Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Begebenheiten in meinem Leben lassen mich vermuten, dass es auf dem Dachboden meines Hauses eine Regie gibt, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, mein Leben spannender zu gestalten.

Ich bin mir sicher, dort sitzen Menschen vor Monitoren und geben den Nachbarn Anweisungen, wann sie meinen Weg kreuzen sollen. Ab und an lassen sich die Leute da oben eine Pizza kommen, schmeißen Kippen aus dem Fenster, und wenn ich schlafe, blenden sie Werbung ein. Diesen komischen, zauseligen Junggesellen aus dem vierten Stock, der täglich Einkaufstüten durchs Treppenhaus schleppt, obwohl er alleine niemals so viel essen kann, haben sie angemietet, damit er ihnen Cola und Klopapier hochträgt. Und der papierdünne Opa von gegenüber, der jeden Morgen rauchend in Schlappen vor der Haustür steht, der Sonne beim Aufgehen zusieht und nur zwei Gesichtsausdrücke kennt, nämlich stumpf und sehr stumpf, ist eine Attrappe. Irgendwann, wenn es zu sehr windet, wird er vornüber aufs Gesicht kippen, und ich werde den kleinen, surrenden Motor in seinem Rücken sehen.

Was mich zu diesem Schluss kommen lässt? Immer, wenn ich meine Wohnung verlasse, treffe ich den Oberinspektor. Kehre ich in meine Wohnung zurück, treffe ich den Oberinspektor. Treffe ich ihn nicht, treffe ich den Mann mit dem kleinen, weißen Hund. Ich kann niemals unbehelligt durchs Treppenhaus gehen, egal zu welcher Uhrzeit. Und das – und jetzt kommt der Clou – obwohl ich diese Menschen jeweils fünf Minuten zuvor in ihr Auto steigen sah. Wie können sie weggefahren, aber gleichzeitig noch im Haus sein?

Ich gehe davon aus, dass in den Räumen über mir mindestens fünf Oberinspektor-Komparsen in der Maske sitzen. Verlasse ich meine Wohnung, gibt die Regie einem von ihnen über Funk Anweisung: „Sie tritt aus der Tür. Los, schnell die Treppe runtergehen. Gebeugt! Sie sind ein alter Mann! Faseln Sie wirres Zeug! Das Publikum will ein Gespräch!“

Wenn von den Oberinspektor-Komparsen zwei wegen eines gelben Scheins ausfallen, zwei gerade zum Mittag am Büdchen sind und der fünfte austreten ist, schicken sie den Mann mit dem kleinen, weißen Hund vor die Tür. Der Hund, er bellt nie. Ich wette, er ist innendrin hohl, eine batteriegetriebene Mechanik steuert seinen Schwanz, und nach Feierabend wird er shampooniert, ausgebessert und neu aufgeföhnt.

Es war dieses Silvester Mitte der 90er, als es minus 20 Grad hatte. Nur die Hauptstraßen unserer kleinen Stadt waren vom Schnee und vom Eis befreit. Auf den Nebenstraßen, den Anliegerstraßen und in den kleinen Gassen, auf den Höfen und Terrassen lag eine dicke, plattgetretene, gefrorene Schneeschicht, die so hart war, dass sie erst Wochen, nachdem sich erste Krokusse ans Licht gewagt hatten, geschmolzen war.

Wir gingen hinaus mit Mütze und Handschuhen, in einer langen Unterhose und den Schal nicht nur um den Hals, sondern eng um Mund und Nase gewickelt. Männern mit Schnurrbärten gefror ihr Atem in den borstigen Haaren, und Frauen, die gerade geboren hatten, blieben mit ihren Kindern vor den Kaminen der Einfamilienhäuser sitzen und blickten versonnen ins Funkeln des Weihnachtsbaums, das sich im Fenster spiegelte.

Wir waren eine Gruppe von vielleicht acht Leuten, eine lose zusammengewürfelte Clique, die sich erst vor ein paar Monaten gefunden hatte. Es ergab sich, dass wir in einer hölzernen Gartenhütte in einer Reihenhaussiedlung feiern konnten, umgeben von zwei Heizlüftern, auf Campingstühlen und Plastikliegen. Wir saßen im Kreis um einen Tisch herum, machten Raclette, erzählten und lachten viel. Die Bravo Hits des Jahres quollen aus den Boxen eines CD-Kassetten-Decks, und wahrscheinlich wechselten sie sich ab mit Kuschelrock und Roxette, denn das war es, was wir zu dieser Zeit und zu dererlei Anlässen hörten.

