Begegnungen | Wir gehen im Park spazieren, der Reiseleiter und ich, ein botanischer Garten. Seit einiger Zeit, vielleicht sind es auch schon Jahre, gibt es dort eine Düne, mitten in Dortmund. Es fühlt sich tatsächlich an, als sei man an der See: Sand, Gräser und Gesträuch – es ist alles da, was eine Dünnenlandschaft braucht. Nur Meer fehlt, aber als wohlwollende Besucher nehmen wir das Summen der nahen Bundesstraße wohlwollend als Meeresrauschen; man muss gedanklich nur ausreichend flexibel sein.
In der Dünenlandschaft kommt uns ein Mann entgegen. Er trägt einen Bogen mit weißem Gestrüß. Darin baumeln die Worte: „Will you marry me?“ Gehetzt strebt er auf den Ausgang des Parks zu, die Frage schwingt hin und her, der Sand ist tief, das Fortkommen mühsam. Hinter ihm stapft eine Frau mit einem Strauß weißer Rosen. Auch sie wirkt angeschlagen.
An anderer Stelle, jenseits der Düne, werden Hochzeitsfotos gemacht. Unter Bäumen steht eine Frau. Oder nein: Dort steht ein Kleid, und in dem Kleid steht eine Frau, steif wie Barbie. Vielleicht steht sie auch gar nicht selbst, vielleicht steht nur das Kleid, und ihre Beine berühren nicht den Boden, so groß und steif und gestärkt ist der Rock. Man könnte die Braut, so wie sie ist, nehmen und als Figur auf ihre eigene Hochzeitstorte stellen.
Hinter ihr an einem Baum lehnt ein Mann in Weste und Anzug, mutmaßlich der Bräutigam. Er ist Beiwerk zur Frau, die Frau ist Beiwerk zum Kleid. So werden sie fotografiert, unter herbstbunten Bäumen.
Kunst | Das Nest der Meisen aus dem Nistkasten. Wunderschön.
Broterwerb | Das Jahr 2023 liegt brach und jungfräulich vor mir. Bis auf kleine Aufträge wehen noch Heuballen durch meinen Kalender. Die Unternehmen haben zwar schon ihre Budgets fürs neue Jahr geplant, aber noch keine Aufträge vergeben. Es gibt lose Zusagen, unverbindliche „Wir würden gerne …“ Mitte Januar wird das schon anders sein. Aber jetzt ist alles unsicher. Das ist das Gefühl, das ich aushalten muss als Selbstständige; das kenne ich seit sechs Jahren. Es wird jedoch niemals angenehmer. Es hilft auch nicht, dass ich weiß: Die Situation ist jeden November so.
Ich schaue also in meinen Kalender, in die Nachrichtenlage, auf Grafiken zu Gaspreisen, Corona-Zahlen und ukrainischen Geländegewinnen und frage mich: Ist das der normale Gang der Dinge, ist das November oder ist das nun die Krise? Vielleicht ist die Frage aber auch falsch. Vielleicht müsste ich fragen, ob die Krise inzwischen der normale Gang der Dinge ist.
Die Lösung liegt darin, dass die Willigen in der Klimapolitik sich zu einem „Klimaclub“ zusammenschließen. Dessen Mitglieder beschleunigen den Kampf gegen die Erderwärmung und schützen ihre Wirtschaft gleichzeitig mit Zöllen gegen Länder, die billiger produzieren können, weil sie eben keine Klimapolitik betreiben. […] Ist der Club erst einmal etabliert, wird der Rest der Welt es sich kaum leisten können, nicht mitzumachen.
Und sonst | Ich befinde mich in einer schweren Bienenstichphase – kulinarisch, ohne Insektenbeteiligung.
Dies und das | Das Offline-Leben ist momentan sehr verdichtet. Ich habe eine Entscheidung getroffen, Ereignisse werfen Schatten voraus, sowas. Es gibt viel zu planen, viel zu besprechen.
Außerdem ist Großarbeitsphase: Zwischen Herbstferien und Weihnachten sind kaum Kundinnen und Kunden im Urlaub, vieles soll noch bis Jahresende geschehen, etliche Menschen möchten Ziele erreichen, Dinge beenden, anstoßen oder aufplanen, Meilensteine schaffen, Klarheit bekommen fürs neue Jahr, je nachdem. Das ist erfreulich, davon lebe ich: Menschen helfen, etwas zu bewegen.
Seit einigen Monaten bekomme ich regelmäßig Anfragen für Coaching – wegen beruflicher, mitunter auch privater Anliegen. Das mache ich beides. Ich sage immer: Ich habe keine Coachingausbildung; wenn jemand trotzdem meint, ich könne ihm Impulse geben, tue ich das gerne.
Bis zum Jahresende bin ich noch mehrmals in Sachen „Zeitmanagement“ und „mehr Gelassenheit“ unterwegs. Vergangene Woche sagte eine Kundin zu mir: „Ich kenne niemanden, der strukturierter arbeitet als du.“ Das hat mich sehr gefreut; das versuche ich in Seminaren weiterzugeben. Es hat allerdings wenig mit Methoden wie Pomodoro-Technik zu tun, sondern mit Haltung und guter Selbstführung, sich abgrenzen können, Konflikte eingehen, sich selbst fühlen, die eigenen Stressoren kennen. Besonders in den Präsenzseminaren führe ich sehr intensive Diskussionen mit den Teilnehmer:innen über diese Dinge.
Allerheiligen | Wandern im T-Shirt, irriterend und bestürzend. Die Klimakatastrophe in Goldfarben.
Twitter und Mastodon | A propos Wandern: Es wandern jetzt alle rüber, weg von Twitter, hin zu Mastodon. Ich war ja noch nie ein Early Adopter; ich bin in solchen Dingen immer erstmal wohlwollend beobachtend, niemals aktionistisch. Überdies – siehe oben: viel zu tun, und Twitter ist nun wahrlich nicht auf Platz Eins meiner Prioritätenliste, auch nicht auf Platz Zwei bis Fünf. Ich werde mich beizeiten damit beschäftigen, aber nicht jetzt.
Weiterbildung | Heute war der erste Tag meiner Weiterbildung in Verhandlungstechnik. Viele kleine Dinge, die ich mitnehme. So muss das sein.
Fünfundzwanzig | Am Wochenende fand das 25-jährige Abitreffen meines Jahrgangs statt. Wir trafen uns in einer Kneipe in der Heimat, lachten viel, hatten gute Gespräche und tauschten Erinnerungen. Zum Beispiel die an den Schüleraustausch nach Moskau, mitten in der russischen Verfassungskrise 1993. Das Weiße Haus brannte, große Nervosität in der Elternschaft. Die Schule verschob die Abreise. Dann der Anruf aus Moskau: „Es wird nicht mehr geschossen, ihr könnt kommen!“ – und wir kamen. Zur Vorsicht und als Signal an die Eltern fuhr die Direktorin persönlich mit, eine Nonne, was sollte mit dieser Begleitung schon schiefgehen. Na gut, zwischendurch verschwand Karl, irgendwo zwischen Bolschoj-Theater und der Metro-Station, mitten in der Nacht, und auf dem Rückweg musste Nadine ihr Handgepäck ausräumen, flankiert von Maschinengewehren, weil die Gewichte der Pendeluhr, die die Gastfamilie ihr geschenkt hatte, in ihrer Zapfenform den Eindruck erweckten, als seien sie Handgranaten. Sonst war aber alles prima.
