Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Am Wochenende bin ich wieder auf einer Hochzeit. Eines der Handballhühner heiratet, und der Hühnerhaufen ist aufgeregt. Nicht nur wegen der Zeremonie.

Als ich das Hochzeitshuhn und ihren Matze vor eineinhalb Jahren das erste Mal besuchte, fiel mir eine Urkunde an ihrer beider Wohnzimmerwand auf. Sie erinnerte mich stark an meine erste Kreismeisterschaft im Handballbezirk Iserlohn-Arnsberg, damals mit der B-Jugend. Deshalb sagte ich: „Oh, wie schön. Ist der Matze auch mal Kreismeister geworden?“

Im gleichen Moment las ich etwas von „Olympic Games“ und sah die schwere, runde Medaille, die an einem flauschigen Band neben dem Schrieb hing und die nichts von Kreismeisterschaft hatte. Gleichzeitig erschien Matze vor meinem geistigen Auge: groß, breitschultrig und insgesamt von einer körperlichen Konstitution, die eher Championgsleague als Bezirksklasse ist.

Es stellte sich heraus, dass der gute Matze gerne den Kanal auf und ab rudert, aber nicht einfach so, als Familienausflug mit einem Liedchen auf den Lippen, sondern dass er mal einer von Neun im Deutschlandachter war und bis anhin ziemlich viel abgeräumt hat: Weltmeistertitel, Olympia, das ganze Programm halt.

Am Samstag ist nun die große Sause: Die Handballerin heiratet den Olympia-Ruderer, und es werden viele hoch dekorierte, vor allem aber sehr stattliche Championsleague-Ruderer zugegen sein, weshalb die Hühner schon seit Wochen raschelig sind. Wir haben der Braut gesagt: Entweder möchten wir Plätze neben den Ruderern, mindestens aber welche mit Blick auf die Ruderer – das werde die Stimmung ungemein heben und partymäßig zu einem guten Gesamtergebnis beitragen.

Ich fühle zarte Nervosität.

Ein Chick in der U-Bahn quasselt ins Telefon:

„… ’sch bin voll fertich, ey, wegen Schule. Wegen mir könnten die nach den Ferien ers’ma so’ne Anlaufphase machen, so zum Warmwerden ers’ma nur drei Stunden am Tach, so von zehn bis eins oder so, damit du nich‘ gleich voll am Rad am Drehen bis‘. Und dann wär‘ gut: sieben Tage Schule am Stück und dann eine Woche frei statt fünf Tage und dann Wochenende und dann nochma‘ fünf Tage. Kommt aufs Selbe raus, aber dann biste nich‘ so im Arsch, Alta, ich schwör dir, ich bin total am Ende, und heute is‘ ers‘ Montach, ich bin vom Wochenende total am Ende. Wenn gestern jetz‘ nich‘ Wochenende gewesen wär‘, sondern Schule, weißtu, sieben Tage Schule halt, dann wär‘ heute frei und ich wär‘ voll gechillt. Auch für später, für’s Arbeiten fänd‘ ich das gut: sieben Tage arbeiten, dann eine Woche frei, verstehe gar nicht, warum das noch keiner eingeführt hat, Alta, so gehste doch kaputt, ey, immer fünf Tage arbeiten, nur zwei Tage frei und dann wieder fünf Tage, Alta, und wenn du irgendwo anne Kasse sitzt, ey, kannste samstags auch noch arbeiten, das ist voll hart. Deswegen, ich sach‘ dir, ich und Kasse, niemals, ey, eher mach‘ ich Tierarzthelferin, da kannste dich dann auch mal verdrücken und Tiere streicheln und so, dann biste nich‘ schon am Montach so total durch.“

Der Lesehund ist wieder da:

Bücher im Juli und August

Ben Aaronovitch. Rivers of London.
Peter ist Polizist in London, hat gerade seine Ausbildung durchlaufen. Er wird Inspektor Nightingale zugeteilt, der eine eigene Abteilung innerhalb der Londoner Polizei bildet: eine magische. Er kümmert sich um Geister, Vampire und andere sonderbare Gestalten, die sich untereinander bekriegen – unter anderem den Themsegöttern. Der Schreibstil ist humvorvoll, aber die Story verworren. So richtig konnte ich mich auch mit den Charakteren nicht anfreunden. Deshalb habe ich das Buch irgendwann weggelegt.

