Am Wochenende war ich in Inden.
(Nicht Indien. Inden.)
Inden ist ein Ort, den es einmal gab und den es jetzt wieder gibt. Das alte Inden liegt im Rheinischen Braunkohlerevier und sieht jetzt so aus:
Es ist ein ziemlich gewaltiges Loch. Später soll es mal ein See werden – viel später, nach 2030. Bis dahin wird dort Braunkohle abgebaut. Die großen Braunkohlebagger, die am und in dem Loch stehen, sehen sehr klein aus. Dabei weiß man ja, wie groß so ein Braunkohlebagger ist.
Neben dem Loch gibt es den Ort Pier. Auch von Pier gibt es eine alte und eine neue Version. Was von der alten noch steht, sieht so aus:
Es sind nur noch sechs oder sieben Häuschen übrig, ein paar Gebäude, zwei Straßen.
Als ich in Pier ankomme und dort herumgehe, steht vor einem der Häuser ein Mann und schaut hinauf. Er trägt Rennradkleidung, hat einen Helm auf. Er ist ein bisschen älter als ich, vielleicht Anfang 40. Ich frage ihn, ob er hier aus dem Ort komme.
„Meine Eltern hatten die Kneipe hier.“ Er deutet auf das Haus gegenüber, ein Mehrfamilienhaus. Rechts und links vom Eingang hängen zwei kaputte Außenleuchten. Die Leuchtreklame am Haus ist zersplittert. „Es gibt so eine Facebookgruppe von dem Ort hier. Einer hat dort geschrieben, dass es jetzt soweit ist. Dass diese Woche abgerissen wird. Deshalb bin ich nochmal hergekommen.“
„Ich habe gedacht“, fährt er fort, „ich finde noch was. Irgendwas, das ich mitnehmen kann. Aus dem Haus, in dem ich zuletzt gewohnt habe, hier die Straße runter, mit meinen Schwiegereltern, da habe ich nämlich so einen Glasbaustein mitgenommen. Nichts Besonderes. Aber er steht jetzt halt da, in unserem neuen Haus, und ich habe was.“
Er macht eine Pause.
„Was hier alles gefeiert wurde! Männergesangsverein, Sportverein. Alles. Mein Vater arbeitetete eigentlich aufm Amt. Wenn er nachmittags nach Hause kam, ging er hinter die Theke, und je nachdem, wer da war, wenn Freunde da waren, blieb er bis morgens um drei. Er hat dann am Ende nur Cola getrunken, er musste ja am nächsten Tag wieder aufs Amt. Meine Mutter allerdings, das war so eine richtige Kneipenfrau. Die hat schon morgens da gestanden und hat über die Theke gewischt, hat alles sauber gemacht.“
„Haben Sie hier auch mal gewohnt?“, frage ich. „Als Kind?“
„Ich hatte mein Zimmer über der Kneipe. Wir haben alle hier im Haus gewohnt, die Kinder, die Eltern, die Großeltern. Das war so ein richtiges Mehrgenerationenhaus. Als ich zu meiner Frau und meinen Schwiegereltern gezogen bin, hier die Straße runter, konnte ich erst gar nicht schlafen. So ruhig war es.“ Er lacht. „Ich konnte ja jeden Schlager auswendig!“
„Ich war eben nochmal hinten, im großen Saal. Und habe Fotos gemacht. Das ist schon schwer. Wie das jetzt aussieht. So viele Feiern hat’s dort gegeben! Und nach dem Krieg, da gab’s ja keine Kirche im Dorf. Die war kaputt. Da war der Saal eine Notkirche. Das hat mir mein Vater oft erzählt. Damals haben sie dort Gottesdienste gefeiert und alles.“
Er macht eine Pause.
„Ich kann mich an so viele Feiern erinnern. Alles, wirklich alles haben wir dort gefeiert.“
Ich frage ihn, wie weit er jetzt von hier weg wohnt.
„Ach“, sagt er. „Nicht weit. Acht Kilometer. Aber man muss sagen: Wir haben uns schon verbessert. Also, meine Frau und ich. Bei uns gibts jetzt Einkaufsmöglichkeiten direkt um die Ecke, das ist schon schön. Und die Kinder, naja, die kennen das alte Pier ja gar nicht mehr. Das hier ist nur meine Heimat. Die Kinder, für die bedeutet das hier alles nichts.“
„Wann sind Sie umgezogen?“
„2007. Mit meinen Schwiegereltern. Die wollten nicht die ersten und nicht die letzten sein. Wir, also meine Frau und ich, wir waren damals ja nur Mieter. Mieter hatten keine Ansprüche. Aber weil wir mit meinen Schwiegereltern mitgezogen sind, ging das dann.
