Nachmittags ab 14 Uhr kommt die Sonne rum. Dann verlege ich auf den Balkon. 18 Grad – das genügt zum Dasitzen und Arbeiten, warm und flauschig im Hoodie, wie diese hippen Internetmenschen das im Home Office eben tun.
Mein Balkon geht zur Straße raus – im Gegensatz zum Garten, der an einen anderen Garten grenzt, der an einen weiteren Garten grenzt, was eine parkähnliche Idylle ergibt. Der Balkon aber geht ins Leben.
Das Leben sitzt rechts von mir. Und es fährt unter mir herum.
Rechts sitzt meine Nachbarin, auch immer ab 14 Uhr. Sie geht morgens schon um 6 Uhr zur Arbeit, deshalb ist sie am frühen Nachmittag wieder da. Sie ist dann erschöpft und legt sich zur Erholung in ihre Balkonliege. Oder sie setzt sich – die Augen über der Brüstung, ein Kippchen auf den Lippen, den Blick auf die Straße. Nicht, dass sie jemand Bestimmten beobachtet – nein, nein. Es handelt sich eher um ein allgemeines, breit gefächertes Interesse.
Ich selbst schaue auch hinunter auf die Straße – unweigerlich. Denn ich sitze ja. Ich arbeite schließlich. Im Gegensatz zur Nachbarin bin ich nicht konkret am Geschehen auf der Straße interessiert oder sagen wir: war es bislang nicht. Mit dem Balkonsitzen ist es allerdings wie bei einer guten Serie: Man kommt langsam rein, und irgendwann nicht mehr raus.
Gegenüber zum Beispiel (also, nicht direkt gegenüber, etwas dahinter) ist jemand ausgezogen. Dort ziehen nun neue Leute ein. Das wäre völlig uninteressant, hätten sie uninteressante Möbel. Doch sie haben einen Geschmack, der zwischen Neuschwanstein 1869 und WWF-Club 1984 changiert: Glänzend rosa lackierte Bauernmöbel treffen auf mannshohe, selbst leuchtende Plastetulpen. Täglich kommen zwei Männer, die neue Möbel mitbringen, stets in einem Kleintransporter, der nur drei Teile fasst. Die Spannung steigt mit jeder Anlieferung. Zuletzt waren Balkonmöbel drin, die nicht auf den Balkon passten. Die neuen Nachbarn drehten und wendeten die großen Rattan-Lounge-Liegen. Erst linksherum, dann rechtsherum, dann über den Kopf um sich selbst. Aber es war nichts zu machen. Also wieder runter mit dem Zeug, zurück in den Kleintransporter.
Der Kleintransporter steht bei jeder Anlieferung fürchterlich im Weg. Denn meine Straße, eigentlich eine Anliegerstraße, ist baustellenbedingt derzeit eine Durchfahrtstraße. Allerdings eine Durchfahrtstraße, die immer zugeparkt und ohnehin eher eng ist – selbst ohne Kleintransporter, und mit erst recht. Das provoziert Emotionen.
Der UPS-Fahrer brüllt immer sehr laut. Ich höre ihn schon schreien, wenn ich ihn noch nicht sehe. „Fahr, du Penner!“, schallt es durch die Straße. „Verpiss dich, du Arsch!“ Er hupt dafür sehr wenig.
Volkswagen-Fahrer hingegen hupen überdurchschnittlich viel. Das ist mein Eindruck. Mercedes-Fahrer stehen dafür öfter im Weg, weil sie meinen, fahren zu müssen, wo sie nicht fahren können – in der Erwartung, der Entgegenkommende werde schon ausweichen. Tut er aber nicht. Denn er ist ein VW-Fahrer. Er hupt lieber.
„Dat wird immer schlimmer“, ruft mir die Nachbarin von rechts zu, die Nase über der Brüstung. „Ich kann kaum noch schlafen.“ Ob nachts oder am Nachmittag, ist nicht klar. „Fünf Monate soll das noch so gehen. Ich werd‘ verrückt!“
Vergangene Woche musste zweimal die Polizei kommen, weil Menschen sich die Außenspiegel abgefahren hatten. Großes Hallo! Da kamen dann auch die Rentner über uns auf den Balkon. Die, die bei diesen Temperaturen noch drinnen sitzen. Aber im Wintermantel ging’s, da war’s doch warm genug.
Gestern Nachmittag kam dann noch Vatta vorbei, auf eine Fassbrause. „Hier ist ja richtig was los“, meinte er, während wir auf dem Balkon saßen und der UPS-Mann den Kleintransporter anschrie.
„Prost“, rief die Nachbarin von rechts.
„Prost“, rief Vatta zurück und hob die Flasche. Und zu mir: „Ich glaub‘, ich komm‘ jetzt öfter.“
Kommentare
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Moin! Was ich mich spontan frage: Liest Vatta eigentlich mit? Mein Balkon hat auch Bauerntheaterqualität. Imma. Feine Restwoche noch.
Nicht, dass ich wüsste. Ich halte es aber nicht für ausgeschlossen. Wäre auch nicht schlimm.