Von Zeit zu Zeit, immer dann, wenn uns in dieser winzigen Hütte mit den zwei Heizlüftern zu warm wurde, öffneten wir die Hüttentür mit den Butzenscheiben und den dicken, gehäkelten Spitzengardinchen. Die Luft unter der Decke wurde augenblicklich zu Dampf und waberte in dicken Schwaden hinaus in die Kälte. Es war unwirklich und dauerte nur wenige Sekunden, ehe wir die Tür wieder zurissen und uns mit schlotternden Leibern wünschten, wir hätten sie nie geöffnet.

In einem dieser Momente blickte ich ihn zum ersten Mal an, wie er ebenfalls dasaß und zu frieren begann. Er war zu dieser Zeit mit Miriam zusammen, einer 17-Jährigen, die bereits vor Mitternacht von ihrem Vater abgeholt werden würde, weil sie nicht länger aus bleiben durfte. Sie war eine zarte, braunhaarige Elfe mit Porzellanhaut und Locken, die ihr auf den Rücken hinabhingen und bei jeder Bewegung sanft hüpften. Sie war schön im klassischen Sinne, doch sie war eine Puppe und reizte ihn nicht, das sah ich gleich. Wenn er sie umarmte und ihr einen kurzen Kuss auf die weißen Wangen drückte, hielt er die Augen geöffnet und ließ jene Innigkeit vermissen, wie sie Verliebten zu eigen ist, wenn um sie herum im Augenblick gegenseitiger Berührung die Umgebung in Bedeutungslosigkeit verschwimmt.

Um kurz vor elf wurde sie also abgeholt, obwohl Silvester war, obwohl wir alle wie in einem Schlafsaal im Wohnzimmer dieses Reihenhauses schlafen würden und obwohl sie bereits 17 war. Er drückte ihr wieder einen dieser scheuen Augen-auf-Küsse auf die Wange, während ihr Vater im Auto wartete und die Abgaswolken aus dem Auspuff des Wagens quollen. Als er zurück in die Gartenlaube kam – die warme Luft wurde sofort dunstig, als er durch die Tür schlüpfte -, setzte er sich neben mich in einen freien Campingstuhl. So saßen wir beeinander, ich bot ihm von den Chips an, und er blickte mich immer wieder von der Seite an.

Es wurde Mitternacht, und als wir mit gefüllten Sektgläsern, in Mützen und Handschuhen, die Schals über den Mund gezogen, auf dem plattgetreten Schnee in der Anliegerstraße standen und die ersten von uns Raketen steigen ließen, blickte er mich an, schob meinen Schal beiseite und küsste mich lange und innig. Dann ging er zu den anderen Jungs und knallte und lachte, während wir Mädels frierend zusahen und an unserem Sekt nippten.

Das Jahr, das mit einem Kuss begann, war eines, das bestimmt sein sollte von Veränderungen, aber noch mehr bestimmt von einer wilden Verliebtheit, die nicht Grund für die Veränderungen war, sie aber ebenso fürsorglich wie ungestüm begleitete.

Am quälendsten ist die Unsicherheit, das Nicht-Wissen, was wird, vielleicht auch, was war und ob überhaupt noch oder jemals wieder.

Frau A. hat eine Antwort eingefordert und sie bekommen. Es ist keine schöne Antwort, doch meistens wissen wir schon, bevor wir fragen, dass das, was gesagt werden wird, genau das ist, was wir eben nicht hören wollen. Gerade, wenn wir lange warten müssen. Aber wir fragen trotzdem, nicht um des Fragens, sondern um der Gewissheit willen. Um abschließen zu können mit einer Episode im Theaterstück, das unser Leben ist, auf dass die Bühne frei und die Kulisse umgebaut wird für den nächsten Auftritt. Schließlich muss die Geschichte fortgeschrieben werden, wir wollen es, denn wir spielen zwar mit, doch wir kennen das Ende nicht. Das Kuriose ist, dass wir selbst, ohne es zu wissen, die Autoren sind, aber das merken wir immer erst dann, wenn wir straucheln und den Souffleur suchen, den es nicht gibt oder der gerade eingeschlafen ist auf seinem kleinen Stühlchen vor der Bühne und uns deshalb nicht zuflüstern kann, wie wir weiter agieren und welche Stichworte wir unseren Mitspielerin geben sollen, damit diese wiederum Stichworte geben an jene, die ebenfalls Stichworte geben und dem Stück seinen Fortgang schenken, den es ohne uns nicht hätte oder doch.