Zu Gast waren auch Lehrer und Lehrerinnen, darunter der Co-Direx, der seinen Lehrerkalender 1992/1993 mitbrachte und jedem, der bei ihm Deutsch hatte, seine Note vorlas.
Das nächste Mal treffen wir uns in fünf Jahren wieder, 2027. Die spannendste Frage wird dann sein, wie jedesmal, ob Stefan endlich altert. Während wir nämlich allesamt faltig und grauhaarig werden, manche markanter, andere nur runder, sieht Stefan immer noch aus wie frisch dem Stufenfoto entstiegen. Mit Achtzehn wirkte er optisch schon wie Fünfunddreißig; seither hält er sich auf diesem Niveau – ein Phänomen.
Und sonst | Samstagmorgen auf dem Fußballplatz der U11-Mädchenmannschaft:
</Urlaub> | Wieder zu Hause. Die Rückfahrt ist schon ein paar Tage her. Ich habe sie genossen – wegen des Panoramas und wegen der schönen Abende in der Schweiz und in Freiburg.
Die Fahrt durch die Schweiz war mir eine Freude. Die Berge sind toll. Ich hörte Klaviermusik und erfreute mich an der Kulisse. Raststätte Gotthard-Nord mit Blick nach Süden:
Ich traf tolle Frauen. Wir plauderten über Ernstes und über Un-Ernstes, aßen, lachten, reflektierten über Zeitgeschehen und über Persönliches.
In der Schweiz wurde ich mit Käsefondue beglückt. Ich lernte, dass es mit schwarzem Tee genossen wird, dazu Weißwein. Nachtisch: Vermicelles – Maronenpürree, serviert mit Baisser und Schlagsahne. Es ging mir schon deutlich schlechter! Danke nochmal in den Kanton Bern.
In Freiburg traf ich eine Dortmunderin. Frau @joriste ist jüngst in den Süden umgezogen. Wir hatten uns kurz vorher zufällig im Dortmunder Freibad getroffen, wo sie ihren letzen Schwumm absolvierte und mir vom Umzug erzählte – und hatten uns kurzerhand verabredet. Ich hatte mir Freiburg nämlich schon als Halt auf dem Weg von Bologna ins Ruhrgebiet ausgeguckt. Wie passend!
Bemerknis zur Verkehrspolitik | Insgesamt fuhr ich an die 4.000 Kilometer durch die Schweiz und vor allem durch Italien – mit Tempolimit, entspannt und ohne Stau. Weder um Mailand, noch um Rom, noch um Florenz oder Bologna staute es sich nennenswert, auch nicht in der Rush Hour. Der Verkehr floss, alle Verkehrsteilnehmer trieben in annähernd gleicher Geschwindigkeit über die Autobahn. Kaum jedoch überfuhr ich die schweizerisch-deutsche Grenze, traten die Leute das Gaspedal durch, die Jagd begann. Nach zwanzig Kilometern in Deutschland: Stau aus dem Nichts, zwanzig Minuten Herumstehen wegen Auffahren, Bremsen, Auffahren, Bremsen. Keiner gewinnt, alle verlieren. Was ein Irrsinn! Es könnte so einfach sein.
Bemerknis zu einer Herberge | Im Umkreis von Freiburg hatte ich das Vergnügen, in einer auf mehreren Ebenen wunderbaren Herberge zu übernachten. Das Ambiente: Schwarzwald-Folklore in Vollendung, Eiche rustikal, Putten, Olgemälde, Buntglasfenster, Stammtisch in der Gaststube.
Das Publikum: ein Geschenk. Da war das Ehepaar, in Style und Habitus in einer Derrick-Folge aus 1986 gefangen. Er: pullunderig erklärend, Siegelring am kleinen Finger. Sie: goldene Schnallen allüberall, Drei-Wetter-taftige Bauschaumfrisur. Beide: den kleinen Finger abgespreizt am Besteck.
Daneben zwei Vertreter, das Haar silbrig, Verkäufer alten Schlages – vielleicht Badgarnituren („WC-Set – flusenarm, ultraweich und saugfähig“), vielleicht Töpfe. Mit ihren Doppelreihern und den Manschettenköpfen wirkten sie ungemein Dieter-Thomas-Heck-ig. Sie gingen Listen durch, aus Papier; im Geiste sah ich sie Telefonbücher wälzen: „M haben wir. Du heute N, ich O und P?“
An der Kaffeemaschine sprach mich ein Mann an, Kurzarm-Hemd, Krawatte, Nikotinatem: „Ihr Kaffee ist fertig.“ – „Er ist erst fertig, wenn die Maschine ‚Bitteschön!‘ sagt“, antwortete ich. Es tropfte noch Espresso ins Macchiato, wir warteten, dann erschien im Display der Maschine: „Bitte schön“, zwei Wörter, ohne Satzzeichen. „Eine Frau, die sich mit Maschinen auskennt, chapeau!“ Schappo.
Im Herrgottswinkel saßen sechs Sachsen, offensichtlich. Ihr Dialekt war weich wie ihre Fürsorglichkeit. Magst du mir die Butter reichen? Ich gehe nochmal zum Buffet, soll ich etwas mitbringen? Die Marmelade ist köstlich, mag jemand probieren? Warte, bleib sitzen, ich hole dir Saft. Wollen wir uns ein Brötchen teilen? Du siehst aus, als möchtest du noch Kaffee – bemüh dich nicht, ich schenke dir ein.
Ein weiteres Derrick-Pärchen betrat den Raum. Wäre Sascha Hehn vorgefahren, im Golf Cabrio, den Pulli über die Schulter gelegt, vor der Brust die Ärmel im Sylter Kringel – es hätte mich nicht irritiert, es wäre nur folgerichtig gewesen.
Im Ernst: Es war ein tolles Hotel. Das Zimmer war nicht neu, aber bestückt von jemandem, der weiß, dass die Summe der Kleinigkeiten schwerer wiegt als buntes Budget-Design: mit Kofferablage und Schuhanzieher, Flaschenöffner und einem guten Fön – keinem, der an die Wand gedübelt ist, die Kordel so kurz, dass das Gerät kaum bis an den Kopf reicht; mit guter Seife und einem Verdunkelungsrollo, Steckdosen am Bett und einer Flasche Wasser; mit einer Matratze und einem Kissen, die Orthopäden Tränen der Rührung abringen; mit einem Fenster, das sich öffnen lässt, und einer Heizung, die man regulieren kann; mit frischem, weich-knusprigen Brot zum Frühstück.