Meine Eltern, die waren die letzten. Es gab noch einen Installateur, der wollte auch nicht gehen, aber meine Eltern, die waren tatsächlich die letzten. Die sind vergangenes Jahr erst umgezogen. Am Ende rief mein Vater oft an: ‚Die haben schon wieder bei uns eingebrochen!‘ Ich habe dann immer gesagt: ‚Vater, das sind nur Jugendliche, die denken, das Haus steht leer.‘ – ‚Aber es brennt doch Licht!‘, hat mein Vater gesagt. Naja, manchmal hatten sie aber halt auch schon keinen Strom mehr.“
„Mein Schwiegervater konnte sich besser trennen. Der hat ja sozusagen die Bagger gefahren.“
„Das ist schräg“, sage ich.
„Ja, das ist es wirklich. Der wollte zwar auch nicht unbedingt weg, aber er hat sich arrangiert, er wusste ja, dass es irgendwann so kommt. Meine Eltern haben das zwar auch gewusst, aber die haben das immer verdrängt.“
Zwei Fahrradfahrer kommen vorbei. Man grüßt sich. Sie fahren hinter uns weiter Richtung Lucherberg.
„Wir hatten nicht die einzige Kneipe hier. Es gab ja vier Kneipen im Ort. Ganz schön viel eigentlich für so ein kleines Dorf. Aber wir, wir waren nah am Sportplatz. Der war nur 200 Meter die Straße runter – hier, links neben dem Haus. Aber da ist ja jetzt auch Ende. Da kommt man nicht mehr weit.“
„Da rechts der Bauernhof, das rote Gebäude, sehen Sie? Da habe ich immer meine Sommerferien verbracht. Rumgetobt, Heu gepresst, sowas halt. Und mittags gabs Klöße. Milch konnten wir uns aus einem großen Bottich nehmen. Ja, so war das. Waren Sie da schon drin, in dem Bauernhof?“
Ich sage: „Gerade eben.“ Wir stehen ein bisschen da. Es weht ein leichter Wind. Es ist staubig. Ich frage: „Wie ist das eigentlich für Sie, wenn jetzt Leute kommen, so Leute wie ich, die in den Häusern rumlaufen und Fotos machen?“
„Ach, das macht mir nichts. Gehen Sie ruhig nochmal rein. Ist ja nichts mehr da.“
„Wurden Sie denn gut entschädigt? Ich meine, lief das fair?“
„Ja, doch, doch. Rheinbraun hat schon gut entschädigt. Nicht so schlecht, wie manche sagen. Natürlich: Die haben auch nichts zu verschenken. Die haben das Haus geschätzt, Zustand und Baujahr und so. Man musste dann auch handeln und kämpfen, aber das war schon alles okay. Man konnte sich auch Dinge in den Vertrag reinschreiben lassen – was man mitnehmen will, alle möglichen Sachen. Mein Vater hat zum Beispiel seinen Gartenzaun mitgenommen, so ein Metallzaun, der war zwar zehn Jahre alt, aber der war noch gut. Den hat er mitgenommen. Ansonsten zerlegen die hier alles und verwerten es, Kupferrohre und so.“
„Das ganze Vereinsleben, das ist jetzt halt kaputt. Es sind ja nicht alle ins neue Pier gezogen. Einige sind nach Schophoven gezogen, andere woandershin. Die alten Vereine, das hat sich alles überallhin verstreut. Nur die Maigsellschaft hat überlebt, die jungen Leute stellen da richtig was auf die Beine. Aber der Rest, der Fußballverein und so, das ist alles verschwunden. Die meisten Kinder spielen jetzt in Schophoven. Das kann ich ja gar nicht verstehen!“ Er lacht. „Naja, egal. Dabei wollten sie uns einen Fußballplatz im neuen Pier machen, so richtig mit Kunstrasen und so, aber dass wollten die meisten nicht. Ich selbst habe ja am Ende nochmal ein Jahr, im letzten Jahr, hier in Pier Fußball gespielt. Habe extra nochmal den Verein gewechselt. Wir haben Kreisliga gespielt, das ist gar nicht so niedrig für so ein kleines Dorf. Ach so. Der Schützenverein, der ist auch noch da. Aber ich habe das Gefühl, da gibt’s alle drei Jahre denselben Schützenkönig, das sind nur noch so ein paar Leute.“
Ich frage ihn, ob ich aufschreiben darf, was er mir erzählt hat – in mein Blog.
„Na klar“, sagt er. „Schreiben Sie das ruhig auf.“
Wir stehen noch eine Weile da. Dann sagt: „Dann will ich jetzt mal nach Hause. Also, ins neue Zuhause.“ Wir wünschen uns einen schönen Sonntag, er steigt auf sein Rad und fährt den zwei Radlern von vorhin hinterher.