Immer, wenn ich bei ihr schlief, lag ich in ihrem großen Bett unter einer schweren Daunendecke und zählte die Blüten, die auf der Tapete wuchsen.
Das Frottee war rau, die Matratze weich. Ihr Kissen duftete nach Waschmittel, nach ihrem Parfum und nach ihr selbst – ein Geruch, der weich wie Watte war und sanft in der Nase kitzelte. Wir beteten das Vaterunser; dann schob sie einen Polstersessel vor mein Bett und ging ins Wohnzimmer, wo sie Sportstudio schaute. Ich lauschte den gedämpften Stimmen und schlief ein.
Sie schaute niemals Volksmusik, niemals Schlagersendungen oder Schmonzetten. Wir sahen uns gemeinsam „Der große Preis“, „Einer wird gewinnen“ oder Spiele von Bayern München an. Sie war ein großer Fan. Wir teilten uns Karlsberger Oblaten und kuschelten uns aneinander.
Wir machten gemeinsam Kreuzworträtsel. Sie war eine sehr gute Kreuzworträtslerin. Jeden Dienstag ging sie zum Kiosk und kaufte sich neue Hefte. Beim Schwedenrätsel war sie unschlagbar, sie wusste alles, sogar Sachen wie „Apostel der Eskimos“. Als sie nicht mehr sehen konnte, las ich ihr vor, sie sagte die Lösung und ich trug sie ein.
Sie war sehr hübsch. Sie war groß, schlank und elegant. Ihre Haut war sehr weich. Sie hatte viele Falten, aber ihre Haut war zart, im Gesicht und auch an den Armen. Sie hatte Sommersprossen auf ihren Unterarmen, ganz viele kleine, und auf der Hand Altersflecken. Als sie nur noch im Bett lag, habe ich ihr Gesicht gecremt. Sie liebte es, wenn ich sie cremte, weil ihre Haut oft trocken war, seit sie kaum noch aß und trank. Sie liebte es auch, wenn ich ihr Haar bürstete, ruhig etwas fester, das tat ihr gut. Wie ein weißer Teppich lag es danach auf ihrem Kopfkissen und glänzte im Schein der Deckenlampe.
An Weihnachten sagte ich ihr einmal, dass sie die beste Oma sei, die es gebe. Ich sagte es, weil ich wusste, dass es unser letztes Weihnachten sein würde. Sie nickte. Sie wusste es auch. Nicht ganz ein Jahr später, heute, am 8. Dezember vor neun Jahren, starb sie. Es war nachts um vier.
Ich besuchte sie noch einmal. Ich musste mich beeilen, denn ich hatte eine weite Anreise. Sie lag da wie die Monate zuvor in ihrem Bett. Ihr weißes Haar ergoss sich auf ein Kissen, ihre Hände waren gefaltet. Sie trug ein Totenhemd und sah sehr erhaben aus.
Ich stand da und beobachtete sie. Es war seltsam, dass sie sich nicht regte, nicht atmete.
Ich wartete. Auf eine Bewegung. Auf ein Zeichen. Auf mein Begreifen.
Wenn ein Mensch im Raum ist, auch wenn es dunkel ist und wir ihn nicht sehen, spüren wir, dass er da ist. Es ist seine Wärme, seine Energie; es ist die Magie, die jeden von uns umgibt.
Ich berührte sie. Zuerst an den Händen, dann an den Wangen. Dann streichelte ich ihr Haar. Es war noch ganz weich. Aber ihre Haut war wie Kerzenwachs.
Sie lag da, aber ihre Magie war an einem anderen Ort.
Ich war allein im Raum.
Wir beerdigten sie an einem windigen Wintertag. Seitdem war ich nur wenige Male an ihrem Grab. Ich brauche nicht dorthin. Ich habe sie immer bei mir.