Broterwerb | Direkt am Tag nach der Ankunft arbeitete ich ab, was liegen geblieben war, schickte Terminvorschläge zu Anfragen und ließ mich abholen zu dem, was geschehen war.
Heute habe ich konzentriert beim Kunden gearbeitet, beraten, zugearbeitet und zwischendrin Flurgespräche geführt, Neues erfahren. Das war sehr gut. Morgen Workshop, Donnerstag Seminar, in der kommenden Woche der erste Vormittag meiner Ausbildung zum Qualified Negotiator, einer Weiterbildung in Verhandlungstechnik.
Wein einkaufen | In diesem Urlaub habe ich mich einer Sache bislang nur wenig gewidmet: Wein. Deshalb fahre ich am Vormittag zum Weingut des Vertrauens, dem Ort des besten Rotweins.
Modena | Auf dem Rückweg halte ich in Modena. Es ist Mittag und nichts los. Aber das macht nichts; ich möchte nicht shoppen und brauche keine offenen Geschäfte. Ich möchte nur etwas durch die Straßen flanieren.
Modena ist klein, deutlich kleiner als Bologna, hat aber ebenso hübsche Gassen und Arkaden. Ich steuere direkt die historische Markthalle an. Dort soll es Snacks geben, und ein Snack ist genau das, was ich jetzt brauche.
Der Mercato Albinelli wurde in den 1930er Jahren für die Händler der Piazza Grande gebaut – eine Eisenkonstruktion mit Marmorböden, fließendem Wasser (sehr modern und hygienisch damals) und mit einem Brunnen in seinem Zentrum. Hier gibt es Brot, Parmesan und andere anderen Käse, Fleisch, Obst und Gemüse, Zeitschriften und Spezialitäten.
Vor der Markthalle finde ich ein Plätzchen in einer Trattoria, esse ein Panini, lese und schaue den Menschen im Markt zu. Danach streife ich noch durch die Straßen. Dann fahre ich zurück nach Castenaso.
Broterwerb | Am Abend arbeite ich ein wenig. Es haben sich einige Mails angesammelt, die ich trotz Abwesenheitsnotiz beantworten möchte. Sonst wird das nach meiner Rückkehr alles zu kompliziert – für mich oder für meine Kunden, und das will ja niemand.
Die fünfzehnjährige Kim hat ihren Vater noch nie gesehen, als sie von ihrer Mutter über die Sommerferien zu ihm abgeschoben wird. Der fremde Mann erweist sich auf Anhieb nicht nur als ziemlich seltsam, sondern auch als der erfolgloseste Vertreter der Welt. Aber als sie ihm hilft, seine fürchterlichen Markisen im knallharten Haustürgeschäft zu verkaufen, verändert sich das Leben von Vater und Tochter für immer.
Die Geschichte hat ein paar Schwächen, aber alles in allem habe ich sie gerne gehört. Ob ich sie auch gerne gelesen hätte, kann ich nicht sagen (wahrscheinlich weniger) – fürs Autofahren ist das Hörbuch aber prima: Es kommen nicht zu viele Personen vor, ich konnte der Handlung auch stückweise gut folgen, und es gibt ein Geheimnis, dem man auf den Grund gehen möchte.
Bologna | Ich hatte mir schon gedacht, dass Bologna eine tolle Stadt, aber mal ganz ehrlich: Wow. Überwältigend.
Vor allem: So viele Menschen. Gestern mache ich den Fehler und fahre erst gegen 13 Uhr nach Bologna. Es ist so voll, dass ich gar nicht ins Parkhaus komme. Um drei Kurven stehen die Wagen, man kann nicht vor und nicht zurück. Ein Mann in einer gelben Weste regelt, wer hinein darf in die Tiefgarage unter die Piazza VIII Agosto. Von überall hupt es, aber schlussendlich warten alle schicksalsergeben. Es dauert zwanzig Minuten, bis ich hinunter fahre – und nochmal fünfzehn Minuten, bis ich dort unten einen Parkplatz finde. Denn es darf mitnichten nur jemand reinfahren, wenn jemand rausfährt; der gelbe Mann regelt alles nach Gefühl, und wenn kein Parkplatz frei, man aber drin ist, muss man so lange durch die Etagen fahren, bis irgendwo jemand rausfährt.
Die Straßen sind voll von Menschen: Touristen, aber vor allem Italienier und Italienerinnen. Die Stadt summt und brummt. Von überallher ertönt Musik, Gesang und Klavierspiel, Gitarristen und Flötisten. Auf der Piazza Maggiore sitzen die Menschen auf der Treppe der Basilica di San Petronio, unter den Arkaden der Stadt stehen hunderte und tausende von Tischen. Alle sind besetzt.
Die Arkaden – von ihnen gibt es vierzig Kilometer in der Stadt, breit und prachtvoll, schmal und gedrungen, mit namhaften Geschäften oder kleinen Kaschemmen, die meisten voll mit Tabaccherien, Bars und Imbissen, mit Läden, die ein Sammelsurium von allem verkaufen. Im Universitätsviertel reiht sich Tür an Tür. Sie führen zu Instituten, in Bibliotheken und in Dekanate.
Die Università di Bologna ist die älteste Universität Eurpoas und vielleicht sogar die älteste der Welt, gegründet im 11. Jahrhundert. Berühmte Studierende waren Nicolaus Copermicus, Albrecht Dürer, Paracelsus, Francesco Petrarca und Erasmus von Rotterdamm. Bemerkenswert: Seit der Gründung sind Frauen an der Universität zugelassen; leicht hatten sie es allerdings nicht. Heute studieren hier mehr als 81.000 Menschen. Auch ihretwegen ist die Stadt so lebendig.
Ich besuche den Palazzo Poggi. In ihm befindet sich der Sitz der Universität und das Museo di Palazzo Poggi mit seiner wissenschaftlichen Sammlung aus dem 18. Jahrhundert.
Ich höre zum ersten Mal von Ulisse Aldrovandi, einem Arzt und Biologen. Von 1571 bis 1600 bekleidete er den Lehrstuhl für Medizin, machte Exkursionen und legte ein Herbarium und ein Naturalienkabinett an. Im Palazzo Poggi ist seine Sammlung ausgestellt, darunter hunderte von Druckplatten mit Pflanzen, Vögeln und anderen Dingen. Sie sind die Grundlage seines Werkes in 17 Bänden, das in der Bibliothek der Universität aufbewahrt wird, aufwändig aquarelliert.
Ein paar Zimmer weiter: Anna Morandi Manzolini und ihr Mann Giovanni.
Anna Morandi, geboren 1714, und ihr Mann schufen anatomische Wachsmodelle und entwickelten neue Seziertechniken. Unter anderem formten sie 170 Modelle von weiblichen Fortflanzungsorganen und dem Uterus in den verschiedenen Phasen der Schwangerschaft. Sie wurden in der Ausbildung von Hebammen eingesetzt.
