Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Archiv der Kategorie »Lebenslage«

Begegnung im Bus

6. 10. 2010  •  32 Kommentare

Bus 720 von der Arbeit nach Hause. Die Plätze sind gut besetzt, die Luft ist verbraucht. Ich setze mich neben eine kleine Frau mit dunklen Augen und einem Kopftuch, wie die Mütter der 50er es bei der Hausarbeit trugen.

Der Bus fährt an, ich nehme meinen iPod und schaue einen Film über Betül Durmas, eine türkischstämmige Lehrerin, die an einer Förderschule viele Migrantenkinder betreut. Eine feine Reportage mit leisen Zwischentönen und guter Beobachtung, aber auch eine, die Herrn Sarazzin Recht geben würde.

Die kleine Frau neben mir hebt einen ihrer kleinen Finger und zeigt auf das Bild: „Ist das Fernsehen?“ fragt sie.

„Ja. Nur nicht live. Aufgenommen.“

„Aaaaaaaaaah.“ Sie nickt wissend. „Könnte ich auch gebrauchen“, sagt sie. „Fahre ich jeden Tag zu Burger King mit Bus. Ist 45 Minuten.“

„Arbeiten sie dort?“ frage ich.

„Ja, mache ich Kasse.“ Sie lächelt mich an. Um ihre Augen lachen ein paar Fältchen mit. Sie ist vielleicht 45, 50 Jahre alt. Ihre Haut ist dunkler als meine, capuccinofarben.

„Gehen Sie noch Uni?“ fragt sie.

„Nein“, sage ich. „Ich komme von der Arbeit.“

„Meine zwei Tochter gehen Uni. Die Große macht die Wirtschaft. Die Kleine macht die Jura.“ Sie blickt mich versonnen an und lächelt wieder, aber diesmal ist es ein anderes Lächeln, kein Anlächeln, sondern ein Für-sich-selbst-Lächeln. Sie selbst, sagt sie, habe nicht studieren können. „Nur VHS.“

„Sie sind sicher stolz auf Ihre Töchter“, sage ich und denke: Ausgerechnet jetzt diese Begegnung, während ich diese Doku schaue. Der Zufall ist ein Antagonist.

„Jaaaa“, sie zieht das Wort und wiegt den Kopf, „die Große hatte am Anfang von ihre Studien noch Sehnsucht nach Frankfurt. Weil – kommen wir aus Frankfurt. Mein Mann hat dort gearbeitet bei Versandhandel, und ich auch. Habe genommen Blusen und BHs und in Regale geräumt und mit Etiketten. Dann vor fünf Jahren sind wir hierher. Hat mein Mann neue Arbeit gefunden und ich auch.“

Ich frage sie, was ihr Mann arbeite.

„Mein Mann macht Koch. In deutsche Küche. Mit Schnitzel und Kloß und dieses.“ Sie lacht. „Auch immer zu Hause. Ich: nicht kochen. Nur unsere traditionellen Gerichte. Die koche ich.“

Sie erzählt mir, dass sie aus Sri Lanka komme. Ich erwidere, dass dort das Essen bestimmt sehr scharf sei. Daraufhin glänzen ihre Augen, als habe sie sich eine Chilischote hineingerieben.

„Jaaaaaa!“ sagt sie inbrünstig. „Aber Burger King macht auch mit Jalapeno.“

„Schon“, sage ich, „aber das ist dort nicht scharf.“

Ihre Mundwinkel erreichen fast ihre Ohren, als ich das sage. „Sage ich auch immer! Du könntest essen meine Essen!“ Sie streichelt mir mütterlich den Arm und kneift liebevoll hinein.

Der Bus biegt um die Ecke, und ich sage ihr, dass ich aussteigen müsse. „Wünsche ich dir viele Glück für deine Zukunft“, sagt sie, nimmt mich in ihre kleinen Arme und drückt mich. Ich drücke zurück, steige aus und fühle mich wunderbar gut.

Ode an die Wärmflasche

29. 09. 2010  •  43 Kommentare

Schlotternd sitz‘ ich vor der Diss,
die Hände kalt, der Nacken steif,
ein Gedanke sich dem Hirn entriss:
Es ist soweit, die Zeit ist reif.

Draußen weht ein Blatt vorbei,
der Wind pfeift um die Ecken,
Ich speich’re schnell noch die Datei
und geh‘ sie leise wecken.

