Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Wir waren zeitig da. Es war früher Nachmittag, und Gras bewegte sich im Wind auf dem Beton vor dem Rheinstadion.

Wir waren aus dem Sauerland angereist. Düsseldorf war für uns, die wir nur zweimal im Jahr in die nächste Großstadt zum Einkaufen fuhren und auch selbst das generalstabsmäßig planten, Rom. Oder nein: Es war weniger sakral. Es war Paris.

Wir setzten uns in die Sonne auf einen Betonpoller und warteten auf die Toten Hosen. In unserem Rücken fuhren die Wagen der Rheinbahn eine Schleife. Sie wechselten ihre Richtung und kehrten in die Stadt zurück.

Wir legten uns aufs Pflaster und schauten in den Himmel.

Wir waren nicht richtig zusammen. Überhaupt war in unserem Leben im Juli 1997 nichts „so richtig“. Wir waren keine Schüler mehr und noch keine Studenten. Wir hatten keine Wohnung, aber zu Hause wohnten wir auch nicht mehr. Wir waren ein Paar oder eben auch nicht. Freunde sagten über uns, wir würden zueinander passen. Er sagte von uns, wir seien seelenverwandt. Aber es fehlte an Zutrauen – an Zutrauen zum anderen und zu uns selbst.

Als die Tore sich öffneten, betraten wir das Stadiongelände, und er sagte: „Wenn wir uns verlieren, treffen wir uns da vorne.“ Er deutete auf eine Laterne hinter einem Würstchenstand. Ich nickte. Ich hatte nicht vor, ihn zu verlieren. Ich wollte ihn für mich gewinnen, seit Monaten schon wollte ich das. Seit Silvester, dem Abend, an dem wir uns zum ersten Mal und mehr aus Versehen geküsst hatten.

Das Konzert – was kann ich davon erzählen? Es waren die Hosen, es war das 1.000ste Konzert, es war Stimmung, ein Mädchen starb im Publikum, doch ich bekam von alldem nichts mit. Ich beobachtete ihn von der Seite, wie er sang und wie er klatschte. Ich beobachtete mich selbst, wie ich daneben stand, ohne zu wissen, was ich mit mir anstellen sollte.

Wir hatten Tribünenkarten, und als er loszog, um etwas zu trinken zu besorgen, kam er mit zwei Innenraumkarten zurück. Er hatte sie gefunden, sie waren schmutzig und zertreten. Übermütig drückte er mir meine Karte in die Hand, drehte sich um, rief „Komm!“ und verschwand durch den Zaun auf die Holzbohlen des Spielfelds, wo die Menge wogte. Schon bald sah ich ihn nicht mehr. Er war weg, und ich blieb stehen, in der Nähe des Zauns, wo Platz war. Ich sah den Hosen zu, wie sie spielten. Ich blickte mehr auf die Leinwand neben der Bühne als zur Bühne selbst. Die Kamera schwenkte ein ums andere Mal hinunter in die ersten Reihen, und ein ums andere Mal entdeckte ich ihn dort. Er hatte sich vorgekämpft in den Pulk und rockte mit wippendem Kopf und emporgereckten Armen.

Als das Konzert zu Ende und die letzte Zugabe gespielt war, blieb ich dort stehen, wo ich war, am Rande des Innenraums und ließ die Leute hinaus, in der Hoffnung, dass er an mir vorbeiginge und ich ihm am Ärmel ziehen konnte. Doch seit ich ihn das letzte Mal auf der Leinwand gesehen hatte, war er fort.

Der Innenraum war schon fast leer. Auf dem Holz mischten sich Dreck und Staub mit den Hinterlassenschaften der Fans. Plastikbecher mit dem 1.000er-Logo rollten über die Planken. Zertretene, weiße Taschentücher leuchteten matt im Flutlicht. Es war kurz vor Mitternacht. Die Helligkeit des Konzerts war der Helligkeit der Abreise gewichen. Ich fühlte mich allein, wie ich dort stand. Wir hatten gemeinsam feiern wollten, doch er war abgehauen, ohne auf mich zu warten und ohne mich zu fragen, ob ich das wollte. Tagsüber war es warm gewesen, nun fror ich. Ich war müde. Ich weinte.

Ich ging hinaus auf den Platz vor dem Stadion, vorbei an dem Würstchenstand. Dann sah ich ihn dort sitzen. Unter unserer Laterne hockte er mit dem Rücken am Pfosten, die Ellbogen auf den Oberschenkeln. Die Hände hingen hinab, während er in die Gesichter der vorüber ziehenden Menschen blickte.

Er sah mich erst, als ich schon vor ihm stand. Er war verschwitzt und müde. Seine Augen glänzten, seine Haaren waren nass und durchwühlt, seine Jeans dreckig. Er lächelte, sprang auf, umarmte mich und küsste mich. „Da bist Du ja!“ Er küsste mich wieder. Es war der erste Kuss seit Silvester und der erste Kuss überhaupt, der nicht unter einem Vorwand zustande kam.

Das war mein 1.000stes Konzert.

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