Unser aller Ziel ist es, fortzuschreiten in dem, was wir tun, was wir sind und was wir sein wollen, in dem, wonach wir streben, manchmal ohne zu wissen, was genau unser Ziel ist und ob wir überhaupt eines haben. Doch wir haben eins, wir alle, jeder Einzelne von uns – nicht immer vor Augen, aber in unserem Herzen. Wir möchten ankommen auf unserer Suche nach Zufriedenheit – einer Zufriedenheit genährt aus der Genugtuung, etwas bewegt und Menschen geliebt zu haben, kurzum: Gelebt zu haben, nicht nur im Großen, sondern auch im Alltäglichen. Wir wollen, und das ist unser Wesen als Existenzen in einer Welt, die, schaut man sie mit der Distanz von Zugvögeln an, keine Individuen kennt – wir wollen unsere Fußspuren hinterlassen, auch auf die Gefahr hin, dass der nächste Schnee sie zudeckt und der nächste Regen sie fortschwemmt. Mindestens einem sollen sie bis dahin den Weg gewiesen haben, mindestens einer soll hineingetreten sein, mindestens einer soll über sie stolpern dürfen, wie sie kleine Gruben bilden in getrockneter Erde.

Und so wünschen wir uns, einmal – mindestens einmal, doch eher scheint es mir, als sei es in jedem Lebensjahrzehnt einmal – mit einem Menschen so intensive Glücksmomente geteilt zu haben, einmal mit bloßen Händen seine Seele berührt zu haben, dass wir in sein Gedächtnis eingebrannt sind, so dass er noch an uns denkt, wenn unsere Halbwertzeit bereits verstrichen ist. Nicht immer gelingt es uns, den anderen von uns zu überzeugen, und dann ist es umso bitterer, wenn er uns bereits von sich überzeugt hat, denn Ungleichheit bringt nichts als Unzufriedenheit, und Unzufriedenheit ist eben genau das Gegenteil jenes Gemütszustands, den wir für uns erstreben.

Zurück aber zur Unsicherheit. Sie birgt immer dann Kraft in sich, wenn sie Neues gebiert und dabei unsere Geduld fordert, und immer dann Schmerz, wenn sie Altes zu Grabe zu tragen wünscht und dabei auf Schweigen stößt. Manchmal sind diese zwei Dinge eins, weil sie die Gelegenheit bieten, dem Theaterstück eine Wendung zu geben, manchmal sind sie nur ähnlich, weil sie lediglich Intermezzi sind, die Gefühle verwirren, uns aber nicht fortschreiten lassen, und manchmal ist das zweite die Voraussetzung für das erste, nur dass wir kaum bemerken, wann das Alte endet und wann das Neue beginnt. Erst, wenn wir der Unsicherheit ein Gesicht geben und sie in das Kästchen unserer Erfahrungen stecken können, wir sie damit ihres Selbst berauben und über sie triumphieren, stellt sich ein Funken der Zufriedenheit ein, der uns später gemeinsam mit anderen Funken Wärme spenden wird.

Wir waren zeitig da. Es war früher Nachmittag, und Gras bewegte sich im Wind auf dem Beton vor dem Rheinstadion.

Wir waren aus dem Sauerland angereist. Düsseldorf war für uns, die wir nur zweimal im Jahr in die nächste Großstadt zum Einkaufen fuhren und auch selbst das generalstabsmäßig planten, Rom. Oder nein: Es war weniger sakral. Es war Paris.

Wir setzten uns in die Sonne auf einen Betonpoller und warteten auf die Toten Hosen. In unserem Rücken fuhren die Wagen der Rheinbahn eine Schleife. Sie wechselten ihre Richtung und kehrten in die Stadt zurück.

Wir legten uns aufs Pflaster und schauten in den Himmel.