Gianrico Carofiglio. Ad occhi chiusi (In freiem Fall).
Der zweite Fall von Anwalt Guido Guerreri – und der schwächste der ansonsten guten Reihe. Seine Klientin Martina Fumai will ihren gewalttägigen Ex-Freund vor Gericht, und nur Guerreri traut sich, dem bekannten Mann aus Bari die Stirn zu bieten. Das Buch beschäftigt sich mehr mit Guerreris Innenleben als mit dem Fall und ist deshalb etwas langatmig. Insgesamt ist die Reihe aber sehr zu empfehlen.

Linda Castillo. Die Zahlen der Toten.
Kate Burkholder ist eine ehemalige Amish und Polizeichefin in Ohio. Sie muss den Mörder einer jungen Frau finden, die eines Tages im Schnee auf einem Feld liegt – mit eine eingeritzten römischen Zahl. Natürlich läuft alle auf einen Serienmörder hinauf. Die Geschichte ist spannend erzählt und hat genau die richtige Anzahl interessanter Charaktere. Ich habe das Buch verschlungen, auch wenn am Ende ziemlich klar ist, wer der Mörder ist. Egal: gute Unterhaltung.

Herman Koch. Sommerhaus mit Swimmingpool.
Hausarzt Marc Schlosser verachtet seine Patienten. Er ist berechnend und arrogant, oberflächlich und eigennützig – und aktuell unter Verdacht, einen Kunstfehler begangen zu haben. Das Buch erzählt die Geschichte dieses Kunstfehlers, führt ins Sommerhaus eines Patienten, in dem Schlosser mit seiner Familie Urlaub macht – und in menschliche Abgründe. Herman Koch beobachtet sehr fein und schreibt mit viel Intensität. Mehr verrate ich nicht.

Pierre M. Krause. Hier kann man gut sitzen.
Fernsehmoderator Krause zieht aufs Land in den Schwarzwald und erzählt, was er dort erlebt. Launige Geschichten, leider mit zu wenig Lokalkolorit. Denn was er erlebt, kenne ich genauso aus dem Sauerland.

Mein Körper ist ein wunderlicher Ort.

Seit zwei Jahren habe ich auf der linken Hand einen Altersfleck. Ich finde ihn, ehrlich gesagt, ziemlich hübsch, denn er schaut aus wie eine dicke Sommersprosse. Überhaupt finde ich Altersflecken schön, genauso wie ich Sommersprossen schön finde, weshalb ich einigermaßen glücklich bin, dass ich seit ein paar Jahren auf der Nase und auf dem Jochbein welche kriege, ein ganz paar.

Was ich allerdings auch habe, sind drei Haare am Kinn:

  1. |
  2. |
  3. |

Sie wachsen allerdings nicht gleichzeitig, sondern nacheinander: Haar A wächst, Haar A wird gezupft, dann wäscht B, B wird gezupft, dann C, dann wieder A. Es besteht also ständig die Gefahr, dass ein Haar rausstakst, wo keins hingehört, was optisch nicht von Belang ist, denn die Haare sind blond. Aber dieses Gefühl! Wenn ich das Hexenhaar erst einmal mit der Fingerspitze entdeckt habe, kann ich nicht mehr von ihm lassen.

Sie kennen das vielleicht aus der Pubertät. Es ist wie diese Pickelsache. Sie merken, wie der Pickel wächst, wissen aber, dass in diesem Stadium noch nichts zu machen ist. Der Pickel wird praller und praller, Ihre Finger suchen ihn immer und immer wieder, Sie drücken leicht, aber immer noch lässt sich nichts machen. Im schlimmsten Fall endet es so, dass der Pickel sich von selbst zurückbildet, es nichts zu drücken gibt, Ihre Hände unbefriedigt bleiben, Sie keine Erleichterung verspüren dürfen.

