Das Wochenende in Bildern
Ich habe eine neue Kamera: eine Panasonic Lumix LX-7. Deshalb nun: das Wochenende in Bildern. Mit dabei: Gartencontent. Den gab’s schließlich seit mindestens einer Woche nicht mehr.
Ich habe eine neue Kamera: eine Panasonic Lumix LX-7. Deshalb nun: das Wochenende in Bildern. Mit dabei: Gartencontent. Den gab’s schließlich seit mindestens einer Woche nicht mehr.
Ich lebe in einer Einflugschneise.
Schon bevor ich diese zauberhafte Wohnung mit Garten und Balkon erwarb, bevor ich hier einzog und Rotkohl und Mangold und Thorstis pflanzte, lebte ich in einer Einflugschneise. Es ist schwierig, in Dortmund nicht in oder am Rande einer Einflugschneise zu wohnen, zumindest nicht, wenn man in einigermaßen netten Stadtteilen leben möchte.
Mir macht es nichts aus, Dortmund ist ja kein Großflughafen. Es gibt Tage, an denen fliegen nur drei oder vier Maschinen übers Haus, von denen ich etwas mitkriege. An anderen sind es ein paar mehr. Ich schaue in den Himmel, betrachte den Flieger und überlege mir, woher er wohl gerade kommt, was für Menschen darin sitzen und ob sie froh sind, wieder zu Hause zu sein, oder eher nicht. Manchmal gucke ich ins Flightradar, oft aber höre ich die Maschinen kaum, vor allem nicht, wenn ich alleine bin und etwas arbeite.
Trotzdem frage ich mich, ob wir so viele Flughäfen brauchen. Denn Dortmunds Flughafen ist defizitär – und mal ehrlich: Es gibt wirklich genug Alternativen rundherum. Düsseldorf, Köln/Bonn, Münster/Osnabrück, Paderborn/Lippstadt – für Urlauber und andere Flüchtende sollte es kein Problem sein, von hier fort zu kommen. Alle umliegenden Flughäfen sind nur zwischen 70 und 130 Kilometer entfernt, und auch wenn man nicht in Dortmund wohnt, sondern in Hagen oder Arnsberg oder Castrop-Rauxel sieht es mit der Strecke, die man zum nächsten Flieger zurücklegen muss, nicht anders aus. Was Frachten angeht, kann ich den Bedarf schlecht beurteilen, aber er scheint mir immerhin genauso fragwürdig.
Ich selbst bin in den vergangenen zehn Jahren nur einmal vom Dortmunder Flughafen aus geflogen: eine eintägige Geschäftsreise nach München. Zu allen anderen Zielen bin ich aus Köln oder Düsseldorf gestartet. Da frage ich mich schon, was das soll und ob so ein Flughafen nicht auch ein Prestigeobjekt ist, etwas, das man haben muss, um Bändchen durchzuschneiden und Sektchen zu trinken, um zu sagen: „Wir tun etwas, um attraktiv zu sein!“ – für Menschen und für Firmen, auch wenn diese ihn gar nicht brauchen und ohnehin niemals ins Ruhrgebiet kommen würden, sondern sich lieber direkt in Düsseldorf ansiedeln, weil es dort auch den Rhein gibt und weil alle meinen, es sei dort nicht so asi und schmuddelig wie in Dortmund. Dabei ist es in Düsseldorf mindestens genauso uselig wie in Dortmund, wenn man mal aus der hübschen, alkoholseeligen Altstadt rausfährt – wenn nicht gar noch schäbbiger (ich habe fünf Jahre in Düsseldorf gewohnt und kann das beurteilen). Aber das ist eine andere Geschichte.
Wo war ich stehen geblieben? Mir soll es wurscht sein. Sollen sie starten und landen, wie sie mögen. Ich stelle mir jedenfalls vor, wie die Menschen im Flieger sich freuen – einige, weil weil sie heim kommen, und einige, weil sie fort fliegen.
Jeden Tag ist er da und trinkt einen Automatenkaffee.
Erst flaniert er durch die Einkaufsstraße, sich zögerlich umsehend, bedächtig und mit den Händen hinter dem Rücken, als warte er auf den Bus und dürfe sich nicht zu weit von der Haltestelle entfernen. Gegen 14 Uhr kehrt er in die immer gleiche Bäckerei ein, in der er am immer gleichen Tisch mit seinen immer gleichen Kumpels sitzt: der Eine trägt eine Prinz-Heinrich-Mütze, der Andere einen grauen, über den Ohren hitleresk abrasierten Kurzhaarschnitt.
Er selbst trägt Toupet, das toupet-igste Toupet, das man sich ausdenken kann: Als schwarzes, borstiges Fell thront es auf seinem grauen Haarkranz, einem überfahrenen Eichhörnchen nicht unähnlich. Leise für mich selbst, wenn ich mir zur immer gleichen Zeit meinen Mittagspausenkaffee ziehe, nenne ich ihn „König Fiffi“, den Herrscher der Bäckerei, den Mann mit der Zweithaarkrone.
Die Drei aus der Bäckerei sind allesamt Rentner, müssen es sein. Seit längerem stelle ich mir vor, was König Fiffi einst tat, was er arbeitete, was er erlebt hat und was ihn dazu bewegt, dieses Toupet aller Toupets zu tragen. Vielleicht war er ein Model, ein Dressman, einer der heißesten Typen neben Cary Grant – bis ihn seine Haare verließen, wofür er sich fürchterlich schämte. Er kaufte sich ein Toupet, verlor aber trotzdem seinen Job und lebt nun fern der Glamourwelt in Dortmund, zwar mit Fiffi, um der alten Zeiten willen, aber dennoch – von kärglicher Altersrente.
