In meinem Hotel wohnten zahlreiche Söhne:
Männer in mittleren Jahren, die mit ihrer Mutter den Urlaub zubrachten – Vertreter des Typus „Schwiegertochter gesucht“, kauzig, unbeholfen und gekleidet wie ihr Großvater. Seltsamerweise gab es keine weiblichen Pendants dazu, also keine reisenden Töchter; nur Söhne reisen offensichtlich im Doppelzimmer mit ihrem Elternteil.
Einer von ihnen war mit seinem Vater unterwegs.
Der Vater ist ein Mann mit feudaler Aura. Er ist groß, schlank und bewegt sich mit Eleganz. Ein weißer, kurz geschnittener Haarkranz umrahmt seinen Kopf, ein Henriquatre seinen Mund. Er ist um die 70. Sein Sohn, ein Mann um die 40, wird seine Frisur erben: Sein Haar ist bereits licht. Er hat ein Sitzbäuchlein und einen Rundrücken. Selbst wenn er aufrecht steht, ist er in sich zusammengesunken.
Jeden Morgen brechen sie zu einer Radtour auf, schieben ihre Fahrräder durch die Eingangshalle des Hotels und präparieren sie vor dem Eingang. Der Sohn trägt, von unten nach oben: eine Wandersandale der Marke „Mit Klettverschluss über Stock und Stein“, Hansaplast-farbene Thrombosekniestrümpfe, es folgt ein Stück freies Knie, eine in zartem Pastell gemusterte Shorts, ein professionelles Radfahrtrikot mit Werbeaufdrucken und eine Kappe mit Nackenschutz gegen die Sonne. Der Vater ist ebenso gekleidet, allerdings ohne Kniestrümpfe. Gegen 10 Uhr radeln sie los, gegen 17 Uhr sind sie wieder da.
Am ersten Abend sitzen sie neben uns im Restaurant. Der Vater erkennt mich sofort als Dame, die ohne Herrenbegleitung reist. Er nickt mir freundlich zu und wünscht vernehmlich „Guten Abend. Sie reisen alleine?“
„Mit einer Freundin“, sage ich.
Er lächelt. Während des Essens ermuntert er seinen Jungen mit Blicken, ein Gespräch zu beginnen. Der Sohn rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her und ringt sich zu der Frage: „Waren Sie schon in einem der Themen-Restaurants?“ durch. Er trägt heute Abend ein schwarzes, übermäßig großes Hemd mit Segelbooten in verschiedenen Neonfarben. 1986 war er damit bestimmt der Held unter der Diskokugel.
Ich sage: Ja, wir seien bereits im Tapas-Restaurant gewesen, und erzähle ihm von der Speisenfolge und dem Service. Er schweigt. Das Gespräch verebbt. So geht es mehrere Abende: Der Vater arrangiert einen Tisch, der Sohn ist steif wie der Römerkragen eines Diakons. Wir nicken uns meist nur freundlich zu.
Dann der letzte Abend. Ich mache mich zurecht und tusche mir die Wimpern: Morgen bin ich nicht mehr da; Sohn soll nochmal etwas zu sehen bekommen. Ich arrangiere einen Tisch neben den beiden, und während der Vorspeise frage ich: „Ihr macht immer Fahrradtouren, ne? Wo fahrt ihr denn immer so hin?“ Ich möchte endlich wissen, wo die beiden jeden Tag hinfahren.
Der Vater lächelt und nickt seinem Sohn zu, er möge doch antworten. Der hat plötzlich Worte gefunden, ein wahrer Schwall von Sätzen entkommt seinem Mund. Er erzählt von jedem Stein und jedem Strauch, den sie auf ihrer Tour nach Teguise und zum Mirador des Rio passierten. Ich frage nach seinem Namen. Er heiße Bernd, antwortet er. Und: Er sei EDV-Sachbearbeiter im öffentlichen Dienst. Er erzählt mir von seinem System der Dateienarchivierung, dass er immer ganz korrekt sei. Darauf sei er sehr stolz. Es mache ihn nervös, wenn etwas nicht ganz in Ordnung sei. Seine Wangen sind gerötet.
Am Tag unserer Abreise stehen sie wieder in Radmontur vor dem Hotel.
„Oh“, sagt Bernd, „Sie reisen schon ab?“ Er bleibt standhaft beim Sie.
Ich bejahe und erkläre mein Bedauern.
Wir unterhalten uns noch ein wenig. Dann reise ich ab.