glücklich zurückblicken werde, weil ich im vergangenen Jahr viel gearbeitet habe, weil wenn nicht jetzt, wann dann, schenke ich mir zu meinem 40. Geburtstag: den März. Ich werde den nächsten Monat in Italien verbringen, reisen, Projekte vorbereiten, mich über die Fernuni Hagen weiterbilden, Ideen entwickeln und Kraft schöpfen.

Begleiten Sie mich. Ich werde weiterhin jeden Tag bloggen und freue mich über Tipps. Ich starte hier zwischen Parma und Emilia Romagna. Das Appartment ist für eine Woche gebucht. Und dann: Mal schauen.

Ich bin übrigens ganz normal erreichbar. Per Mail, per WhatsApp, Threema und auch über meine Festnetznummern. Sie leiten aufs Handy weiter.

*

Heute morgen startete ich in München beziehungsweise: Murmansk. Kälte, Eis, Schnee. Ich schleppte meinen ganzen Kram ins Auto: ein mittlerer Koffer mit Wintersachen beziehungsweise Allwettersachen, ein kleiner Koffer mit Frühjahrs- und Sommerkleidung, ein Korb mit Arbeits- und Studienkram, ein Korb mit Schuhen. Nicht übermäßig viel für vier bis fünf Wochen, aber eben auch nicht so wenig. Von minus 10 bis plus 20 Grad kann hier im März alles passieren – und wird es wahrscheinlich auch, wenn ich die Wettervorhersagen anschaue.

Durch Deutschland und Österreich war es kalt und diesig. Über dem Brenner kam die Sonne durch.

Brenner mit Schnee und Sonne

Das Panorama war großartig. Gipfel, Sonne und Schnee. Dank Tempolimit von 110 und wenig Verkehr hatte ich Gelegenheit zu genießen. Ich machte mir Musik an und fuhr mit Freude durch diese wunderbare Landschaft.

In Bozen fuhr ich runter: Die Hälfte der Strecke, es war Mittag, ich hatte Zeit.

Bozen: Waltherplatz

Ich stieg aus dem Auto und: Frühling! Verrückt. Die Sonne war warm, die Leute saßen draußen, tranken Kaffee und Wein und ach – es war unglaublich.

Bozen, Marktstände

Als ich das Foto machte, lernte ich K und F kennen. Wo ich herkomme, fragten sie; was ich hier mache. K, ein Herr im mitteloberen Alter, wollte mich kurzerhand heiraten. Ich sei dann seine vierte Frau, aber das solle nichts heißen, die ersten drei seien halt Pech gewesen, wir müssten auch nicht sofort die Ehe eingehen, wir könnten auch erstmal mit dem Multivan bis nach Bari fahren und wieder zurück. Wir einigten uns zunächst auf einen gemeinsamen Prosecco.

F hat ein Hotel in der Gegend. K und F waren gestern zum Jubiläum beim Vögele: 25 Jahren, es ging bis in die Nacht. Mit ihm nach Bari, das solle ich mir wirklich überlegen; warum ich überhaupt im März reise – der Mai sei doch viel wärmer. Ich erzählte von meinem Geburtstag und dem geschenkten Monat, doch K ließ sich nicht abbringen. Ich versicherte ihm, dass ich über das Projekt Multivan nachdenken werde. F sagte, ich solle doch auf dem Rückweg zumindest in seinem Hotel vorbeischauen, dort sei es wirklich schön, ein Anruf ein paar Tage vorher genüge. Er sagte mir den Namen und gab mir die Nummer. Mal schauen: vielleicht tatsächlich.

Tisch mit drei Gläsern

Wir trennten uns, ich kaufte mir noch zwei Bällchen Eis, bummelte durch die Gassen und kehrte dann zum Auto zurück.

Südlich vom Gardasee wurde das Wetter zusehends schlechter und die Temperatur sank: Von zehn Grad auf sechs Grad und dann alle zehn Kilometer um weitere 0,5 Grad, bis es erst zu schneeregnen und dann zu schneien begann.

Gegen 17 Uhr fuhr ich von der Autostrada ab, und es war tiefer Winter. Ich durchquerte auf den folgenden 30 Kilometern so viele Kreisverkehre wie im ganzen Jahr 2017 nicht. Gegen 17:30 Uhr erreichte ich La Barquessa, mein Quartier für die nächsten sieben Tage, und als ich die Fahrertür öffnete, schob ich damit den Schnee beiseite – so hoch liegt er hier.

Qui è?“, rief es aus der Küche des Bauernhauses.
Sono io, Vanessa„, rief ich zurück.
Vanessa, benvenuto!“ Komm in die Küche, trink Mocca mit uns. Wie war die Fahrt? Ist es kalt in Deutschland? Was ein langer Weg! Die Torfrau A hat dich angemeldet – wie wunderbar. Wann ist sie eigentlich zuletzt hier gewesen? Und wie oft? Was sie tue, verfolge man auf Facebook, aber was sie dort schreibe, das wisse man natürlich nicht. Ob ich mal kurz übersetzen könne? Sie sei aber noch mit Björn zusammen, oder?

So saßen wir in der Küche, der Tisch in der Mitte des großen Raums, vor uns Mokatassen und Birnen und Biscotti. 

Bevor ich das kleine Appartment in der Scheune bezog, setzten wir gemeinsam das Auto um. Einer fuhr, einer schob, denn nichts bewegte sich, so hoch steckte es im Schnee. Nun steht es in der Scheune, ich habe ausgeladen und mich eingerichtet. An wegfahren war nicht mehr zu denken. So gab es nur ein kleines Abendessen mit Resten aus München.

Jetzt Tagesausklang mit McDreamy. Italienischgewöhnung mit Untertiteln.

Italiano con Greys, mit Untertiteln



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