Mit dem Haar ist es so: Morgens vor dem Spiegel prüfe ich immer kurz, ob in meinem Gesicht alles in Ordnung ist – dass die Augenbrauen nicht über Nacht zugewuchert sind und dass ich mir beim Frühstück keinen Milchbart angesoffen habe. Sie wissen ja: Ich neige zu einer ausgeprägten Bridget-Jones-Haftigkeit, erst vergangene Woche ist mir beim Mittagessen eine Nudel in meine Tomatensoße geklatscht, natürlich an einem Tag, an dem ich – Tollpatsch-Grundgesetz §1 – eine weiße Bluse trug. Ich gucke also vorsichtshalber auch aufs Kinn, damit dort nicht ausgerechnet heute Haar B wächst.

Wenn ich bei der Inspektion feststelle: alles in bester Ordnung, kein Nutella im Mundwinkel und keine Zahnpasta am Kinn, keine Haare an ungewöhnlichen Orten, kein Sand mehr im Auge, kein Popel im Nasenloch – dann gehe ich zur U-Bahn. Und auf diesen 300 Metern, Sie werden es nicht glauben – auf diesen 300 Metern von meiner Haustür bis zur U-Bahn, zwischen meinem Sofa, dem Ghettolemmi und der Trinkhalle  wächst Haar B! Ich habe dafür keine Erklärung. Aber es passiert immer wieder.

Bird of Sorrow

[youtube http://www.youtube.com/watch?v=hfxokBEN260&w=480&h=270]

[gefunden bei Frau Reindke]

Even if a day feels too long
You feel like you can wait another one
You’re slowly givin‘ up on everything
Love is gonna find you again

Love is gonna find you, you better be ready then

You been kneelin‘ in the dark for far too long
You’ve been waitin‘ for that spark, but it hasn’t come
Well I’m callin‘ to you, please, get off the floor
Love is gonna find us again
Love is gonna find us, we gotta be ready then

[Hook]
Tethered to a bird of sorrow
A voice that’s buried in the hollow
You’ve given over to self-deceivin‘
Your prostrate bowed would not be leavin‘
You’ve squandered more than you could borrow
You’ve bet your joys on all tomorrows
For the hope of some returnin‘
While everything around just burnin‘

Come on, we gotta get out, get out of this mess we made
And still for all our talk, we’re both so afraid
Well will we leave this up to chance, like we do everything?
A good heart will find you again
A good heart will find you, just be ready then

[Hook]

But I’m not leavin‘ you yet
I’m not leavin‘ you yet
I’m not leavin‘
I’m not leavin‘, yeah, yeah
I’m not leavin‘
I’m not leavin‘, yeah, yeah
I’m hangin‘ on
I’m hangin‘ on
What’s gonna come?
I’m hangin‘ on now
Hangin‘ on (x6)
With the faith full
I’m with the faith full
I’m hangin‘ on
What’s gonna come?
What’s gonna come?
Hangin‘ on
Hangin‘ on
The faith full
The faith full

Ich sitze beim Friseur für Strähnchen.

Neben mir sitzen eine Dauerwelle und einmal Ansatz färben. Beide sind Mitte vierzig, ein bisschen verlebt; Ansatzfärben hat schon graue Haare, das sieht man deutlich, die müssen weg. Die Dauerwelle riecht aus allen Poren nach Zigarettenqualm, ihre Haut ist ganz fahl. Die Friseurinnen ondulieren, drehen Wickler, rühren Farbe, matschen sie auf den Kopf.

Dauerwelle und Ansatzfärben kennen sich aus der Nachbarschaft, das geht aus ihrem Gespräch hervor. Sie unterhalten sich über Menschen, die sie kennen, weil sie sie öfters treffen oder vom Fenster aus sehen. Nää, was ist die fett geworden, und die Dingens, die wirft ihr Altglas immer sonntags ein, unverschämt, die Leute haben keine Manieren mehr, früher hätten wir uns das nicht getraut. Das geht so eine ganze Weile, auch Haustiere bleiben nicht verschont, die kacken nämlich überall hin oder machen so ein lautes Gekreische, da kann man sich mittags nicht mal ’ne Stunde hinlegen, wir sind doch hier nicht bei den Hottentotten!