Nachdem ihr Mann an Tuberkulose gestorben war, führte Anna die Werkstatt alleine weiter. Obwohl sie selbst nicht studiert hatte, hatte sie einen exzellenten Ruf als Anatomin, verfasste theoretische Schriften und erhielt Angebote von internationalen Universitäten und Akademien. Damit sie in Bologna blieb, zahlte der Papst höchstselbst ihr schlussendlich ein jährliches Gehalt auf Lebenszeit. Dennoch erhielt sie deutlich weniger Geld als ihre männlichen Kollegen und hatte Mühe, ihren zwei Söhnen – nur zwei ihrer acht Kinder erreichten das Erwachsenenalter – Unterhalt und Ausbildung zu bezahlen.
Im Palazzo Poggi gibt es neben den biologischen und anatomischen Sammlungen Bücher, Landkarten und Globen zu sehen, Schiffsmodelle und Militärarchitektur. Nautik und Kartographie waren relevante Wissenschaften: Die Welt war vor 300 Jahren noch nicht komplett erkundet.
Ebenso beeindruckend wie die Wissenschaft sind die Kirchen von Bologna.
Die Basilica San Petronio ist hoch, sehr hoch. Es sind gewaltige Dimensionen, die sich mir eröffnen, als ich durch die Pforte trete. Ich lese später nach, dass San Petronio die fünftgrößte Kirche der Welt ist, Gewölbehöhe 45 Meter, und die größte Backsteinkirche überhaupt: Die Basilica verfügt über mehr als 250.000 Kubikmeter umbauten Raum. Über Jahrhunderte wurden an ihr gebaut.
Aber auch die Kathedrale von Bolgna ist nicht übel: majestätischer Barock, dazu Orgelspiel.
Bologna hat die Beinamen La Dotta, La Grassa und La Rossa: die Gelehrte, die Fette und die Rote. Rot wegen der vorherrschenden Farbe in der Stadt, gelehrt wegen der Wissenschaften und fett – der Grund ist unübersehbar, wenn man von der Piazza Maggiore in eine der Seitenstraßen einbiegt, in der sich die Geschäfte mit den Lebensmittel aneinanderreihen, nur unterbrochen von Bars, Restaurants und Haushaltswarenläden. Mit jedem Schritt riecht es anders: hier nach Fisch und dort nach Brot, links nach Fleisch und rechts nach Kaffee, weiter vorne nach Käse.
Die Schinken hängen schwer in den Schaufenstern. Das Brot stapelt sich. Gläser mit Sugo werden ausgestellt. Hände greifen in Körbe mit Pasta, um sie abzuwiegen für die Kundschaft – und überall Menschen. Sie drängen sich durch die Gassen, stehen Schlange in den Läden, probieren und kaufen ein. Das ist hier alles kein Schauspiel, keine Ausstellung für Touristen; hier wird konsumiert und degustiert, hier wird genossen und später zu Hause gekocht.
Aber erst gibt es noch einen caffè.
Eataly | In Bologna gibt es einen Freizeitpark – für Essen. Das verwundert nicht in einer Stadt, in der ganze Straßenzüge sich nur mit Essen beschäftigen – und in einem Land, in dem Quizshows produziert werden, die sich den Namen von Gerichten und Kochtechniken widmen.
Ich fahre in diesen Park, eine Mischung aus Messe, Supermarkt, Fressmeile und Phantasialand. Vor der Tür hockt ein Truthahn auf dem Zaun. Er weiß nicht, dass im Gebäude seine Kameraden auf Paninis gereicht werden. Zwei Meter weiter streicheln Kinder Kühe. Ihre Eltern stehen daneben und denken an Mozzarella und Schmortopf.
Ich trete ein. Man kann auf Bonbons wippen, eine Maccheroni-Rutsche hinunterrutschen und auf mit Pudding gefüllten Hörnchen reiten. Und man kann essen, die ganze italienische Speisekarte rauf und runter.
Die Kinder, sie sind hier gut aufgehoben, nicht nur auf dem Cornetto. Neben dem Stand mit den Arrosticini gibt es das Urlometro, das Schrei-o-Meter, in das man hineinschreit – je lauter, desto mehr Lampen leuchten. Das Urlometro entfesselt Kräfte. Kinder brüllen mit hochrotem Kopf in den Gramophontrichter, bis er sich blau färbt.
Daneben und auch sonst überall sitzen Menschen und essen. Es gibt ein reines Eintrittsticket, außerdem ein Ticket Ingresso + Degustatzioni, Eintritt und viermal Probieren, Kinder bis 90 Zentimeter gratis. Ich glaube, das haben hier alle außer mir.
Irgendwo zwischen der Mortadellawelt und dem Balsamico Village, auf dem Weg vom Pasta-Karussell zur Olivenölpresse, muss der Zustieg zum Huhn sein. Das Huhn hat vier Sitze, und man kann mit ihm Wilde-Maus-mäßig hoch oben durch die Halle fahren. Ich bin sehr in der Stimmung, dies zu tun, bin dann aber abgelenkt von einem begehbaren Parmesan. Der Parmesan erinnert an Darmkrebsaufklärung in der Innenstadt, ein gelbes Röhrensystem mit Löchern und Polypen. Familien wandern hindurch und spielen fangen.
Beim Rausgehen sehe ich, dass der Zustieg zum Huhn in der Luna Farm ist. Aber jetzt habe ich keine Lust mehr. Ich habe Einkäufe am Arm, Pasta und Sugo, Risotto und Tomatencreme. Ich habe zehn Euro Eintritt gezahlt, um fünfzig Euro für italienische Lebensmittel auszugeben. Aber egal, ich habe die ersten Weihnachtsgeschenke und überhaupt: Es war ein Erlebnis.
Herbstsommerwehmut | Ich stelle fest, dass fast schon November ist, wenn ich nach Hause kommt. Jedenfalls wird heftig Herbst sein nördlich der Alpen. Das wird unerfreulich, auch wenn natürlich auch hier in Italien Herbst ist. Aber es ist ein anderer Herbst, ein weniger herbstiger Herbst. Es ist ein Sommerherbst mit goldenen Blättern und T-Shirt.
Dienstag | Am Morgen regnet es. Wir verbringen ihn mit Chillen und Drecksau spielen. Am Nachmittag fahren wir ans Meer und gehen schwimmen.
Das Meer ist wunderbar warm, wärmer als Freibad im Sommer. Wir genießen die Nachmittagssonne. Die Wellen sind gerade richtig, um ihnen entgegen zu springen, aber sich nicht vor ihnen zu fürchten.
Ab und zu kommt ein Spaziergänger vorbei, eingepackt in eine Steppweste, und schaut erstaunt auf die Deutschen, die dort im Wasser toben, als wären noch Ferien.
