Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Ich denke so: „Mensch, ist das kalt am Bein.“

Es ist ein Morgen, wie Morgende sind, die schläfrig beginnen, aber in fordernde Tage münden. Der Wecker murmelt, ich drücke ihn aus. Nochmal ins Kissen kuscheln. Neun Minuten Schlummertaste.

Uff. Neues Murmeln. WDR5 Morgenecho. Wir werden alle sterben, auch die, die keine Eier essen. Ich drücke die Taste.

Murmelmurmel. O-ha. Portugal, ein Euro fressendes, neues Griechenland. Schlimm. Taste. Der Schlaf heute: wohlig wie Kakao mit Sahne.

Endlich! Gute Nachrichten: In der Schweiz sind die Schienen beheizt. Toll.
Blick zur Uhr.

Mist.
Mist, Mist, Mist.
Ich werfe die Decke fort.

Rein ins Bad.
Pinkeln.
Duschen.
Deo.
Zopf.
Zähne.

Alle guten Hosen sind ungebügelt, also rein in die alte, aber glatte.
Schnell einen ACE-Saft.
Jacke und Weste.
Fahrrad raus. Rauf. Radeln.

Erst die zwei Kilometer lange Gerade. Dann den Berg hoch. An der Berufschule vorbei, dann der Betriebshof, der Fußballplatz, auf die große Kreuzung zu. Ich denke so: „Mensch, ist das kalt am Bein.“ Und greife mir hinten an den Oberschenkel.

Oh. Uih.

Ich halte an, auf einem Rollsplit-panierten Randstreifen vor einer roten Ampel, drehe den Rumpf und schaue meinen Rücken hinunter. In der Jeans: ein Riss, die komplette Pofalte entlang, vom Schritt bis zur Außenseite des Schenkels.

Ein Golf3 hält neben mir. Die Seitenscheibe summt  herunter.  „Dein Hintern ist nackt“, sagt ein  Typ mit dicker Nase, „ich dachte, ich sag’s dir besser.“ Die Seitenscheibe summt wieder hoch. Bridget Jones, wie sie die Feuerwehrstange hinunterrutscht. Ich überlege, ob mein Slip okay ist.

Ich fahre fünf Kilometer zurück nach Hause, der Po ein rotwangiger Apfel. Ich verschiebe meinen ersten Termin, ziehe mir eine neue Hose an und steige vorsichtig, ganz vorsichtig, langsam, mit engem Schritt, zurück auf den Fahrradsattel. Mein Hand hält Wache am Schenkel.

Doch die Welt ist in Ordnung. Der restliche Tag wird super.

Wer überlegt, eine Familie zu gründen, sollte dieser Tage einen Ausflug machen.

„Leon, nicht den Menschen mit dem Wagen in die Beine fahren.“
„Lea-Sophie, nicht auf das Regal klettern. Das kippt. Nicht auf das … Ich hab’s dir doch gesagt!“

Es ist Knut. Bäumchen raus, Schnäppchen rein. Da kann man nach Feierabend kurz mal zu IKEA fahren, ein paar Kleinigkeiten kaufen, Köttbullar essen. Das gefällt auch den Kindern.

„Pia, nimm bitte die Gabel.“
„Nicht mit dem Ketchup an Mamas Hose, Fritz. Nicht mit dem … Fritz!!“

Manchmal gibt es das Kind noch nicht. Nur in der Frau. Sie watschelt dann durch die Gänge, rotwangig und mit dem hormonumwölktem Blick der Nestbauerin, ergreift Kinderbettchen, Kinderkommödchen und Kinderstühlchen und ruft: „Schau mal! Ist das nicht süß? Das ist doch süß, oder nicht?“ Sie schaut sich zum Erzeuger um, der sich mit blauer Tüte über der Schulter hinter ihr herschiebt und nickt. Ab und an bläst er, Anspannung ausatmend, seine Backen auf. Zweimal trifft man ihn noch wieder: vor der Toilette am Restaurant und vor der Toilette am Ein- und Ausgang.