„Es ist soweit“, flüst’re ich ihr,
„Oktober ist nun bald,
sei du mein Schatz, meine Plaisir,
das Zimmer ist feuchtkalt.“

Ich greif‘ sie mir und nehm sie mit,
zum Herd, zum heißen Kessel,
Wasser, heiß, in ihren Schritt,
und rüber geht’s zum Sessel.

Wohlig schmiegt sie sich nun, warm,
an meinen Rücken, innig, nah,
draußen krächzt ein Vogelschwarm,
auf seinem Flug nach Kenia.

Ohne dich würd‘ ich arg frieren
im Herzen und im Bauch,
die Lungen würden kollabieren,
der Atem: nur ein Hauch.

Dank dir nun werd‘ ich diesen Winter,
überleben wie zuvor
and’re Winter, davor, dahinter,
als ich auch bitter fror.

Das anstrengende Leben der Doktorandin N.

16. 09. 2010  •  45 Kommentare

7:51
Der Wecker klingelt – frisch ans Werk! Nur weil man zu Hause arbeitet, sollte es nicht an Disziplin mangeln! Einmal Schlummertaste geht aber.

8:00
Nachrichten. Wichtig, um direkt auf Zack zu sein. Danach werde ich sofort aufstehen.

9:02
Immer noch Nachrichten? – Oh. Jetzt aber aufstehen. Heute greife ich an.

9:15
Kein Brot mehr da. Wie kann das sein?

11:00
So, Brot und Aufschnitt eingekauft. Neue Bluse in den Schrank gehängt. Jetzt noch schnell den Sonnenbankgeruch vom Körper duschen und die Zitronen-Bodylotion ausprobieren. Dann bin ich am Start.

11:30
Mann, hab ich einen Hunger! Kein Wunder: Hab ja auch noch nicht gefrühstückt.

12:05
Das war lecker: Brötchen, Schokobrötchen und dazu die verpasste Lindenstraßen-Folge vom Sonntag. Man muss bei allem Stress auch genießen können.

12:10
Noch schnell „Rachs Restaurantschule“ hinterhergucken. Sonst komme ich dort das nächste Mal nicht mehr mit.

13:05
Nach dem Vergnügen kommt die Arbeit – da bin ich knallhart. Texmaker öffnen. Evernote öffnen. Los geht’s.

13:10
Ich könnte nebenbei ein paar Folgen von „Mein Baby“ laufen lassen. Stört ja nicht.

13:45
Stört irgendwie doch. Dann lese ich halt Fachliteratur. Muss auch gemacht werden.

14:30
Was habe ich eigentlich fürs Mittagessen eingekauft?

15:30
So fühlt sich  Mama Miracoli, nachdem sie die Familienportion alleine verdrückt hat.

15:35
Diese Müdigkeit! Jetzt lohnt es sich eh nicht mehr, mit dem Schreiben anzufangen. Schon allein vom Biorhythmus her. Dann kann ich mich auch eine halbe Stunde hinlegen. Power Napping soll gut für den geistigen Output sein. Machen die Japaner auch.

19:00
Was – schon Sieben? Naja, ist ja noch nichts verschenkt. Genaugenommen hat der Tag grad erst begonnen!  Im Studium habe ich schließlich auch immer bis 2 Uhr gelernt.

19:10
Texmaker aufgerufen. Kapitelüberschrift formuliert. Es lässt sich gut an.

19:12
Telefon. Wer kann das sein? Ausgerechnet jetzt, wo ich grad drin bin.

19:50
Nachrichten aus der Heimat empfangen. Mutter ruft die nächsten Tage also nicht mehr an. Das verspricht große Taten ohne Unterbrechungen!

20:00
Schon vier Stunden her, seit ich das Letzte gegessen habe. Jetzt ist das Brötchen von heute früh noch knusprig. Morgen nicht mehr.

20:35
Unter-Überschrift formuliert.

20:39
Ersten Satz geschrieben.

20:41
Sollte ich mir nicht erstmal einen Überblick verschaffen? Vielleicht eine Mindmap machen oder so. Dann geht es hinterher schneller von der Hand.

20:50
Oh scheiße – morgen ist Training, und meine ganzen Sportklamotten sind noch nicht gewaschen. Jetzt aber hurtig eine Maschine anwerfen.

21:00
Vielleicht erst nochmal durch meine Evernote-Notizen klicken, damit ich bei meiner Mindmap nichts vergesse.