Mittwoch | Am Morgen wieder Pool, lesen, Wassertaxi und rumgammeln. Am Nachmittag fahren wir wandern in die Nähe von Serramonacesca, einer 500-Seelen-Gemeinde im Majella-Nationalpark.
Wir bekommen einen Eindruck, wie Wald aussehen kann, wenn er nicht nur aus vom Borkenkäfer zerfressenen Fichtenplantagen besteht.
Beim näheren Hinsehen ist es erstaunlich, wie vielseitig der Wald hier ist: unzählige Laubbaumarten, Kiefern, Schlehen, Ginster, Reben, Bambus, Kraut und unzählige andere Pflanzenarten. Im Matsch der Wege sehen wir immer wieder Wildtierspuren: Abdrücke von Rehen und das von Wildschweinen zerwühlte Erdreich.
Potenzialimmobilie in ruhiger Lage mit kreativen Möglichkeiten. Eigene Vorstellungen können hier in hohem Maße verwirklicht werden.
Wir stapfen weiter durch Wald und Flur. Oberhalb von Serramonacesca liegt die Abbazia di San Liberatore a Maiella, eine ehemalige Klosteranlage. Sie wird als eine der schönsten mittelalterlichen Architekturensembles der Abruzzen bezeichnet.
Die Anlage stammt aus dem 11. Jahrhundert, ist also fürchterlich alt. Deshalb ist ist Regelmäßigkeit des Baus umso erstaunlicher, besonders in dieser Abgeschiedenheit. Das ist wohl eher selten, wie wir lesen.
Wir machen Pause und gehen zurück nach Serramonacesca. An der Bar ist was los. Rentner beim Kaffee, schwatzende Frauen und Rentner, die durch ein kleines Fenster gereichte Panini essen – alle treffen sich dort.
Hübsche Tür:
Donnerstag | Es regnet Bindfäden. Am Nachmittag fahren wir nach Chieti. Das ist die nahe gelegene Kreisstadt. Dort waren wir noch nicht. Ziel: Abendessen.
Chieti ist eine der ältesten Städte Italiens. Mythische Legenden besagen, Achilles persönlich habe Chieti (damals: Teati) gegründet – im Jahr 1181 vor Christus zu Ehren seiner Mutter. Ganz sicher existierte die Stadt bereits viele Jahrhunderte vor Christus. Wegen ihrer Lage zwischen den Meer und den Bergen hatte sie eine herausragende Stellung und war ein wichtiges Wirtschaftszentrum. Entsprechend gibt es in der Stadt viele archäologische Städten, auch ein archäologisches Museum, das an einem römischen Amphitheater errichtet wurde. Wir gucken uns Steine und Vasen an; am interessantesten sind die nachgebauten römischen Zimmer und der Friedhof.
Nachdem wir genug die Stadt angeguckt hatten, gab’s Abendessen:
Freitag | Reisetag. Wir packen das Auto, räumen das Haus auf und fahren Richtung Rom. Die Strecke zwischen Pescara und Rom ist ausnehmend hübsch. Man fährt bis auf 1.000 Meter hoch, links und rechts Berge. Ganz oben ist das Fuciner Becken, einer der fruchtbarsten Gegenden Italiens – ein ehemaliger See, der im 19. Jahrhundert trocken gelegt wurde. Er war das größte Binnengewässer Mittelitaliens.
Auf dem Weg zum Flughafen halten wir in Tivoli. Durch Stau schieben wir uns den Berg in die Stadt hinauf, wir können allerdings nirgendwo parken, alles ist überfüllt. Wir entschließen uns, statt in der Stadt ein Eis zu essen und die Hadriansvilla anzuschauen.
Die Hadriansvilla, benannt nach dem römischen Kaiser Hadrian (76-138), ist die größte und aufwendigste Palastanlage, die sich je ein römischer Kaiser erbauen ließ. Sie entstand in den Jahren 118 bis 134 nach Christus, ist also verdammt alt, noch älter als sowieso schon viele Dinge hier in Mittelitalien. Die ganze Anlage umfasst mehr als 125 Hektar, ist drei Kilometer lang und eineinhalb Kilometer breit.
Hadrian verzichtete seinerzeit auf eine weitere Ausdehnung des Römischen Reichs, sondern setzte auf einen Ausbau der Infrastruktur und des Justizwesens, auf Grenzbefestigung („Hadrianswall“) und auf Künste – er selbst sprach Latein und Griechisch und interessierte sich für Musik, Malerei, Bildhauerei und Dichtung, Geometrie und Arithmetik, Heilkunde und Astronomie. Heute kann man an der Hadriansvilla in Tivoli alte Steine gucken – beeindruckende alte Steine! Es gibt Wohn- und Repräsentationsbauten, eine Bibliothek, eine Themenanlage, einen Bankettsaal, Parks und im Zentrum das teatro maritimo.
Leider können wir nicht so lange bleiben, wie wir wollen, und müssen weiter zum Flughafen. Also nur Schnelldurchgang. Ein Eis gibt’s auch nicht. Tragisch!
Wir fahren nach Rom-Fiumicino. Der Reiseleiter und die Kinder steigen aus und fliegen heim nach Deutschland. Ich fahre weiter nach Bologna. Fünf Stunden Autobahn, bis auf die letzte halbe Stunde recht entspannt. Dann irre ich im Stockfinstern über die Landstraße bei Castenaso und suche das Agriturismo – entlang winziger, unbeleuchteter Hausnummern und langer Einfahrten.
Mittwoch | Ich wache auf und weiß: Heute ist ein Tag, der nichts von dir wollen soll. Ich frühstücke ausgiebig. Dann gehe ich hinaus, ziehe die Plane vom Pool, schalte den Poolroboter ein und fange mit einem Käscher Blätter und tote Insekten. Das ist eine meditative Tätigkeit, und es sind sehr spannende Insekten dabei: eine Gottesanbeterin, außerdem wurmartige Gliederinsekten und große, haarige Spinnen von einem Gewicht, das sie bis auf den Grund des Pools hat sinken lassen.
Danach sinke ich auch – in den Liegestuhl und schrecke nur hoch, wenn der Poolroboter zwischendurch schlürfend an die Oberfläche kommt. Später erhebe ich mich noch einmal und pumpe den Flamingo auf. Badebereitschaft ist hergestellt!
Donnerstag | Gegen Mittag breche ich in Torrevecchia Teatina auf, fahre zwei Stunden lang durch die Berge der Abruzzen, über Brücken und durch Tunnel, bis ich in Tivoli bin. Tivoli ist in der Nähe von Rom. Der Name wurde zum Synonym für Vergnügungsparks, weil Kaiser Hadrian dort eine ausgedehnte Villenanlage errichten ließ, die Villa Adriana, mit künstlichen Seen, Wasserspielen und Theatern – was den gemeinen Römer halt unterhielt.