Hach, schön, wieder Nachbarn-Fortsetzungs-Geschichten! Du scheinst in eine dafür wieder gut geeignete Gegend gezogen zu sein :-D!
Eigentlich ist das nicht gegend-abhängig. Ich wohne in einer sehr ruhigen Siedlung, aber am Balkon kriegt man halt viel mit. Wenn der Wochenend-Papa die Kinder zurückbringt, der andere Nachbar mit seinen Kindern zum Skifahren ausrückt (wo ist Mama?), der ältere Herr, der so schlecht gehen kann, mit dem Moped um die Ecke gesaust kommt, den Gehstock auf das Moped geklemmt, die Nachbarin am Balkon mit sehr lauter Stimme telefonisch ärztliche Tipps an irgendwelche Bekannte gibt, oder manchmal auch von Balkon zu Balkon sich erkundigt, ob denn die Vasektomie gut verlaufen ist… Nachbarn geben immer gute Geschichten her.
Ärztliche Tipps – wunderbar. Sollte Ihnen die Bekannte irgendwann mal begegnen, können Sie direkt in Kontakt treten: „Diese Furunkelgeschichte muss wirklich leidig gewesen sein. Geht’s denn inzwischen besser?“
fünf Monate, püh! da kann ich nur müde lächeln. Die Bundesstraßenkreuzung hier um die Ecke wird 18 Monate in Bau sein, und erst am Aschermittwoch (wie passend) hamse damit angefangen …
Hinterher wird uns wohl keine Umleitung mehr aus der Fassung bringen können — sofern wir noch eine Fassung haben
In der Zeit könnten Sie sich auch woanders ein Haus bauen.
Also … nach dem Lottogewinn.
Sehr schön! Unser Balkonblick ist längst nicht so aufregend, da gibt’s nur grün, aber das ist ja auch nicht schlecht.
Als ich kürzlich mal zu Camping-Hahn inne Schüruferstraße wollte und dazu eine ewig lange Umleitung über Aplerbeck fahren musste, da bin ich bestimmt unter Ihrem Balkon hergefahren. Hoffe, das Motorrad war nicht zu laut.
Schönen Tag noch!
Kohlensiepenstraße meinte ich natürlich.
…. ich habe jetzt dreimal BalkAn Office gelesen und mich gewundert …. :-)
Ich finde das bewundernswert. In meinen bisherigen Selbständigkeiten habe ich eine Sache ganz sicher klären können: Ich brauche einen Ort, an den ich bewusst „zur Arbeit gehe“. Ein heimisches Büro ist für mich zwar selbstverständlich, jedoch keinesfalls ein echter Arbeitsort.
Ich besitze einfach nicht die Disziplin, kontinuierlich meine Aufgaben abzuarbeiten, wenn ich daheim bin. Draußen arbeite ich viel, lange und oft bis über den Erschöpfungspunkt hinaus. Es ist derzeit (im Angestelltenverhältnis) durchaus möglich, dass ich bis zur Grenze des vom Arbeitgeber erlaubten arbeite. Weil es mir Spaß macht, das steht außer Frage.
Aber „Home Office“? Das geht bei mir nicht gut. Ich müsste mir tatsächlich, auch wenn das seltsam ist, ein kleines Büro mieten, in das ich gehen müsste. Das könnte glatt in der Wohnung gegenüber sein.
Meine Mutter war auch sehr begeistert vom Balkon meiner ersten eigenen Wohnung, da war richtig was los auf der Straße. Man brauchte nur da sitzen und wurde vom feinsten unterhalten. Das hat ihr als Programm bei Besuchen fast am Besten gefallen :-D
Unser jetziger Balkon ist da nicht ganz so ergiebig, aber es gibt einige Konstanten im Ablauf. Die Frau mit Hund, der erstaunlich oft um den Block geführt wird, man könnte meinen er hat eine schwache Blase. Längere Beobachtungen haben aber ergeben, dass es wohl eher so ist, dass besagte Frau auf der Suche nach Gesprächspartnern ist.
Der ältere Herr der gelegentlich an der Kreuzung steht und wartet. Worauf weiß keiner, der Bus fährt hier nicht. Gelegentlich treffen andere Herrschaften dazu, gerne auch die Frau mit Hund.
Der Mann mit dem Elektrorad. Bei gutem Wetter kommt er, in der einen Hand den Rucksack, in der anderen Hand den Akku aus dem Haus und holt sein Rad aus der Garage um zu einem Ausflug aufzubrechen.
Der junge Mann mit dem Kinderwagen und dem Smartphone vor der Nase. Es erstaunt immer wieder wie geschickt er Bäumen, Autos und Co ausweicht, eventuell nutzt er die Kamera-App zur Navigation.
Leider ist die Akustik hier so schlecht, ich bekomme von Gesprächen auf der Straße nix mit und Nachbarbalkone gibt es auch nicht.
Über den Dorfklatsch bin ich daher nur unzureichend informiert.
Auch wenn’s noch so unterhaltsam ist…. ich bleib doch lieber auf’m Land
Grüßken sylvi