Deutschland feiert 50 Jahre Anwerbeabkommen bei der Türkei. Die Leute sprechen über das Zusammenleben von Deutschen und Türken. Ich möchte dazu eine Geschichte erzählen.
Es war mein erster Tag in der Grundschule – der erste richtige Tag nach der Einschulung. Die Tische standen in der Form eines U. Ich saß mit dem Rücken zum Fenster. Ich war schüchtern, weil ich niemanden kannte. Mir gegenüber, am anderen Ende des Raumes, mit einer Uhr aus Bastelkarton im Rücken, saß Nurhan. Ich wusste damals noch nicht, dass sie so heißt. Sie sah mich und lächelte. Sie war auch allein.
In der großen Pause ließ ich sie mit meinem Seil springen. Sie war dick und konnte es nicht gut. Aber es war egal. Wir waren jetzt Freundinnen. Zu Hause fragte ich, ob ich Nurhan einmal einladen dürfe. Meine Mutter fragte: „Nurhan? Was ist das für ein Name? Ist das eine Türkin?“
Ich sagte, ich wisse es nicht. Ich hatte noch nicht darüber nachgedacht. Ich sagte, sie sei meine Freundin in der Schule.
Ein paar Tage später kam Nurhan zu mir. Sie hatte ihre kleine Schwester dabei. Meine Mutter sagte nur: „Das war so nicht abgemacht.“
Die kleine Schwester war ein bisschen ungezogen und hüpfte über unser Sofa. Am Ende des Tages sagte meine Mutter, Nurhan dürfe nicht mehr wiederkommen.
„Auch nicht allein?“ fragte ich.
„Sie kommt sowieso nicht allein. Die bringen immer ihre ganze Familie mit.“
Ein paar Mal war ich noch bei Nurhan spielen. Sie hatte keine Barbies und auch kein Lego, nur eine einzige Puppe. Wir spielten Vater-Mutter-Kind oder malen. In der Wohnung roch es komisch. Es war immer laut, weil Nurhan nicht nur eine Schwester, sondern auch zwei Brüder hatte. Wenn der Vater oder die Mutter sprachen, verstand ich sie nicht. Ich spürte, dass sie sich freuten, dass ich da war. Sie streichelten mir über den Kopf, drückten mich und sagten dann etwas, das sehr weich klang. Aber ich fühlte mich komisch. Ich wusste nicht, ob ich alles richtig machte. Irgendwann ging ich nicht mehr hin.
In der Schule lächelten wir uns weiterhin an, verstohlen wie Verliebte. Wir sprangen Seil, teilten uns Lakritz und beim Völkerballspielen nahm ich sie an die Hand und zog sie übers Spielfeld, weil sie nicht sehr flink war und die anderen sie immer als erstes abwerfen wollten. Am Ende der Grundschule kam Nurhan zur Hauptschule. Sie hatte nicht gut lesen und schreiben gelernt. Ich ging aufs Gymnasium.
Vor ein paar Jahren traf ich Nurhan wieder, in meiner Heimatstadt. Sie hat inzwischen Kinder und einen türkischen Mann. Wir lächelten uns an wie früher und unterhielten uns kurz. Dann gingen wir wieder auseinander.