Dort gehe ich allerdings nicht hin, sondern besuche stattdessen die Villa d’Este. Sie hat all das auch: in einem atemberaubenden Renaissancegarten. Errichter war der Kardinal Ippolito d’Este. Er hatte ein bisschen zu viel Geld – seine Mutter war die Fürstin Lucrezia Borgia – und litt wohl auch an leichtem Größenwahn (subjektive Interpretation). Sein Nachfolger Alessandro d’Este – offenbar auch ein Mann, dem Mäßigung und Bescheidenheit fern lagen – vollendete das Werk.
Ich steige auf verschiedenen Wegen, Rampen, Treppen und Terrassen den Hang hinunter. Hinter jedem Vorsprung und jeden Torbogen kommt ein neues, gigantisches Wasserspiel zum Vorspiel. Wahnsinn.
So viele Wasserspiele es gab, so viele Damen gab es auch, die vor den Wasserspielen posierten, die Brüste vorgestreckt, die Lippen zu einem Schmollmund geschürzt, ein Bein leicht angewinkelt. „Dreh dich noch einmal“, ruft ihnen die Freundin zu. Das Model wendet sich zur anderen Seite, schiebt die Sonnenbrille ins Haare, und schüttelt die Haare über die Schultern. Eine Hand ist in die Hüfte gestemmt, die andere hängt locker herab. Es scheint, als hätten sich alle auf diese Pose verständigt, als sei dies die Haltung, die man einnehmen müsse, wenn man vor einem Wasserspiel steht.
Anschließend verweile ich noch etwas in Tivoli, nehme ein MIttagessen ein (gepfefferte Pasta) und esse ein Eis, Pistazie und Wafelino, Waffeleis. Beides ist so lecker, dass ich fast ohnmächtig werde vor Rührung.
Danach fahre ich an den Flughafen nach Rom und hole den Reiseleiter und die Kinder ab. Der Flug hat eine Stunde Verspätung. Ich verbringe sie lesend. Dann fahren wir nach Torrevecchia Teatina, wo wir gegen Mitternacht ankommen. Die Kinder sind erst aufgeregt, dann schlafen sie ein, dann sind sie übernächtigt. Zu Hause fallen wir alle in unsere Betten.
Freitag | Den kommenden Tag verbringen wir akklimatisierend am Pool mit einem spätnachmittäglichen Ausflug ans Meer. Das ist gleichs ums Eck, einmal den Berg runter.
Der Flamingo wird zum Wassertaxi erkoren, das die Fahrgäste über den Pool schippert.
Samstag | Der Pool hat gerade einmal 20 Grad, aber das stört uns alle nicht. Geht man das erste Mal hinein, ist es kalt, aber beim zweiten Mal ist es schon gar nicht mehr schlimm. Die beste Beschäftigung ist, das Wassertaxi per Arschbombe in Seenot zu versetzen. Mein Körper kann üppige Arschbomben machen.
Am Nachmittag fahren wir nach Ortona, erklettern die dortige Zitadelle, essen Eis und schauen uns die Gassen der Stadt an.
Gelesen | Miss Island von Auður Ava Ólafsdóttir, aus dem Isländischen von Tina Flecken. Klappentext:
In Amerika sagt Martin Luther King »I have a dream«. John F. Kennedy wird erschossen. In England starten die Beatles ihre Weltkarriere. Nur in Island steht die Welt still. Das muss auch Hekla erfahren, als sie – 22-jährig mit ihrer Remington-Schreibmaschine, einem Romanmanuskript, dem „Ulysses“ von James Joyce und einem englischen Lexikon – in einen verrauchten Überlandbus steigt, der sie vom elterlichen Hof nach Reykjavík bringt. Dort, in der Stadt der Poeten, will sie ihren Traum verwirklichen und mit Büchern berühmt werden.
Aber die schöne Hekla, benannt nach einem Vulkan, stellt schnell fest, dass in der konservativen, männerdominierten Gesellschaft das Interesse an einer Miss Island größer ist als das an einer Schriftstellerin. Genau wie ihr Freund Jón John, der von einem Engagement am Theater träumt und als schwuler Mann ebenso mit Einschränkungen und Rollenzuschreibungen konfrontiert ist, erkennt sie, dass sie ihre Pläne nur realisieren, ihre Freiheit nur finden kann, wenn sie die Insel hinter sich lässt.
Ein leiser Roman, allerdings mit etwas wenig Handlung, dafür mit guten Charakterbeobachtungen.
Reisetag | Ich fahre in die Abruzzen. Von San Pellegrino aus sind das knapp 700 Kilometer, zunächst Richtung Mailand, dann über Bologna Richtung Osten an die Adria, dort die Küste hinunter bis nach Pescara. Die Fahrt ist entspannter, als man sie sich auf einer deutschen Autobahn jemals vorstellen kann. Der Verkehr fließt dahin; alle fahren die gleiche Geschwindigkeit.
An den Raststätten fallen mir drei Dinge auf:
Es gibt, als Schutz vor der Sonne, überdachte Parkplätze – darauf Photovoltaik.
Die Anzahl der Ladeplätze für E-Autos ist schon auf der Autobahn ausgeschildert.
Während auf deutschen Autpbahnen zunächst die Tankstelle und dann die Raststätte kommt, ist es hier umgekehrt: Erst parkt man, besucht die Toilette, isst und trinkt, und beim Wegfahren tankt man. Das erscheint mir deutlich sinnvoller.
Ich höre „Die Diplomatin“, geschrieben von Lucy Fricke, gelesen von Bettina Hoppe. Es ist die Geschichte der Diplomatin Friederike Andermann, die in Montevideo beginnt und nach Istanbul führt, wo Friederike – Fred – an ihrem Beruf zu zweifeln beginnt und eigene Wege geht. Die Lesung von Bettina Hoppe gefällt mir noch besser als das Buch selbst, ein lakonisch-rotziger Lesestil von einer tollen Stimme.
Gegen Abend komme ich in Torrevecchia Teatina an. Hier werde ich zwölf Tage bleiben; auch der Reiseleiter und die Kinder werden kommen. Der Pool ist noch abgedeckt. Wir werden sehen, ob es in den nächsten Tagen warm genug ist. Der Blick aus dem Liegestuhl geht jedenfalls bis hinunter aufs Meer.
Ich räume die Sachen ins Haus und fahre noch rasch in den Supermarkt, Brot und Käse kaufen, Gemüse, Obst, Getränke und ein paar Kekse.
Torrevecchia Teatina | Als ich am Morgen erwache, weiß ich nicht, wo ich bin. Nach den Nächten auf der Schlaf-Empore, eng unterm Dach, ist das Schlafzimmer riesig. Durch die Vorhänge schimmert die Morgensonne.
Es ist warm, viel wärmer als auf dem Berg in Norditalien. Aus der Umgebung klingen betriebsame Geräusche herüber: Klopfen, Brummen, das entfernte Dröhnen von Maschinen. Ich könnte aus dem Schlafzimmer direkt hinunter in den Pool gehen; an einem anderen Tag vielleicht.
