Es gibt etliche Anzeichen dafür, dass Eltern älter werden.
Sie kennen das vielleicht: Sie besuchen Ihren Vater und Ihre Mutter, nehmen sich ein Getränk aus dem Kühlschrank und sehen beiläufig, dass die Marmelade schon Einiges überm Datum ist. Sogar mit flauschigem Pelz, grünen Einlagerungen und allem Zipp und Zapp. Die Reaktion: „Echt jetzt? Habe ich doch heute noch gegessen!“
Vorbote ist allerdings zunächst die Midlife-Crisis. Männer entsinnen sich ihres 1967 während des 18-monatigen Wehrdienstes erlangten Motorradführerscheins, verkloppen ihre Münzsammlung, kaufen sich eine Harley und fahren damit stotternd, das Herz voller Erinnerungen, bis an die Atlantikküste. Frauen tun sich währenddessen zu Grüppchen zusammen, besteigen ein Hurtigrutenschiff in Richtung Lofoten, stöhnen bei fünf Grad Außentemperatur über Hitzewellen und lästern 14 Tage lang über die plötzliche Jungenhaftigkeit ihres Mannes. Sollten Sie Ihren Eltern gegenüber Besorgnis über ihr Reisefieber äußern, kontern diese mit Worten wie: Wer wisse schon, wie lange sie das noch könnten, sie sähen täglich in Todesanzeigen, dass die Einschläge näherkämen und das letzte Hemd habe schließlich keine Taschen.
Das profanste körperliche Anzeichen für das gestiegene Lebensalter Ihrer Erzeuger, sozusagen Level Eins, ist allerdings die Lesebrille. Zunächst sind die elterlichen Arme noch lang genug – und mal ehrlich, wer will schon so genau wissen, welche Nebenwirkungen das Bluthochdruck-Medikament hat. Dann kaufen sie im Supermarkt heimlich eine Lesehilfe. Aber altersblind sind sie deshalb noch lange nicht! Sonst müssten sie ja zum Optiker.
Irgendwann führt aber kein Weg mehr an einer professionellen Vermessung der Sehkraft vorbei; der Optiker empfiehlt zudem dringlich einen Besuch beim Augenarzt – „In Ihrem Alter sollten Sie sich regelmäßig auf grauen Star untersuchen lassen.“ Ihre Eltern werden Ihnen später empört von diesem Wortwechsel berichten.
Die Lesebrille hat es nun aber an sich, ständig dort zu sein, wo ihr Träger nicht ist („Wo hab ich sie nur? Ich hatte sie doch eingesteckt!“) – und so kommt es dazu, dass Sie Ihren Eltern ab und an etwas vorlesen müssen. Sie tun das sehr pietätvoll und mit einer selbstverständlichen Non-Chalance, bloß kein Gewese darum machen, das könnte den Vater ja kränken – wo er sich nach seiner letzten Harleytour durch Nordfrankreich doch gerade wieder wie 59 fühlt, trotz der Rückenschmerzen.
Neulich saß ich also mit meinem Vater in einem Restaurant, als er mal wieder seine Brille nicht dabei hatte. Vielleicht hatte er sie im Büro vergessen oder auf dem Sofatisch neben der Fernsehzeitung. Vielleicht auch im Bad – „Nicht mal mehr einen Pickel ausdrücken kann ich mir ohne das Ding!“ Er regte sich ein bisschen auf.
Jedenfalls musste ich ihm die Speisekarte vortragen – eine sehr lange Speisekarte. Mein Vater konnte mir leider nicht einmal eine geschmackliche Tendenz nennen, in die er sich an diesem Abend bewegen wollte. Ich las also und las und schaute ab und an zu ihm auf, ob sich etwa bei den Fischgerichten ein Ausdruck des Missfallens bei ihm einstellen möge – dann könnte ich diesen Teil der Karte ja vielleicht etwas abkürzen. Allerdings: Nichts dergleichen geschah. Stattdessen rutschte er immer mehr mit dem Oberkörper nach vorne, beugte sich über die Tischdecke, streckte das Kinn vor, verzog den Mund zu einer Grimasse, rollte die Augenbrauen in Richtung Nasenspitze, hielt schließlich die Hand hinters Ohr und sagte: „Tut mir leid – was war das letzte? Ich verstehe dich so schlecht.“
Ich rief also „FORELLE MÜLLERIN MIT SALZKARTOFFELN UND GURKENSALAT!“ über den Tisch und wusste, dass wir in diesem Moment Level Zwei erreicht hatten.