Wir waren nicht richtig zusammen. Überhaupt war in unserem Leben im Juli 1997 nichts „so richtig“. Wir waren keine Schüler mehr und noch keine Studenten. Wir hatten keine Wohnung, aber zu Hause wohnten wir auch nicht mehr. Wir waren ein Paar oder eben auch nicht. Freunde sagten über uns, wir würden zueinander passen. Er sagte von uns, wir seien seelenverwandt. Aber es fehlte an Zutrauen – an Zutrauen zum anderen und zu uns selbst.

Als die Tore sich öffneten, betraten wir das Stadiongelände, und er sagte: „Wenn wir uns verlieren, treffen wir uns da vorne.“ Er deutete auf eine Laterne hinter einem Würstchenstand. Ich nickte. Ich hatte nicht vor, ihn zu verlieren. Ich wollte ihn für mich gewinnen, seit Monaten schon wollte ich das. Seit Silvester, dem Abend, an dem wir uns zum ersten Mal und mehr aus Versehen geküsst hatten.

Das Konzert – was kann ich davon erzählen? Es waren die Hosen, es war das 1.000ste Konzert, es war Stimmung, ein Mädchen starb im Publikum, doch ich bekam von alldem nichts mit. Ich beobachtete ihn von der Seite, wie er sang und wie er klatschte. Ich beobachtete mich selbst, wie ich daneben stand, ohne zu wissen, was ich mit mir anstellen sollte.

Wir hatten Tribünenkarten, und als er loszog, um etwas zu trinken zu besorgen, kam er mit zwei Innenraumkarten zurück. Er hatte sie gefunden, sie waren schmutzig und zertreten. Übermütig drückte er mir meine Karte in die Hand, drehte sich um, rief „Komm!“ und verschwand durch den Zaun auf die Holzbohlen des Spielfelds, wo die Menge wogte. Schon bald sah ich ihn nicht mehr. Er war weg, und ich blieb stehen, in der Nähe des Zauns, wo Platz war. Ich sah den Hosen zu, wie sie spielten. Ich blickte mehr auf die Leinwand neben der Bühne als zur Bühne selbst. Die Kamera schwenkte ein ums andere Mal hinunter in die ersten Reihen, und ein ums andere Mal entdeckte ich ihn dort. Er hatte sich vorgekämpft in den Pulk und rockte mit wippendem Kopf und emporgereckten Armen.

Als das Konzert zu Ende und die letzte Zugabe gespielt war, blieb ich dort stehen, wo ich war, am Rande des Innenraums und ließ die Leute hinaus, in der Hoffnung, dass er an mir vorbeiginge und ich ihm am Ärmel ziehen konnte. Doch seit ich ihn das letzte Mal auf der Leinwand gesehen hatte, war er fort.

Der Innenraum war schon fast leer. Auf dem Holz mischten sich Dreck und Staub mit den Hinterlassenschaften der Fans. Plastikbecher mit dem 1.000er-Logo rollten über die Planken. Zertretene, weiße Taschentücher leuchteten matt im Flutlicht. Es war kurz vor Mitternacht. Die Helligkeit des Konzerts war der Helligkeit der Abreise gewichen. Ich fühlte mich allein, wie ich dort stand. Wir hatten gemeinsam feiern wollten, doch er war abgehauen, ohne auf mich zu warten und ohne mich zu fragen, ob ich das wollte. Tagsüber war es warm gewesen, nun fror ich. Ich war müde. Ich weinte.

Ich ging hinaus auf den Platz vor dem Stadion, vorbei an dem Würstchenstand. Dann sah ich ihn dort sitzen. Unter unserer Laterne hockte er mit dem Rücken am Pfosten, die Ellbogen auf den Oberschenkeln. Die Hände hingen hinab, während er in die Gesichter der vorüber ziehenden Menschen blickte.

Er sah mich erst, als ich schon vor ihm stand. Er war verschwitzt und müde. Seine Augen glänzten, seine Haaren waren nass und durchwühlt, seine Jeans dreckig. Er lächelte, sprang auf, umarmte mich und küsste mich. „Da bist Du ja!“ Er küsste mich wieder. Es war der erste Kuss seit Silvester und der erste Kuss überhaupt, der nicht unter einem Vorwand zustande kam.

Das war mein 1.000stes Konzert.