A propos Hottentotten, sagt die Dauerwelle, hast du gehört, was neulich in der Zeitung stand? Das Asylbewerberheim platzt aus allen Nähten. Und jetzt sollen die auch noch genauso viel kriegen wie Hartz-Vier-Empfänger, die ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben. Und wem nehmen die es dafür weg? Uns, dem einfachen Bürger.

Ansatzfärben nickt. Die Friseurin hat aufgehört, an ihrem Kopf herumzumachen. Die Farbe muss nun einwirken. Ja, sagt Ansatzfärben, das sind sowieso zu viele, die nach Deutschland kommen. Also nicht, dass sie ausländerfeindlich ist, sonst wäre sie ja nicht mit einem Türken verheiratet, aber sogar ihr Mann findet, dass es langsam ein bisschen viel wird – und wenn der das schon sagt!

Ein paar müssen wir schon aufnehmen, wiegelt die Dauerwelle ab. Es gibt ja wirklich einiges Elend auf der Welt, aber die Leute können auch woandershin fliehen, wo mehr Platz ist. Nach Amerika zum Beispiel, dort ist nicht alles dicht an dicht so wie hier.

Ansatzfärben ergänzt, dass diese Asylanten, also, die denken auch, dass uns hier gebratene Hühner in den Mund fliegen. Dabei haben wir auch unsere Probleme.

Ich sage: Wenn ich kurz stören dürfte? Die Asylbewerberzahlen gehen nachweislich seit Jahren zurück, und für einen syrischen Flüchtling ist Deutschland halt ein bisschen näher als die USA. Wenn einem grad die Familie weggebombt wurde, hat man vielleicht nicht so die Kraft, in einem Holzboot über den Atlantik zu rudern.

Die beiden drehen sich in ihren Sitzen zu mir um und sehen mich an, als hätte ich ihnen soeben die Handtaschen geklaut und wedelte nun mit ihren Geldbörsen, bevor ich lachend wegliefe. Die Dauerwelle entgegnet: Bis in die USA vielleicht nicht, aber doch bitteschön bis nach Frankreich. Sie ahnen ja gar nicht, was ich schon mit diesen Ausländern erlebt habe! Seit drei Monaten leben Rumänen bei uns im Haus. Seitdem kommt kein Paket mehr an, obwohl es nachweislich ausgeliefert wurde. Tja, was meinen Sie denn, wo diese ganzen Pakete wohl sind?

Haben Sie schonmal bei DHL nachgefragt?, antworte ich. Dort gibt es die Möglichkeit der Sendungsverfolgung. Damit können Sie sehen, wer das Paket angenommen hat. Dafür muss der Empfänger schließlich unterschreiben.

Ach!, ruft die Dauerwelle und winkt ab. Das ist doch immer das Gleiche, die unterschreiben einfach mit einem falschen Namen. Das kennt man doch.

Haben Sie das denn von der Post überprüfen lassen?, bohre ich nach, aber Ansatzfärben geht nicht darauf ein, sondern erzählt vom Schmutz im Hausflur und kommt dann von Hölzken über Stöcksken irgendwie auf ihren Ex-Mann, und das Ausländerthema ist durch.

Im vergangenen Herbst habe ich das erste Mal die ZDF-Doku über die Huber-Brüder gesehen.

[youtube http://www.youtube.com/watch?v=rvBmvto3ErY&w=480&h=270]

Sie ist online verfügbar. Danach habe ich sie zunächst wieder vergessen – bis ich sie vor etwa einer Woche erneut entdeckt habe. Seitdem habe ich mir zahlreiche Videos der Brüder angesehen: aus Faszination angesichts der sportlichen Leistung, weil das beeindruckende Typen sind und vielleicht auch wegen der hübschen Unterarme.