Seit mehr als einer Woche bin ich nun unterwegs, und es ist an der Zeit, Wäsche zu waschen. Ich verreise, was die Oberbekleidung angeht, ja nach dem Prinzip 5-5-5: fünf T-Shirts, fünf Hosen oder Kleider/Röcke und fünf andere Dinge, zum Beispiel ein warmer Pullover, die Wanderweste oder die Bluse, die ich Anfang vergangener Woche beim Kunden trug (von dort bin ich direkt in den Urlaub gestartet). Nach acht Tagen braucht’s da mal eine Waschmaschine.
Ich wasche also einmal Dunkelbunt und einmal Hellbunt, genieße den Blick ins Tal und schaue der Wäsche beim Trocknen zu. Die Olivenbäume wiegen sich im Wind. Schmetterlinge fliegen vorbei. Die Nachbarskatze zerlegt knirschend eine Gottesanbeterin.
Ich fahre ans Meer. Der nächste Ort die Straße runter, sechs Kilometer, ist Francavilla al Mare, ein Badeort. Dort: Leere. Der Strand: leer. Die Straßen: leer. Die Parkscheinautomaten: abgeschaltet. Die Geschäfte: geschlossen. Die Rolläden: heruntergelassen. Der ganze Ort ist abgetakelt, bereit für den Winterschlaf. Das Wasser hingegen ist noch warm, wärmer als ein deutsches Freibad im Sommer.
Ein Stück den Strand hinauf fährt ein Mann einen Trecker. Er kämmt den Strand, schiebt Sand zusammen, baggert ihn von links nach rechts, fährt zum Meer.
Zwei Schwimmer entkleiden sich, legen ihre Kleidung auf einen Haufen und steigen ins Meer, erst nur bis zur Hüfte, dann tauchen sie unter.
Schirme stehen da wie Statuen. Der Wind zerzaust sie sanft. Bald werden auch sie eigemottet.
Ich fahre weiter Richtung Ortona. Ich brauche dringend ein Eis.
Wenn man nach Ortona will, fährt man die Landstraße am Meer entlang, durch Badeorte, die ebenso verlassen sind wie Francavilla al Mare, und doch ist einiges los. Supermärkte und Geschäfte säumen die Straße. Zwischen den Orten: Schilf und Bambus.
Ortona ist für zwei Dinge bekannt: In der Kirche San Tommaso liegen die Gebeine des Apostels Thomas. In den Straßen der Stadt fand ein erbitterter Häuserkampf statt – im Dezember 1943, zwischen deutschen Fallschirmjägern und Einheiten der Ersten kanadischen Infanterie-Division. Seither trägt es den Namen „Stalingrad Italiens“.
Ich finde ein Eis und setze mich auf eine Bank an der Promenade. Bänke sind etwas, das die Mittelmeerländer uns voraus haben: Überall sind Bänke, und kaum wird es Abend, sitzen die Menschen dort.
Ein Paar, er und sie, kommt von links. Er schiebt einen Rollator vor sich her, am Griff ihre Handtasche. Sie geht eine Schrittlänge voraus, pafft eine langstielige Zigarette, ihre Schuhe klappern auf den Fliesen. Von der anderen Seite kommen Sohn und Mutter, ganz offensichtlich, sie haben nicht nur denselben gebeugten Gang, dasselbe Gesicht, sie haben auch beide einen Schnurrbart. Ein Mann und ein Kampfhund kommen und gehen wieder. Von rechts ein Mann und eine Frau, sie unterhalten sich auf Deutsch. Er trägt sein Haar wie Guildo Horn, das Polohemd spannt, über die Brust der Riemen einer Herrenhandtasche. Sie ist hübsch, eine Alltagsschönheit, hat die Haare hochgesteckt und wirkt, als sei sie einem Esprit-Katalog entstiegen. Das Eis ist spektakulär gut.
Ich gehe noch etwas durch die Gassen.
Dann fahre ich nach Hause. Die Sonne steht bereits tief.
Gehört |Alles gesagt? mit dem Wissenschaftsdirektor der NASA, Thomas Zurbuchen. Wieder einmal bedaure ich, dass es zwei Männer sind, die in diesem Podcast die Interviews führen. Eine Frau, da bin ich sicher, hätte an einigen Stellen anders gefragt. Sie hätte tiefer nachgefragt, als Zurbuchen sagte, dass er für Frauen, die bei der NASA arbeiten, viel verändert hat. Sie hätte sich genau erklären lassen, wie die Teamarbeit, die Zurbuchen oft anspricht, bei der Nasa tatsächlich funktioniert, welche Strukturen er verändert hat, nach welchen Kriterien Stellen besetzt werden, welche Rolle Diversität spielt. Sie hätte ihn beim Bericht seines Tagesablaufs gefragt, wie er seinen Beruf mit der Familie vereinbare, zumal wenn er, um 20 Uhr nach Hause kommend, erstmal laufen geht. Auf der anderen Seite bin ich sicher, dass die Interviewer all das gefragt hätten, wäre Zurbuchen eine Frau.
Sonne | Am vierten Tag meines Urlaubes reißt der Himmel auf, und der Tag begrüßt mich mit Sonne.
In Erinnerung an den Regen hat die Natur einen dicken Batzen Nebel ins Tal gelegt. Durch den Nebel stapfe ich hindurch, als ich vom Berg hinunter gehe nach La Vetta, dem Ortsteil am Hang, wo mein Auto steht. Fünfzig Minuten dauert der Abstieg, 500 Höhenmeter. An einigen Stellen ist es so steil, dass ich in Schlangenlinien absteige.
San Pellegrino Terme ist ein Ort mit morbidem Charme. Einst war es Erholungsort der Reichen und Illustren mit Grand Hotel, Zahnradbahn und Aussichtslokalen. Jetzt lebt es vom Einstigen.
Zwar gibt es das luxuriöse Casinò Municipale im Jugendstil, doch das Grand Hotel steht als Mahnmal am Ufer des Brembo, die Fensterläden verschlossen, die Fassade strahlt Sepia aus. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts war es eines der modernsten Häuser der Region, 250 Zimmer, ein jedes ausgestattet mit Telefon und fließendem Wasser. Nun dämmert das Wahrzeichen des Ortes seit vierzig Jahren dahin und wartet auf seine Wiedergeburt.
Ich frage Elisabetta, was geschehen sei. Man habe sich auf dem Erfolg ausgeruht, sagt sie, und über lange Zeit nicht investiert. Irgendwann seien dann die Gäste ausgeblieben. Die Zweifelnden, denke ich, sind auf der Langstrecke eben doch erfolgreicher als die Überzeugten, die Selbstgefälligen. Il Funicolare, die Zahnradbahn, ist immerhin seit diesem Jahr wieder in Betrieb, frisch herausgesputzt.