Trotz meiner fortschreitenden Greisenhaftigkeit laden mich die neuen, kleinen Mannschaftskameradinnen zu ihren Partys ein. Als ich am Samstag gegen 21 Uhr die verqualmte Altbauwohnung betrete, ist die Bude bereits voll. Ein bärtiger Typ mit geballter Sozialistenfaust auf seinem Shirt empfängt mich und schlägt mir direkt freundschaftlich auf die Schulter.

„Ich bin Hummel“, sagt er. „Und wer bist du?“
„Ich bin Nessy“, sage ich. „Wo ist denn die Jenny?“ Jenny wird heute 21 und richtet die Feier aus.

„Musste mal gucken“, sagt Hummel und deutet mit der Hand flüchtig in die Wohnung. Er fläzt sich auf ein durchgesessenes Ledersofa, das im Flur vor dem Klo steht. Eine Mehrfachgepiercte mit strenger Ponyfrisur rückt an ihn heran und beknabbert sein Ohr. Ich gucke in das Zimmer links, eine verqualmte Höhle mit Bambusvorhängen. Jungs mit Hornbrillen und Mädels mit Dreadlocks sitzen auf dem Fußboden um einen niedrigen Tisch. Jenny ist nicht dabei. Ein Zimmer weiter stapelt eine Gruppe diverse Utensilien, darunter ein Kamasutra-Buch und Liebeskugeln. Ein Trinkspiel ist in vollem Gange. Jenny ist auch hier nicht dabei.

Rechts die Küche. Auf der Anrichte drei Kartons Spritzen mit grünen, roten und gelben Alkoholika. An den Wänden Werbepostkarten mit lustigen Comics. Auf dem kleinen Balkon eine Zapfanlage. Hier findet die eigentliche Party statt. Hier ist Jenny.

Sie entdeckt mich und fällt mir um den Hals. „Ist ja süüüüß, dass du da bist. Hier hast’n Bier. Hab ich dir schon die Schmiedi vorgestellt?“ Sie zieht eine pummelige Braungelockte in kurzem Rock und Doc Martens an ihre Seite. „Die Schmiedi kommt auch aus’m Sauerland.“

Wir stellen fest, dass wir beide aus demselben Dorf stammen und unterhalten uns über die soziale Bedeutung von Schützenfesten. Dann stellt mir die Schmiedi den Lurchi vor. Lurchi ist überzeugter Bayer, hat schon Kälber mit der Flasche groß gezogen und wohnt seit einem Jahr im Ruhrgebiet.

„Wegen Studium?“ frage ich.
Lurchi verneint. „I hoab nur weg g’wollt.“ Er jobbt jetzt im Kino. „I würd studiern wolln. Aber BWL oder so a kapitalistischer Schmarrn, da hoab I ka Lust net.“ Er wohnt jetzt erstmal bei Schmiedi.

So nimmt der Abend seinen Lauf. Der Lurchi stellt mir die Uli vor, die Uli den Piloten, der Pilot den Schmolli, und vor dem Klo sitzen den ganzen Abend Hummel und die Gepiercte und erzählen dir beim Anstehen, wie oft du schon schiffen warst.

Gegen 1 Uhr ist der Fußboden nicht mehr zu erkennen. Verschüttetes, Heruntergefallenes, Abgeaschtes, Plattgetretenes – alles sammelt sich auf den Fliesen und bildet einen schwarzen Brei. Vor dem Wischen werden sie den Boden einweichen müssen. Bis unter die stuckverzierten Decken sammelt sich dichter, grauer Qualm. Man raucht viel – allerdings nur Tabak.

Gegen 1.30 Uhr kotzt Lurchi aus dem dritten Stock durchs Treppenhaus. Der Schwall lässt keine Etage aus. Die Partygesellschaft reagiert gelassen und solidarisch. Sofort rückt ein fünfköpfiger Trupp aus und wischt Lurchis Bröckchen von Stufen und Geländer.

Ich beschließe, nach Hause zu gehen. Ich habe meine Erfahrungen gemacht. Wenn der Erste kotzt, ist es Zeit für den Abschied – auch wenn die Stimmung noch gut ist.
„Wie kommst’n nach Hause?“ fragt mich Hummel im Flur.
„Mit dem Taxi“, sage ich.
„Boah, krass“, sagt die Gepiercte.
„Wenn du alt bist, ist Busfahren voll aggro“, erklärt Hummel ihr.
Es entbrennt eine Diskussion, ob man links sein und trotzdem Taxi fahren kann.