2006 waren sie im Yosemite-Nationalpark, um einen Rekord im Speed-Klettern aufzustellen: 1000 Höhenmeter an einer überhängenden Wand in 2 Stunden 48 Minuten. Regisseur und Drehbuch-Autor Pepe Danquart hat sie begleitet. Rausgekommen ist der Film „Am Limit„:

[youtube http://www.youtube.com/watch?v=2BADglRe8hg&w=480&h=270]

Die anderthalbstündige Doku ist bei Youtube online. Sie zeigt nicht so viele Kletterszenen wie der ZDF-Film; es geht mehr um die Philosophie des Kletterns, wie es die Brüder pflegen, um die Konkurrenz zwischen den beiden – und um Angst. Wenn Sie sich das Ganze anschauen möchten, empfehle ich, zur Einführung erst den ZDF-Film zu gucken. Das macht die Sache verständlicher.

Der Jüngere, Alexander, klettert übrigens auch ohne Sicherung „free solo“:

[youtube http://www.youtube.com/watch?v=i-1UryJm5yg&w=480&h=270]

In einem Film (Youtube, 52 Minuten) über seine „Free Solo“-Touren – der zwischen den Zeilen vor allem ein Portrait über ihn als Mensch ist – erklärt er die Beweggründe. Ich bin mit mir selbst noch nicht überein gekommen, ob ich das faszinierend oder hirnverbrannt finde. Denn alles kontrollieren zu können, ist natürlich ein Trugschluss.

Wie dem auch sei: Alles drei sind faszinierende Filme, in denen es nur vordergründig ums Klettern geht. Es geht um Persönlichkeit, Leidenschaft, Liebe, Angst, Enttäuschungen, Durchhaltewillen – und vieles mehr, was das Leben ausmacht.

RUHRGEBIET. (nessy) Es waren dramatische Szenen, die sich heute im Ruhrgebiet abspielten: Über Stunden lag der Tomatenbusch Thorsten Zwo unentdeckt auf dem Balkon, umgeworfen vom Wind und ohne Hoffnung auf Rettung. Das Unglück fördert Missgunst und Häme zutage – ausgerechnet in der romantisierten Pflanzenwelt.

Thorstens Unfall

Glück im Unglück: Tomatenbusch Thorsten Zwo ist am Mittwoch umgekippt. Schlimmer
als die körperlichen Verletzungen sind allerdings die seelischen. (Foto: privat)

Sie ahnt nichts Böses, als sie nach Hause kommt, hat frisches Obst eingekauft, möchte sich noch ein Mahl zubereiten. Ein normaler Feierabend, so scheint es. Doch dann Entsetzen bei Frau Nessy (34): Mitbewohner Thorsten Zwo (5 Monate), Tomatenbusch und Hausgenosse, liegt verletzt auf dem Balkon, vom Sockel geweht von einem garstigen Wind. Wie lange er dort ausharren musste – niemand weiß es. Thorsten Zwo steht noch unter Schock, will und kann sich zu Fragen nicht äußern. Fest steht nur: Ihm geht es den Umständen entsprechend gut.

„Ich bin sofort hingelaufen, habe erste Hilfe geleistet“, erzählt Frau Nessy, die auch eine Stunde nach der Rettungsaktion noch sichtlich bewegt ist. Das Schlimmste, sagt sie, sei nicht Thorstens Zustand gewesen, „der war okay, das habe ich gleich gesehen“. Vielmehr hätten die Reaktionen der anderen Pflanzen sie erschüttert. „Besonders Eddie hat vom Leder gezogen, das ging gar nicht.“

Eddie E. (4 Monate) ist die Erdbeerpflanze im Topf neben Thorsten Zwo, ein kompakter, flach gewachsener Busch mit zahlreichen Früchten. „Er hat gemeint, es geschehe Thorsten recht“,  gibt Frau Nessy die Worte des Rosengewächses wieder. „Wer so hoch hinaus wolle, käme halt irgendwann zu Fall.“

Eddie E. bestreitet die Vorwürfe nicht. „Der Dicke macht sich hier breit wie Obelix. Wer so schnell wächst wie Thorsten, der muss auch mal einen Dämpfer kriegen“, stänkert er gegen das Gemüse.