Dort, hinter der Kasse, sind Mutti und Vati am Ende fix und alle. Er schiebt den Wagen mit den Kartons, Vasen und Teelichtern; lehnt sich gegen das Gewicht der Möbel, bugsiert sie mit leichter Rechtsauslage zur Drehtür, bleich im Gesicht, ein dünner Schweißfilm bedeckt seine Stirn. Sie folgt ihm, die Brauen zur Nasenwurzel gezogen, die Lippen zu einem Schlitz gepresst. Im rechten Arm hält sie eine Grünpflanze, in der linken Hand den Jackenärmel von Finn-Luca, der garstig, mit vorgeschobenem Kinn, zum Hot-Dog-Stand schaut. Wortlos gehen sie hinaus, Vater hievt die Möbel in den SUV.

„Ich habe dir gesagt, dass es nicht reinpasst.“ (Sie)
„Natürlich passt das. Ich muss es nur mal drehen.“ (Er)

Sie schnallt den übermüdeten, dem Hot Dog nachtrauernden Finn an.

„Möchtest du nicht mal das Kind beruhigen?“ (Er)
„Wenn du es besser kannst, mach es doch selbst.“ (Sie)

Die Türen werden ein bisschen fester zugeschlagen als nötig. Dann geht es ab nach Hause. Beide freuen sich auf morgen Abend, wenn sie alles aufbauen und es sich schön machen.

„So ist das halt: Mal biste der Hund, mal biste der Baum.“
Sagte zuletzt ein Arbeitskollege, achselzuckend.

Seit heute ist es gewiss: Das Leben wiederholt sich tatsächlich in spiegelverkehrten Szenen. Im Beruf. In der Liebe.
Und im Nettoghetto mit dem Thema „Wirsing„.

Am Gemüsestand.
Typ: Is dat Wirsing? 
Nessy: Nee, das ist Chinakohl.
Typ: Und das?
Nessy: Das ist Lollo bionda. Nimm den hier. [deutet auf Wirsing]
Typ: Jau. Danke.

In der Kassenschlange.
Typ: Du arbeitest gar nicht hier?
Nessy: Nee.
Typ: Machste aber gut.
Nessy: Deshalb ja.

Alle Crosstrainer sind besetzt.

Es ist Sonntag, der erste wache Moment nach dem Neujahrskoma und offizieller Beginn guter Vorsätze. Ich betrete die Trainingsfläche und sehe sofort, wer zum ersten Mal hier ist.

Die Männer, in der Mitte leicht untersetzt, sind oftmals nicht einmal dick, aber auf eine Weise nicht trainiert, dass ihre Schultern herabhängen und ihre dünnen, weißen Beine wie brüchige Äste aus abgetragenen Shorts staken. Sie werfen sich mit ungestümem Elan auf die Laufbänder, stellen Programme wie „Cross Hill“ oder „Himmalaya“ ein, rennen los und schnaufen sich schweißdurchtränkt durch eine schmerzhafte halbe Stunde.  Andere wiederum, diejenigen, die den Nanga Parbat bereits bestiegen haben, sitzen gebeugt, ihr Baumwollshirt ein nasser Lappen, in den Kraftmaschinen und stemmem unter vernehmlichem Ächzen tonnenschwere Scheiben.

Frauen betreten nur zu Zweit die Trainingsfläche, angetan mit Yogahosen aus dem Tchibokatalog und auch sonst ausstaffiert mit allem, was notwendig ist: Fitnessschuhe, Schweißbänder und Klimashirts mit Stützfunktion. Zunächst bewundern sie sich gegenseitig, dann die Trainingsfläche, die vielen Fernseher, den ganzen saubergefeudelten Sportkosmos, der Körper- und Wohlgefühl atmet. Ein wenig stehen sie herum, als warteten sie, dass der Sportsgeist sie schwängere. Dann nehmen sie sich einen der Stepper vor, studieren das Display, drücken Knöpfe, beratschlagen sich, drücken weitere Knöpfe und legen los, vorsichtig, sie möchten nichts kaputtmachen, nicht an der Maschine und nicht an sich selbst. Mit der Verve der Hellgelben Erdhummel, ein wenig taumelnd, aber grundsätzlich fröhlich, hüpfen sie durch das Programm, unterhalten sich angeregt und kichern über den Herrn unter dem Eurosport-Fernseher, der schweißspritzend und armrudernd die letzten Meter der Rupalwand hinaufrennt.