21:10
Hihi … geiles Stichwort … da fällt mir eine Geschichte zu ein, die ich bloggen kann.

21:45
Gleich der erste Kommentar. – Zack, geantwortet.

22:00
Boah, bin ich müde. Naja, bin ja auch früh aufgestanden, da darf  man das ruhig sein.

22:05
Nee, Leute, das bringt nichts mehr. Kann mich nicht mehr konzentrieren. Bei sterntv kommt heute auch die Story mit dem Superdicken, der 110 Kilo abgenommen hat, nachdem seine Freundin ihn wegen einer Affäre mit einem Meteorologen verlassen hat.

23:40
Krass, dieser Beitrag über Hypnose. Das klappt sogar übers TV.

23:41
Jetzt aber ins Bett. Ich muss morgen schließlich früh raus.

23:45
Mist, die Sportklamotten sind noch in der Maschine!  Mir bleibt aber auch nichts erspart.

00:10
Schon nach Mitternacht. Dann stelle ich den Wecker lieber eine halbe Stunde später. Sonst bin ich morgen direkt so ausgelaugt.

Grigorij

15. 09. 2010  •  34 Kommentare

Seit ich umgezogen bin und eine Festnetznummer habe, ruft mich Grigorij an. Wir sprechen nicht persönlich miteinander, Grigorij pflegt nur eine Beziehung zu meinem Anrufbeantworter.

Erster Anruf, Mitte Juli:
„Mikail, Grigorij hier. Ruf mich an wegen der Angelegenheit. Du weißt Bescheid.“

Zweiter Anruf, August:
„Hier spricht Grigorij. Es ist etwas schief gegangen. Ich rufe dich mobil.“

Dritter Anruf, gestern:
„Dobroj djen, Mikail, hier Grigorij. Machen wir wie abgesprochen. Melde dich morgen, wenn du am Ziel bist. Viel Glück.“

Grigorij zeigt mir zwar seine Nummer an – ich habe mich aber noch nicht getraut zurückzurufen.

Heldenmut im Schlafzimmer

9. 09. 2010  •  74 Kommentare
Fiese, haarige Spinne

Die Borsten allein. Schauen Sie sich die Borsten an. Dann schauen Sie sich die Klauen an. Sehen Sie diese langen, gefährlichen Klauen vorne am Maul? Schauen Sie außerdem nach hinten. Sehen Sie die klebrige Substanz oberhalb des Hinterteils? Das ist Gift. Es lähmt das Nervensystem. Wenn es Ihre Haut berührt, setzt Ihre Atmung aus – bums, tot. Das geht ratzeschnell. Da machen Sie nix.

Jetzt möchten Sie bestimmt wissen, wie ich die gefangen habe.

Furchtlos! Unerschrocken! Eigenhändig! Nur mit einem Saftglas und einem alten Briefumschlag.

(Schmeicheleien nehme ich in den Kommentaren entgegen.)

Am Zebrastreifen.

28. 05. 2010  •  Keine Kommentare
Der Mercedes hält. Ich gehe rüber und meines Weges. Der Wagen fährt an mir vorbei und hält plötzlich neben mir. Der Fahrer lässt die Seitenscheibe herunter.

Nessy: [denkt, er will nach dem Weg fragen] Kann ich Ihnen helfen?
Fahrer: Sind Sie umweltbewusst?
Nessy: Bitte?
Fahrer: Sind Sie umweltbewusst?
Nessy: Warum?
Fahrer: Man kann als Fußgänger auch mal warten, wenn ein einzelnes Auto kommt. Da muss man nicht über die Straße gehen. Ich muss schließlich abbremsen und wieder anfahren.
Nessy: Und ich komme gerade zu Fuß vom Bahnhof. Das war doch Ihre Frage, oder?

Man sollte viel mehr scheiße sein. Andere sind’s schließlich auch.

Liebesbriefe

25. 04. 2010  •  Keine Kommentare
„Keine guten Nachrichten?“ frage ich den Oberinspektor, der im Treppenhaus an den Briefkästen lehnt und über ein Schriftstück sinniert.

Er ist heute ausgesprochen inspektörlich gekleidet: untenrum karierte Pantinen und ein fleckiger Frotteejogger, obenrum ein sauberes, tipptopp gestärktes Hemd. Er wäre ein klasse Tagesschausprecher. Der Karl-Heinz Köpcke aus dem zweiten Stock.