Konkurrenz zwischen Obst und Gemüse ist nicht selten. Das weiß Theo Albrecht, Brombeerbusch mit Erfahrung und Nachbar von Eddie E. und Thorsten Zwo. Er hat Rivalität bereits in der Aufzuchtstation erlebt. „Klar guckt man zu den anderen Stecklingen, um zu sehen: Wie weit sind die? Wo stehe ich grad?“ Besonders zwischen den süßen, aber oft zickigen Erdbeeren und eher bodenständigen Gemüsesorten sei der Argwohn groß. Wer im Hintertreffen sei, bei dem komme schnell Neid auf. „Aber nicht so, dass man dem anderen Böses wünscht. Es ist eher ein gesunder Konkurrenzkampf“, relativiert Albrecht.

Ein normaler Wettbewerb unter Pflanzen also? Frau Nessy ist skeptisch: „Ich werde die Drei in den nächsten Tagen genau beobachten. Wenn es gar nicht geht, muss ich sie auseinander setzen.“

Was bleibt, ist ein mulmiges Gefühl.

Jeder wünscht sich eine Erbtante.

Es gibt Leute, die haben tatsächlich eine. Armin zum Beispiel, ein Freund von Freunden, der am Samstagabend auf einer Party wieder einmal ihre Geschichte zum Besten gab.

Die Tante, genauer gesagt die Großtante, wohnte in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in Berlin – leidlich bescheiden auf 250 Quadratmetern. Allein das Wohnzimmer hatte 100 Quadratmeter – ein Tanzsaal. Jahrzehntelang hat sie als Buchbinderin geschafft, auch mit 80 Jahren noch. Die Firma war ihr Leben. Mehr als 100.000 Kilometer fuhr sie im Jahr durch Deutschland, Österreich und die Schweiz, um Geschäfte zu machen.

Weil sie Spaß an schnellen Motoren hatte, kaufte sie sich mit Ende 70 noch einmal einen neuen Wagen: einen Ferrari. Der Wagen war mehr als prollo, leuchtend gelb, und die PS-Zahl nötigte sie dazu, öfter mal die Geschwindigkeit zu überschreiten. So auch einmal auf der Avus, als sie mit ihrem Großneffen Armin unterwegs war und ein mobiles Blitzgerät sie erwischte. Kurzerhand fuhr sie rechts ran und befehligte ihm: „Nimm den Bolzenschneider aus dem Kofferraum und pack das Ding ein!“ Denn den Führerschein zu verlieren, das konnte sie sich als Geschäftsfrau nicht leisten.

Als Armin, wohl auch aus Unglauben, zu langsam reagierte, herrschte sie ihn an: „Soll ich das etwa machen? Ich bin 79! Ich kann das Ding nicht heben.“

So durchschnitt Armin das Kabel des Blitzgerätes und trug es in den Kofferraum des Ferrari, ehe die Polizei, die in einem Bus im Gebüsch saß und gerade Kaffee trank, etwas bemerkte. Ab diesem Zeitpunkt stand neben vielen Büchern auch ein Blitzgerät in ihrem Tanzsaal.

Als ihre Augen schlechter wurden, verkaufte sie erst die Buchbinderei. Dann musste der Ferrari weg, denn was sollte das Auto herumstehen. Doch wer kauft solch einen Wagen, noch dazu in leuchtend Gelb, und bezahlt – nur Bares ist Wahres – direkt auf die Hand?

Sie zog ihr bestes Kleid an, fuhr zu diversen Puffs, klopfte dort an und sagte, sie habe ein Angebot für den Chef, ob er mal kurz rauskommen könne. Sie präsentierte den Wagen, sagte, was sie dafür haben wolle. Es brauchte nur wenige Besuche, dann war das Auto verkauft.

Weil das letzte Hemd keine Taschen hat, ging sie vor zwei Jahren, mit über 90, noch einmal auf Weltreise. Ihre letzte Karte bekam Armin aus Tonga. Kurz danach starb sie – irgendwo im Südpazifik. Heute ist sie in Berlin begraben, in der Nähe ihrer ehemaligen Wohnung.