Beim Hinausgehen sehe ich ihn an der Theke sitzen, einen Eiweißshake in der zitternden Hand. „… in einer halben Stunde …“, sagt er in sein Handy, „ja … nein, war super … nö, nö, nicht so anstrengend … ja … ja … für mich nicht so viele Kartoffeln …“

Die Damen sind noch in der Sauna.

Zuletzt gelesen in 2010:

Kluun. Mitten ins Gesicht
Ein Mann begleitet seine Frau durch die Krebskrankheit – bis zum Tod. Erst denke ich: Himmel, was ein pubertäres Arschloch. Am Ende habe ich geheult. Das emotional stärkste Buch des Jahres 2010.

Tom Rachmann. Die Unperfekten
Die Geschichte vom Niedergang einer internationalen Zeitung in Rom. Ein Sammlung kleiner Erzählungen über den Korrespondenten, den Nachruf-Schreiber, die Chefredakteurin, den Verleger – und eine Handvoll weiterer Akteure. Dicht, menschlich, eindringlich, überraschend, desillusionierend. Das eindeutig beste Buch des Jahres 2010.

Robert Seethaler. Die weiteren Aussichten
Ein Mann, sein Fisch und seine Mutter. Dann tritt Hilde in sein Leben. Eines der schlechtesten Bücher des Jahres 2010: Eine Geschichte, die nicht trägt, und ein Erzählstil, der nicht über Hauptsätze hinauskommt.

Vorsätze für das I. Quartal 2011:

Falcones, Franzen, Palma und endlich mal der Kehlmann

Aktuelles Projekt:

Roger Willemsen: Die Enden der Welt

Auf dem Nachtschrank

„Ich dachte damals auch, wenn man reise, bis man irgendwo einmal das Ende der Welt berührt zu haben glaubt, dann erreicht man vielleicht auch einen neuen, andersartigen Zustand des Ankommens. (…) Könnte es nicht sein, dass nicht die Reisenden sich bewegen, sondern dass vielmehr die Welt unter ihren Füßen Fahrt aufnimmt, und sie sich gleich bleiben?“

Dieses Buch lese ich mit einem Bleistift in der Hand, denn es ist ein poetisches Werk voller Sätze, die ich gerne anstreichen möchte. Eigentlich ist mir Roger Willemsen niemals groß aufgefallen, nicht positiv, nicht negativ, es gibt ihn einfach und er macht sein Ding. Während ich jedoch dieses Buch lese, hege ich den Wunsch, die Reisen gemeinsam mit ihm unternommen zu haben, so passioniert, aber auch so gelassen berichtet er von seinen Enden der Welt.

Weil es so gut zum Jahreswechsel passt, ein zweites Zitat:

„Während ich ihn beobachte, die Augen ohne Reflex, die bewegungsarme Mimik und Gestik, das verhuschte Lächeln, das sich in seinem Gesicht verläuft und irgendwo versickert, denke ich:
Alle Fragen haben es zur Antwort gleich weit.“

Einen guten Start ins neue Jahr.

Am beliebtesten ist ja der Vorsatz: Ich will abnehmen.

Besonders unter Frauen. Und dabei besonders unter jenen Frauen, die nichts mehr abzunehmen haben, die nur meinen, sie trügen, auch wenn sie nichts mehr tragen, Reiterhosen – die jetzt auch endlich ausgezogen werden müssen.

Wissen Sie, ich bin nicht unförmig. Nicht, wenn Sie Unförmigkeit als eine völlige Konturenlosigkeit, als ein Überschwappen aus dem eigenen Körper definieren. Bei mir ist alles am Platz. Es hängt vielleicht etwas tief, aber herrgott, immerhin hängt es noch, stolz und leidlich straff, und baumelt noch nicht wie eine Mandarine im Strumpf.

Ich bin also soweit okay, nur, kämen schlechte Zeiten, könnte ich mich eine Weile aus mich selbst heraus ernähren. Ich wäre für zwei Monate mein eigenes Futtersilo. Das hat etwas für sich, denn, sehen wir es einmal so: Selbst wenn ich wollte – ich könnte meine Kekse in dem Fall gar nicht mit anderen teilen.

Deshalb habe ich zum kommenden Jahreswechsel keine Vorsätze.
Auch nicht, abzunehmen.

