Sozialerhebungen sagen:
Die Herkunft entscheidet, ob ein Kind studiert. Von 100 Akademikerkindern studieren 71. Von 100 Nicht-Akademikerkindern studieren nur 24. Ich bin eines dieser 24.
Jetzt, im Nachhinein, ist meine Familie sehr stolz, dass ich studiert habe. Und noch mehr, dass ich dieses Doktordings gemacht habe.
Nach der Schule, zu dem Zeitpunkt, wenn andere wissen, was das Beste für einen ist, fragte meine Verwandtschaft allerdings zunächst: „Was willst du denn mit einem Studium?“ – „Willst du nicht erstmal eine Lehre machen? Dann hast du was in der Hand.“ – „Wir haben auch alle erstmal Ausbildung gemacht. Da ist doch nicht Schlechtes dran!“ – „Denkst du etwa, du bist was Besseres?“
Es war nicht leicht, solche Aussagen auszuhalten, als junges Mädchen.
Meine Eltern haben mich immer unterstützt, konnten mir aber ab der achten Klasse nicht mehr helfen. Mathe, Sprachen – sie stießen an Grenzen. Mit Beginn des Studiums begann noch einmal ein neuer Abschnitt, denn hier war es nicht nur das Fachliche, das sie nicht kannten, sondern auch die Lernkultur.
Natürlich schreibt auch ein Soziologe seinem Sohn, der Physik studiert, nicht die Klausuren. Aber er hat ein Verständnis davon, was es heißt zu studieren. Dass dasitzen und denken auch Leistung hervorbringt. Er weiß, wie man wissenschaftlich arbeitet. Was es bedeutet, eigene Untersuchungen durchzuführen. Und dass eine wissenschaftliche Arbeit etwas anderes als ein Schulaufsatz ist.
Meine Eltern haben sich immer für mich interessiert. Sie lasen sich jede meiner Hausarbeiten von vorne bis hinten durch, sogar spröde, mit minimaler Mühe zusammengezimmerte Werke. Warum mein Studium so lange dauerte, war trotzdem oft ein Thema – obwohl ich in der Regelstudienzeit studiert habe. „Wie viele von diesen Scheinen musst du noch machen?“ – „15, Mama.“ – „Und wie viele machst du dieses Semester?“ – „Acht.“ – „Warum nicht alle 15?“ – „Das geht nicht, Mama.“ – „Lehrjahre sind keine Herrenjahre.“ – „Acht Scheine sind echt viel. Das sind drei Klausuren und fünf Hausarbeiten.“ – „Und diese Vorlesung, die du noch belegen musst?“ – „In das Seminar bin ich nicht reingekommen.“ – „Bist du wieder nicht früh genug aufgestanden?“
Ich hatte nie ein Stipendium. Während des Studiums hatte ich bisweilen fünf Jobs: ein paar Stunden abends in der Woche, ein paar weitere woanders am Wochenende, dazu mittwochsnachmittags zwei Stunden Nachhilfe geben, donnerstags als Tutorin an der Uni arbeiten und während der Semesterferien Messestände zusammenbauen.
Natürlich habe ich Bafög beantragt. Ich füllte 20 Formblätter aus und beantragte es. In meinem besten Semester bekam ich 160 Mark, in meinem schlechtesten zwölf. Keine Ahnung, wie es berechnet wird – meine zu wohlhabenden Eltern konnten mir jedenfalls nur die Miete für meine Studentenbutze zahlen.
Auch meine Diss habe ich neben dem Job geschrieben. Die meiste Zeit lang neben einer vollen Stelle. Nur im vergangenen Jahr habe ich für eine Weile meine Arbeitszeit reduziert, weil ich es anders nicht hingekriegt hätte.
Sagen Sie ruhig, es sei eigene Dummheit, dass ich kein Stipendium beantragt habe, denn das stimmt. Aber mir war zum entscheidenden Zeitpunkt nicht bewusst, dass ich es wert sein könnte, gefördert zu werden. Denn: „Wer Geld will, muss arbeiten“, hieß es bei uns zu Hause immer. Hinzu kam: Die Unis, an denen ich war, schwiegen allesamt sehr ausführlich, wenn es um Förderung ging. Das ist natürlich keine Entschuldigung für fehlende Eigeninitiative. Aber es ist trotzdem ein Grund.
Wenn ich über mein Unileben nachdenke oder wenn ich an andere Doktoranden denke, die ich in Kolloquien traf, verstehe ich, welche Vorteile Akademikerkinder haben: Es sind die Kultur, die Sozialisation, das Selbstverständnis, die alles leichter machen. Auch die geringeren Sorgen um das finanzielle Drumherum – aber das ist zweitrangig. Es ist das weniger an Kämpfen, das sie ausfechten müssen. Das alles erleichtert die Entscheidung für ein Studium – und das Durchhalten.
Aber eins ist auch klar: Ich möchte nichts missen. Keinen Job, keine Kämpfe, keine Durststrecken. Denn inzwischen weiß ich: Was früher mein Nachteil war, ist heute mein Vorteil.