„Ach, wissense“, sagt er und zwinkert sich eine Träne aus den Wimpern. „Jedesmal, wenn ich wat Liebesbrief kriech, hab‘ ich so Käfer inne Augen.“

Ich weiß, dass ich wissen müsste, was er mit „Liebesbrief“ meint. Oder dass er erwartet, dass ich es weiß. Deshalb schaue ich lange genug ziemlich doof, um nicht fragen zu müssen.

„Is vom Gärtner, wissense. Weil wegen Frühjahr. Letzte Woche hatter meiner Frau mit seine Harke den Schopf gekämmt. Und nu‘ schreibter mir in ihrem Namen wat Liebesbrief. Sind aber nur Zahlen drin.“

Ich muss lachen. „Sie sind echt ’ne Marke“, sage ich, weil mir sonst nichts einfällt. Weil es so schwierig ist, den Inspektor in einer Sache zu trösten, in der das Wort „Trost“ so komisch klingt. Trost, das sind ein Lutscher oder ein Pflaster. Aber welches Pflaster ist groß und warm genug, um eine Liebe zu ersetzen?

„Wissense wat, Frau Nessy“, fragt der Oberinspektor ohne Fragezeichen. „Getz schnapp ich mir ersma mein Bärenticket und fahr‘ zur Landesgattenschau. Und nächste Woche fahr ich mitte Caritas nach Italien.“

„Nach Italien?“ echoe ich.

„Wat soll ich denn hier zu Hause wat sitzen. Da werd‘ ich nur tüdelig von. Und wiederkommen tutse davon auch nich.“ Forsch klappt er die Fußauflage des Lifta herunter. Er schwingt sich in den Sitz und klopft auf seine Frotteeschenkel. „Wollense mitfahren?“

Ein Jahr ist es nun her. Langsam, ganz langsam wird er wieder der alte.

Der Witwen-Code

8. 04. 2010  •  Keine Kommentare
Mein Vater bietet mir immer wieder interessante Perspektiven aufs Leben. Besonders jetzt, wo er und sein Bekanntenkreis langsam älter werden.

So erfuhr ich heute, dass es auf dem Friedhof eine Art Hanky-Code unter den Witwen und Witwern gibt. Wer treu die Blumen auf dem Grab seines Verblichenen gießt und beim Wasserholen die Gießkanne mit dem Trichter nach vorne trägt, ist bereit für eine neue Beziehung. Wessen Ausguss hingegen nach hinten zeigt, der sucht noch nicht wieder.

Vaters Schulfreundin, eine freudvolle Frau Ende 60, hüpfte als junges Mädchen durch Blumenwiesen und schwenkte in der Bewegung die leere Milchkanne. Seit einigen Wochen schlendert sie nun über den Totenacker, die Gießkanne demonstrativ schaukelnd, den Trichter nach vorn.

Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, jetzt ist es wieder Zeit zu geben.

Bahnfahrt mit Knirps

31. 03. 2010  •  Keine Kommentare
S-Bahn durchs Ruhrgebiet. Eine Gruppe kleiner Jungs entert den Zug. Ein besonders kleiner setzt sich mir gegenüber: kleine braune Augen, kleine weiße Milchzähne, kleine schwarze Wilde-Kerle-Mütze. Die Bahn fährt an.

Knirps: Ich fahre erst zum zweiten Mal mit dem Zug.
Nessy: Und? Gefällt es Dir?
Knirps: Es ist so sanft.
Nessy: Stimmt. Und das Geräusch ist schön. Hörst du es?
Knirps: Das summt wie im Raumschiff.
Nessy: Als ob wir zu den Sternen reisen.
Knirps: [nickt versonnen]

Pause.

Knirps: Wir fahren in den Zoo.
Nessy: Cool. Welche Tiere magst Du am liebsten?
Knirps: Die Esel.
Nessy: Die Esel? Nicht die Löwen oder die Giraffen?
Knirps: Die Löwen und die Giraffen finden doch alle toll.

Pause.

Knirps: Die Esel sind besonders, weil sie schön sind. Aber nicht so, dass es jeder sieht.
Nessy: Du meinst, sie sind lieb und haben ein gutes Herz?
Knirps: Sie sind warm und fühlen sich gut an. Das ist viel besser als ein Löwe.

Ich schaue ihn an und bin plötzlich glücklich, ihn getroffen zu haben.



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