Ich könnte mir ein Haustier anschaffen.
Damit sich jemand auf mich freut, wenn ich heim komme.

Großtiere kommen allerdings nicht in Frage. Sie fressen zu viel, und wenn sie erkranken, dann an Riesentumoren, die Tierarztkosten im Umfang eines Einfamilienhauses verursachen.

Vielleicht ein Hund, ein kleiner. Mit dem ich gut in die Ecken komme. Allerdings: dieses Unterwürfige. Und das Gassigehen – hier in der Stadt mit Plastiktüte, um die Häufchen einzupacken und sie bis zum nächsten Papierkorb rhythmisch neben dem Körper zu schlenkern. Das kommt nicht in Frage.

Vielleicht eine Katze. Katzen sind reinlich. Aber ich könnte sie nicht hinaus schicken, in den Wald, zum Spielen und Toben. Denn hier gibt es keinen Wald. Hier ist Ruhrgebiet-City. Hier gibt es nicht einmal einen Baum. Vielleicht einen Kratzbaum, in meiner Wohnung – den könnte ich ihr kaufen. Aber Menschen, die Kratzbäume gestalten, gestalten auch Zimmerspringbrunnen und Porzellanbabypuppen. Ein Design-Armageddon.

Vielleicht ein Fisch. Na gut – so ein Fisch ist natürlich wenig empathisch, gibt nicht so viel zurück. Ein Fisch ist auch eher ein Einmalkuschler: einmal liebevoll beim DVD-Abend bekuschelt, in trauter Zweisamkeit auf dem Sofa, macht er gleich den Schirm zu, der kleine Asthmatiker. Aber es gibt Steine, die man ins Aquarium legt und die über Wochen Futter abgeben. Braucht man sonst nix machen. Tolle Sache.

„Ich hatte auch mal ein Haustier“, erzählt die Freundin. „Damals, als ich noch nicht mit Ette zusammen war. Ein Meerschwein. Als es dann starb, habe ich eine Woche später gleich einen Typen kennengelernt.“

Ich brauche also ein kurzlebiges Tier.
Hausmaus. Fliege.

Genau. Das isses.

Ich sitze bei Unsaomma im Besucherstuhl.

Die Heizung bollert und gluckert und faucht. Die Blätter des Drachenbaums, der sich mit spirreligen Ästchen über die Brüstung der Fensterbank lehnt, flattern in der aufsteigenden Hitze. Die Weihnachtspyramide daneben dreht wilde Kreisel – ohne dass eine Kerze brennt.

„Is‘ kalt hier, woll?“ fragt Unsaomma.
„Nee“, sage ich.
„Was?“
„Es ist sehr warm.“
„Was?“
„Warm! Hier!“

Unsaomma klemmt, ein bisschen frostig, ein bisschen trotzig, ihre Hände unter den Achseln fest und lässt ihren Kopf auf die Brust sinken. Es ist 16 Uhr, und zuvor war schon die Tante zu Besuch. Ein Tag ohne Mittagsschlaf ist für Unsaomma ein schlechter Tag.

Ich lasse meinen Blick über die Fotos an den Wänden schweifen. Die Familie versammelt sich in trauter Reihung. Neben dem Nachtschrank der kleine Enkel, damals eine raupenhafte Frühgeburt von 1000 Gramm. Daneben der Onkel mit nie wieder erlangter, hendrix-hafter Lockenpracht. Daneben die Schwiegertochter mit ihrem Bordercollie „Giselle“, man kann die Zwei kaum auseinanderhalten. Daneben ich, ein pausbäckiges Kleinkind vor einer braunmelierten Leinwand. Daneben – ich blicke zur Omma.

„Omma, gehören die jetzt zur Familie?“
„Was?“
„Ge-hö-ren die zur Fa-mi-li-e? Ne-ben mir!“ Ich deute mit dem Finger.

Dort hängen in einem goldenen Rahmen, inmitten der Verwandtschaft, zwischen der kleinen Nessy und dem Irokesencousin, als gehörten sie zur Schar der Enkelkinder dazu: Kronprinzessin Victoria und Prinz Daniel.

Unsaomma hebt den Kopf von der Brust, blickt zur Wand, blickt zu mir und sagt: „Ich hab‘ die doch so gern, woll.“



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