Gegenüber des Grandhotels, auf der anderen Seite des Flussufers, ein halbrundes Gebäude mit Säulen. Über dem Eingang formen verrosteten Buchstaben den Namen des Wassers, das nach der Stadt benannt ist: Acqua S. Pellegrino.
Sonst gibt sich der Ort dörflich. Es ist Samstag. Man geht ins Städtchen, man grüßt sich, trägt Taschen, zieht Hackenporsche hinter sich her, hält ein Schwätzchen.
Neben dem Zeitungskiosk am Ufer des Brembo steht eine Anzeigetafel. Adrian sei geboren, steht dort. Die Kommune heißt ihn herzlich willkommen.
Dann wechselt der Text. Hundehalter werden aufgefordert, Häufchen aufzuheben: „Dein Hund kann es nicht aufsammeln. DU MUSST ES MACHEN! Steck den Kopf nicht in den Sand!“ Die Altherrengruppe auf der Bankbank starrt mich erst an und mir dann hinterher.
Ich fahre nach Bergamo. Bergamo hat ungefähr so viele Einwohner wie Bottrop, ist aber ungleich ansprechender, nicht zuletzt, weil dort das Stracciatella-Eis erfunden wurde. Aber auch architektonisch gibt Bergamo mehr her.
Die Oberstadt liegt auf einem der letzten Alpenausläufer, und so fühlt es sich auch an, wenn man hinaufläuft. Bis zum höchsten Punkt, dem Castello di San Vigilio, geht es zünftig bergan. Wie auch in San Pellegrino fahren hier Zahnradbahnen. Allerdings sind sie am heutigen Samstag überfüllt. So laufe ich bergan, und mir wird gehörig heiß.
Die Stadt hat eine längjährige Geschichte: Etrusker, Langobarden und Barbarossa bis zum Risorgimento. Bergamo war Zentrum der Corona-Pandemie: Binnen zwei Monaten starben 6000 Menschen.
Es gibt eine Universität, deren Fakultäten und Institute sich über die Stadt verteilen. Vor allem aber gibt es: Essen. Die Straßen quellen über vor pasticcerie, macellerie, birrerie – Konditoreien, Metzgereien, Brauereien, dazu Bars, Restaurants und natürlich Eisdielen.
Im Il Fornaio liegen die Pizzen im Schaufenster, dick belegt mit ganzem Büffelmozarella. Sie werden nach Kilo-Preis verkauft. Menschen drängen sich im Geschäft.
Nach dem Tag in der Stadt fahre ich wieder heim auf den Berg.
Im Jeep sitze diesmal nicht nur ich, sondern auch die Tochter und der Schwiegersohn der Vemieter und die zwei Enkelkinder. Elisabetta und Paolo laden mich nicht nur zu Polenta ein, wie verabredet, sondern auch zu Gemüse und Käse, zu Kaffee und Zitronenkuchen, zu Kaktusfrüchten, Wein und Kastanien. Die Kastanien röstet Paolo auf dem Herd: Dazu zerkleinert er Holz, schiebt es in den alten Ofen und kippt die Kastanien auf die gusseiserne Platte. Es wird heiß in der kleinen Küche in der wir zu Siebt um den großen Tisch sitzen, auf dem sich das Essen stapelt. 27 Grad zeigt das Thermometer an der Wand.
Gegen Zehn steige ich, erwärmt vom Ofen und von Gespräch, in meine Koje in der ersten Etage und schlafe sofort ein.
Schlott: […] Ich bin sogar der Meinung, dass wir uns die Hälfte der Persönlichkeitsentwicklungsseminare sparen könnten, wenn die Menschen ausgeschlafener wären.
ZEIT ONLINE: Sie beraten unter anderem Topmanager und Topmanagerinnen, wie diese besser schlafen können. Was genau empfehlen Sie denen?
Schlott: Schlaf zu einer Priorität zu machen und nicht länger zu glauben, dass vier oder fünf Stunden ausreichen. Am besten sollte man sich klarmachen, dass ausreichend Schlaf dazu führt, dass man bessere Entscheidungen trifft, fokussierter arbeitet und viel mehr Dinge in einer kürzeren Zeit schaffen kann. Wer ihn auf seiner Prioritätenliste nach ganz oben setzt, richtet seinen Tagesablauf danach aus.
Die Reise-Richtlinie in meinem Unternehmen sagt ja: Wenn ich vor 6 Uhr aufstehen muss, nehme ich mir ein Hotelzimmer. Ohne ausreichend Schlaf bin ich nicht gut.
Einfach nur sitzen | Der Morgen beginnt mit Prasseln. Eineinhalb Meter über mir regnet es aufs Dach. Ein trommelnder Regen, ein Geräusch der Behaglichkeit über den schweren Balken der Blockhütte.
Ich präpariere meine Wärmflasche neu und schlafe erneut ein. Danach lese ich. Dann klettere ich von meiner Schlaf-Empore hinab und mache mir Frühstück. Es dauert etwas, bis ich das Brot in der Pfanne geröstet habe. Immer, wenn ich keinen Toaster habe, mache ich das so: Das Baguette in die Pfanne legen. Ich röste es langsam, Stufe drei, höchstens Stufe vier, sonst verbrennt es schnell. Ich habe Zeit.
Ich ziehe mich an und schaue „Mensch, Horst“ in der ARD-Mediathek.
Es regnet in schweren, behäbigen Tropfen. Später in zarten, feinen Tropfen. Ich lese. Am Mittag fällt ein entschlossener, wilder Regen. Um mich herum gluckert es. Ich beobachte fünf kleine, gesprenkelte Vögel, die in der Wiese vor dem Haus Interessantes finden. Es regnet jetzt dünne Fäden. Zu Hause bemitleidet man mich angesichts des Wetters und des Festsitzens auf dem Berg. Aber ich finde es großartig. Ich komme mir vor wie diese Loriot-Figur, die einfach nur sitzen will.
Ich schaue eine Doku über Uschi Glas. Wäre ich ein Delfin – meine Hirnhälften schliefen abwechselnd ein, so angenehm unterfordernd ist es.
Es regnet in Schnüren. Ich überlege, wann ich kochen soll, und denke: Jetzt noch nicht. Später koche ich mir Nudeln mit Paprika und Zwiebeln. Dann bin ich auch schon wieder müde.
Gelesen | Das 9-Euro-Ticket war nicht nur für Städtern, sondern auch für Menschen auf dem Land attraktiv: Lasst uns Landmenschen da raus.
Ob ein preiswertes ÖPNV-Ticket für uns auf dem Land sinnvoll ist oder nicht, hängt eben nicht davon ab, ob hier ein Bus fährt. Sondern wie weit es zum nächsten Bahnhof ist und wie oft dort der Zug fährt. Ich beispielsweise bin in 12 Minuten mit dem Rad am Bahnhof, wo alle halbe Stunde jeweils ein Zug nach Lübeck und nach Kiel fährt.
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