Am nächsten Tag treffe ich Jenny in der Sporthalle. Sie ist heiser. Gewischt hat sie noch nicht, außer das Treppenhaus ein zweites Mal.

Bei mir gegenüber wohnt die Ketchup-Familie. Sie heißt Ketchup-Familie, weil die Kinder eine ganze Menge Ketchup-Flecken auf ihrem Gesicht und ihrer Kleidung spazieren tragen und weil sie den Eindruck machen, als gäbe es bei ihnen nur Dinge zu essen, zu denen Ketchup passt. Wobei Ketchup natürlich zu allem passt, wenn man Kind ist, aber davon mal abgesehen.

Die Ketchup-Familie ist eine jener Großstadt-Familien, in der zwar keine Kinder verhungern, sie aber auch keine besondere Beachtung finden. So werden die drei Buben der Ketchups, nennen wir sie Marvin, Melvin und Justin, morgens auf die Straße geschickt und erst abends wieder reingeholt. In der Zwischenzeit laufen sie orientierungslos den Bürgersteig entlang, dreschen aufeinander ein, bis einer heult, oder sitzen einfach nur da und graben mit Stöcken in den Blumenrabatten, bis einer der Passanten mit ihnen schimpft.

Marvin, Melvin und Justin haben eine Mama und ein paar Männer, die vielleicht ihre Papas sind. Die Mama hat blond gefärbte Haare und trägt unter ihrem Top einen kleinen Hängebauch von den Schwangerschaften. Sie ist noch keine 30, aber ihre Gesichtshaut ist fahl und ihr Blick stumpf. Manchmal schubst sie die Kinder hinaus und ich sehe sie an der verglasten Tür des Mehrfamilienhauses, eine Kippe in der einen Hand, ihr Handy in der anderen. Es gibt Tage, da kehrt sie mit ihren drei Buben von einem unbekannten Ort zurück, die Kinder laufen vor ihr her, schlagen sich mit gefundenen Ästen und schreien „Fick dich!“ durch die Straßenschluchten, während sie SMS tippt.

Wenn einer der Papas vorfährt, heften sich Marvin, Melvin und Justin an seine Beine, kaum dass er aus dem Auto gestiegen ist. Mit fahrigen Bewegungen fährt seine Hand über die Köpfe der Kinder. Aber eigentlich will er zur Ketchup-Mama, die die Treppe hinunter kommt, weil sie das Jubelgeschrei der Buben gehört hat. Die beiden gehen ins Haus, und während sie in der Wohnung sind, klingeln die Kinder vor der verglasten Haustür so lange, bis der Papa hinunter kommt und sie ausschimpft.

Seit einigen Wochen haben Marvin, Melvin und Justin einen neuen Freund, den Mann mit der Geige. Der Mann mit der Geige ist ein großer Asiate mit vollem, fast langem Haar und feinen Gesichtszügen. Er wohnt in einem der Appartments in der Nachbarschaft, die auf Zeit vermietet werden. Jeden Tag steht er an der Straße, den Geigenkasten über der Schulter, die Hände in den Taschen seiner Hose vergraben und wartet auf seinen Chauffeur. Es dauert immer nur wenige Minuten, dann kommen die Ketchup-Kinder und umschwirren ihn wie kleine Motten das Licht. Sie lieben ihn, denn er kniet sich hin, wenn er mit ihnen spricht, fragt nach, wenn sie ihm etwas erzählen und berührt sie vorsichtig am Arm, wenn er mit ihnen lacht. Jedesmal, wenn der Mann mit der Geige bei seinem Chauffeur ins Auto gestiegen ist, laufen die Ketchup-Kinder winkend neben dem Wagen den Bürgersteig entlang, bis er um die Ecke und auf die Hauptstraße gebogen ist. Dann gehen sie gesenkten Hauptes wieder zurück, setzen sich an ein Blumenrabatt und schlagen mit Stöcken auf die Pflanzen ein.