Leider hatte sie dort nur zur Miete gewohnt – mit einem Mietvertrag aus dem Jahre 1946 und einem Mietpreis von etwas über drei Euro pro Quadratmeter. Der Ferrari war verkauft, und auf der Weltreise hatte sie einen Großteil ihres Geldes durchgebracht. Das Wertvollste, was Armin also bleibt, ist die Erinnerung an sie. Und ein Blitzgerät.

Seit dieser Woche gibt es ein neues Einkaufsparadies im ehemaligen Ghettonetto: einen Ghettolemmi.

Die Einrichtung ist schlicht: Drahtkörbe und Paletten. Das Sortiment ist es auch. Es gibt nur das, was wirklich nachgefragt wird – also kein Obst und Gemüse. Dafür Restposten an Fleisch, Ketchup, Süßigkeiten und Kaffeepads.

Am Eröffnungstag steht ein magerer, pusteliger Mitarbeiter neben der Eingangstür und tritt von einem Fuß auf den anderen. Luftballons wiegen sich im Wind. Neugierige drängen sich vor den Waren, die den Eingang säumen. Eine Oma wirft mit lässigem Schwung zwei Tüten Chips in den Korb ihres Rollators.

Der Mitarbeiter ist Käpt’n eines hölzernen Glücksrads. Minimal auffordernd stupst er das Rad an. Es dreht sich ratternd und bleibt bei einer Niete stehen. Die Stimmung ist verhalten ausgelassen.

Ich gehe an ihm vorbei, ziehe einen funkelniegelnagelneuen Einkaufswagen aus der Führungsschiene und schiebe ihn durch den Laden. Es gibt Produkte, bei denen das Haltbarkeitsdatum fast abgelaufen ist. Außerdem Waren aus Holland und aus Polen. Die Getränkeflaschen sind größer als anderswo: Riesenkübel mit zwei Liter Fassungsvermögen.

In der Kühlabteilung, einem abgetrennten Raum im Raum, der dröhnend mit kalter Luft bepustet wird, stützt sich eine massige Frau auf ihren Einkaufswagen. Mit ihren Kinns deutet sie auf eine Palette bunter Becher und ruft einem hageren Typen zu: „Kukma, Kinderjochurts! Nur neunzehn Zentz dat Stück. Die isst unsere Dschoi doch so gerne!“ Sie dreht den Kopf zu einem kleinen, pummeligen Mädchen mit blonden Locken. „Wonnich, Dschoi?“

Das Kind, das gerade intensiv eine Auslage von Riesenfleischwürsten studiert, entgegnet aus tiefstem Herzen: „Hääää?“

„Ich hab‘ gesacht, dattu die Kinderjochurts so gern isst. Die gibbet hier für neunzehn Zentz. Da könnwa dir ma watt Gesundes kaufen, dat auch schmeckt.“

Dschoi hüpft freudig auf und ab. Aber das Glück währt nur kurz. Von hinten ruft jemand: „Erbil! Langsam!“, doch es ist zu spät: Ein kleiner Junge fährt Dschoi volles Pfund mit einem Laufrad in die Flanke. Dschoi fängt augenblick an zu heulen, besitzt aber noch ausreichend Geistesgegenwart, um zu einer eingeschweißten Fleischwurst zu greifen. Ansatzlos holt sie aus und schallert Erbil damit eine. Der reißt vor Schreck erst die Augen auf, die Szene gefriert für einen Moment im Raum-Zeit-Kontinuum, dann beginnt er innerhalb von Sekundenbruchteilen derart zu flennen, dass ihm die Speichelfäden das Kinn hinuntertropfen.

Ich kaufe, um überhaupt etwas zu kaufen, eine Packung mit Popcorn, das, wenn man dem Etikett glauben darf, von Daniela Katzenberger persönlich mit Schokolade dragiert wurde, und verlasse den Laden. Neben mir rattert das Glücksrad. Man hätte die Figuren in diesem Aldi-Downgrade nicht besser erfinden können. Das wird ein großer Spaß.



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