Dolce far niente | Am 20. Dezember habe ich den Wecker ausgestellt. Seither wache ich auf, wenn ich aufwache, und inzwischen, nach mehr als einer Woche, steuere ich mehr und mehr auf eine leichte Verwahrlosung zu. Nur Sozialkontakte ermutigen mich, mich anzukleiden und das magische Dreieck zwischen Bett, Sofa und Kühlschrank zu verlassen. Ich sah Sissi und eine Dokumentation über die neue Seidenstraße, las ein Buch, hörte Musik, pflegte aber im Wesentlichen die Kunst des Nickerchens. Man soll nicht meinen, dass es nach elf Stunden Nachtschlaf noch möglich ist, tagsüber ein Auge zuzutun. Es bedarf jedoch nicht einmal großer Anstrengung. Es passiert einfach.
Heiligabend | Ein Grund, mich anzukleiden, war Heiligabend. Ich schaffte es, ein Mahl zuzubereiten. Es gab traditionell Fondue.
Zuvor hatte ich Fenster geputzt, bei Regen und Sturm. Wenn es mich packt, dann packt es mich. Dann darf ich es nicht aufschieben, dann muss ich die Fenster putzen, jetzt und hier, denn das nächste Packen wird erst in vielen Monaten über mich kommen.
Es stellte sich überdies heraus, dass es durchaus praktisch ist, bei Regen Fenster zu putzen. Denn die Fenster sind bereits nass, ich musste die Nässe nur gut verteilen, mit Spüli mischen und abziehen. Danach war alles sauber. Nur der Wind war hinderlich, aber irgendwas ist ja immer. Das Ergebnis ist jedenfalls zufriedenstellend, auch nach Betrachtung am nächsten Morgen. Lassen Sie sich also nichts einreden, was Fensterputzbedingungen angeht.
Erster Weihnachtstag | Am ersten Weihnachtstag kleidete ich mich ebenfalls an. Diesmal, um spazieren zu gehen. Ich bin inzwischen in einem Alter, in dem ich Spaziergänge mache, schlendernd, mit taxierendem Blick. Nur die Hände habe ich noch nicht hinter dem Rücken verschränkt – das mindert meine Spaziergeh-Credibility natürlich. Doch es ist unpraktisch, die Hände zu verschränken. Man verliert so schnell das Gleichgewicht.
Ich betrachtete den Strukturwandel in meinem Kiez, die weißen Kästen, frisch gebaut, und die bunten Arbeiterhäuser, abblätternd oder neu angestrichen, dazu Schilf und Graffiti, Baustellen und BVB. Die Trinkhalle ums Eck hatte geschlossen. Der Wind pfiff.
Zweiter Weihnachtstag | Einen weiteren Tag später, es war der zweite Weihnachtstag, beschloss ich, mich nur zwecks Anfahrt anzukleiden. Ich verbrachte den Tag saunierend, schwitzend, schlafend, lesend, schwitzend, schlafend, essend, schwitzend.
Bis tief in den Abend hinein war ich im Aqualand und erlebte Aufgüsse des Todes, Colonia Super Spezial mit vier Durchgängen. Gestandene Männer stiegen mit zusammengekniffenen Augen und aufgeblasenen Backen vom Holz und atmeten erst aus, als sie draußen im Dunst standen. In Schwaden stieg die Hitze von ihren Körpern auf. Schnaufend übergossen sie sich mit Kälte, prusteten wie Walrösser und strichen sich in großen Bewegungen die Nässe von den Bäuchen.
Sitzen blieben nur die Russen. Breitbeinig saßen sie auf den obersten Bänken, Filzhüte auf den Köpfen. Goldketten schwer wie Schiffsschrauben schmiegten sich ins Brusthaar; die Schnauzbärte borstig und dicht wie Baumarktschrubber. Wenn der Saunameister seine Fahne schwenkte und die feuchte Hitze gegen die Körper schlug, hoben sie ihre Arme, segnend wie der Pfarrer in der Christmette, die Augen geschlossen, das Kinn gehoben, der Schweiß troff von ihren Achseln. Zwischen den Aufgüssen legten sie die Hände in den geöffneten Schritt und warteten auf die nächste Runde.
Am Abend dröhnte dazu Musik aus den Boxen. Luis Fonsi schrie „Espacito!“ in die Menge nackter Leiber, es gab Aufguss mit Slibowitz, die Russen klatschten und schunkelten, die Bänke bebten. Wenn es nach ihnen ging, könnte es acht, zehn und mehr Durchgänge geben.
Zwischen den Jahren | Am Samstag kleidete ich mich an, um den Kochstammtisch zu besuchen. Freunde hatten eingeladen. Es gab Reibeplätzchen mit Zwiebeläpfeln, Lammkeule mit Möhren und Buchweizen und zum Nachtisch ein Schoko-Kirsch-Küchlein mit Portweineis. Erst um 2:30 Uhr war ich wieder daheim. Man hält erstaunlich lange durch, wenn man tagsüber ausgiebig Nickerchen macht.
Anwesende Kinder beschäftigten sich undigital mit Webrahmen und Bügelperlen, die niemand bügeln musste. Stattdessen half Wasser. Es war friedlich und schön und lecker.
Gelesen | Charly Kühnast hat zusammengeschrieben, welche Geschichte der Ausdruck „Zwischen den Jahren“ hat.
Gelesen | Gebt den Kindern einen Grund zum Lernen. Einblick in die Unterrichtsstrategien in Neuseeland.
Kommentare
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„…Aufgüsse des Todes…“ – sagenhaft, ich glaube, da muss ich auch einmal hin…
bei uns in Österreich gibts das nur in Gmünd – der „Granitbeisser-Aufguss“
und übrigens danke für deine schönen Geschichten!
Gern. Also, bis zur zweiten Runde geht’s, da ist alles easy. Aber danach.
Ich gratuliere zu diesen schönen Tagen! Hier war es ähnlich, es war entspannt, es war einander zugewandt und, in meinem Fall wichtig, ohne Sauna.
Den Jahreswechsel wünsche ich ähnlich entspannt, wir erleben diesen in Hamburg, ganz spießig dank Busreise, Stadtrundfahrt, Halbverpflegung und den Jahreswechsel im Hafen.
Rutschen Sie gut rüber nach 2020 – wir lesen uns!
Rutschen Sie auch gut rüber! Ich werde entspannt im Kreise von Menschen feiern, essen, trinken und um Mitternacht eine Wunderkerze in die Höhe halten.
Klingt wie ein Weihnachten wie es sich viele wahrscheinlich wünschen.
Besser als zwischen nörgeliger Verwandtschaft zu sitzen – was man andernorts so hört.
Herrje, unterdessen verschränke ich die Arme auf dem Rücken beim Spazierengehen. Aber nur, wenn ich angestrengt nachdenke. Kaufe ich mir bald Kleidung in beige???
So ganz sicher kann man das nicht beantworten, aber ich würde die Entwicklung auf jeden Fall beobachten.