Wir haben alles dabei. Er hat es eingepackt. Ich habe nur ein paar Pinsel in eine Plastiktüte gesteckt, meine Malerklamotten und die Schlüssel. Schweigend sind wir hergefahren. Er hat mich abgeholt, ich bin ins Auto gestiegen. Scheu, mit zusammengekniffenen Lippen und nachtverquollenen Augen haben wir uns in dunstigem Licht einen guten Morgen gewünscht. Doch es war nur eine Floskel, wie so viele unserer Worte, die wir einander in den vergangenen Wochen gesagt haben, nur Floskeln gewesen sind.

Nach einer Stunde Fahrt steigen wir aus dem Wagen, Eimer mit Farbe, meine Tüte mit Pinseln und Klamotten zum Wechseln am Arm. Der Schlüssel gleitet ins Schloss der Haustür, an deren Holz der Lack absplittert. Mit einem Quietschen öffnet sie sich in den Flur mit den Steinstufen, die wir hinauf in die Hochparterre gehen, in der wir gemeinsam gewohnt haben. Aus unserem Briefkasten, der nicht mehr unser Briefkasten ist, sondern nur noch der Briefkasten einer Wohnung, in der einmal zwei Menschen gewohnt haben, die nach dem heutigen Tag wieder eigene Briefkästen haben werde, hängen Werbeprospekte. Ich klemme mir meine Malerkleidung unter den Arm, fingere sie heraus und werfe sie auf den Stapel Altpapier, der neben der Haustür liegt.

Ein Tag ist eingeplant, um Monate des Zusammenlebens überzupinseln. Wir betreten die Wohnung, an deren Wänden Löcher und Schleifspuren Ereignisse nachzeichnen.

„Ich mache die Küche. Du kannst ja im Schlafzimmer anfangen“, sagt er und nimmt mir die Tüte mit den Pinseln und den Eimer Farbe aus der Hand. Es ist das Erste, das er seit „Guten Morgen“ zu mir sagt. Es klingt seltsam fremd aus diesem vertrauten Mund, der mich so viele Male geküsst hat hier in dieser Wohnung, die nun so leer und verlassen ist wie wir. Meine Schritte hallen in den Räumen wider. Ich ziehe mich im Schlafzimmer um, in einer Ecke, die er vom Flur aus nicht einsehen kann. Ich schäme mich vor ihm, obwohl er mich so viele Male nackt gesehen hat. Doch heute ist es ein anderes Nacktsein, kein körperliches, die schutzlose Begegnung zweier Verwundeter, die einander nicht noch mehr verletzen möchten.

Es ist bereits dunkel, als wir fertig sind. Es riecht nach Kopfschmerzen und Neuanfang, als wir die Tür hinter uns zuziehen und ein letztes Mal abschließen, eine blaue Tüte Müll, einen leeren Eimer Farbe, gebrauchte Pinsel und beschmutzte Kleidung in den Kofferraum legen und über die Autobahn vor unserer gemeinsamen Vergangenheit davon fahren. Der Himmel ist in ein sattes Blau gefärbt. In der Ferne rauchen Schlote, und ich gebe mir Mühe, nicht zu weinen. Er fährt, während ich aus dem Beifahrerfenster blicke und das Radio Mittelwelle 102,2 spielt. Es will mir nicht recht gelingen, die Tränen zurückzuhalten, aber es gelingt mir wenigstens, nicht zu schluchzen, und so lasse ich sie leise meine Wangen hinablaufen und wische mir die Nase mit meinem Handrücken ab.

Nach einer Stunde setzt er mich vor meiner neuen Wohnung ab, in der eine Matratze auf der Erde liegt und ein Fernseher auf dem Teppich steht. Er steigt aus, als ich aussteige, doch er kommt nicht mit zum Haus, sondern legt nur die angewinkelten Arme auf Autotür und Wagendach. Ich nehme meine Sachen aus dem Kofferraum und spüre, wie er mir nachblickt, als ich zur Tür gehe und sie aufschließe. „Alles Gute“, sagt er in diesem Moment, in dieser Situation, in der er sonst vielleicht „Bis morgen“ gesagt hätte. Ich drehe mich um und sehe ihn noch einmal kurz an, wie er dasteht, im Licht einer Straßenlaterne eingeklemmt in der geöffneten Fahrertür. Dann gehe ich ins Haus, nehme mit der freien Hand Post aus meinem Briefkasten und schließe die Tür.



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