Oder er war Friseurmeister, Meisterfriseur und Gründer des umsatzstärksten Zweithaarstudios im Ruhrgebiet: „Wolfgangs Echthaar – natürlich und diskret“, vertrauliche Beratung in separaten Räumlichkeiten, einfühlsam und ohne Vertragsbindung, in harmonischem Ambiente in Waltrop-Brockenscheidt, typgerechtes Styling für den Herrn und die Dame. Wie Optiker stets Brillen tragen, setzte auch König Fiffi ein Toupet auf – und vergaß es bei seinem Renteneintritt 2007 schlichtweg abzunehmen, weshalb es immer noch auf seinem Kopf herumliegt, schwarz und dicht und drahtig.
Vielleicht ist aber auch alles ganz anders, und der König war in den 80ern Mitglied der „Hell’s Angels Saarland“, bis er sich mit den Jungs überwarf und bei den Bullen auspackte, was für ihn in einem Straßenkampf endete, den er nur schwer blutend überlebte. Er wurde erst in ein Krankenhaus gebracht, dann wurde er Kronzeuge, bekam eine neue Identität als Horst Schlüter aus Hagen-Boele und wohnt seither inkognito in Dortmund, mit Schutzprogramm und allem Schischi – aber immer noch volltätowiert einschließlich Kopfhaut. Deshalb spendiert ihm die Staatskasse alle fünf Jahre ein Toupet; doch die Steuermittel sind knapp, das Budget entsprechend klein, graues Haar ist zu teuer, und so ist es zuletzt das schwarze Fiffi aus Synthetik-Fasern geworden – für 39,90 Euro während der Wohlfühlwochen bei Aldi Nord. „Je auffälliger, desto unauffälliger!“, befindet die Behörde, aus der Not eine Tugend machend – und bislang lebt der König tatsächlich unbehelligt.
Ja, ich denke, eine der drei Geschichten wird es sein, so oder ähnlich.
Montag, 18 Uhr. Das Büro ist leer. Alle Kollegen sind fort. Versprengte Fußballverweigerer stolpern über den Westenhellweg, Dortmunds Einkaufsstraße. In einer anderen Welt, einer Weltmeisterschaftswelt, pfeift ein Mensch das Spiel Deutschland gegen Portugal an.
Ich bin auf dem Weg zum Russischkurs. Meine Lehrerin ist Ukrainerin und mag klassische Musik. Weder spielt die Ukraine bei der WM, noch wird im Stadion klassische Musik gegeben. Also findet der Kurs statt, da kennt sie nix.
Kurskollege Kadir ist nervös, schielt minütlich auf sein Handy. Doch er braucht seinen Liveticker nicht: Kaum ballt Kadir das erste Mal siegesgewiss seine Hand zur Faust – ping-ding-ding, bimmelt das Handy der Lehrerin für eine SMS. Sie schaut aufs Display und sagt: „Adin – nol“, eins zu null. Entschuldigend fügt sie hinzu: „Meine Freundin. Völlig verrückt. Fußball, Borussia, WM. Jedesmal schreibt sie mir, wenn ein Tor fällt. Ob es mich interessiert oder nicht.“
Eine Gelegenheit, tiefer ins Thema einzusteigen.
Сегодня Германиа играет с Португалией.
Heute spielt Deutschland mit Portugal: Im Russischen, so die Lehrerin, spiele man miteinander, nicht gegeneinander, rein sprachlich gesehen – der Russe an sich sei friedliebender Natur. Das zeige sich auch am Wort мир, Welt, das gleichzeitig „Frieden“ bedeute. Die Weltmeisterschaft, чемпионат мира, sei also auch eine Meisterschaft des Friedens. Hach, so schön.
Der Satz bietet neben philosophischem Diskursstoff handfeste Möglichkeiten, den Instrumentalis zu üben. Die Lateiner kennen diesen Kasus: Es handelt sich um eine Art Ablativ, eine von zwei russischen Ergänzungen zu Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ. Denn der Russe an sich ist nicht nur friedliebend, sondern dekliniert auch gerne Substantive durch, wenn er in der Taiga auf seinem Permafrost sitzt, allein und frierend.
Они выигрывают.
Sie gewinnen. Wörtlich: etwas herausspielen. Einen Sieg zum Beispiel, das ist gut zu merken. Allerdings, es gibt einen Haken: gerade eben. Es heißt nur „ani wuj-i-gruij-wa-jut“, wenn man es gerade tut; hat man es getan, ändert sich das Wort hinten und in der Mitte, manch eines auch vorne (das kann man nie wirklich vorhersagen), denn es gibt im Russischen nicht nur zwei zusätzliche Fälle, sondern auch zwei Verben für eine Sache, für vollendete und unvollendete Aspekte – je nachdem, ob man mit einer Sache schon fertig ist oder noch nicht. Wenn man in der Zukunft fertig geworden sein wird, zum Beispiel mit dem Deklinieren russischer Substantive durch alle sechs unendlichen Fälle, ist es das gleiche Wort wie in der Gegenwart. Am Ende holt einen eben alles immer wieder ein.
Ping-ding-ding: „Dwa – nol“, zwei zu null. Германиа ведёт, Deutschland führt. Wieder ein neues Wort gelernt! (Gerade eben.)
So geht es munter weiter. Ping-ding-ding. ping-ding-ding.
Мюллер забил 3 мяча, Müller hat drei Tore geschossen – respektive Bälle, und er ist damit fertig, hurra! Kadir ist verzückt. Ich freue mich auch. Das Glück wird ein wenig getrübt, Sie können es sich denken, denn Müller schoss sein erstes Tor im Nominativ (гол! Tor!), sein zweites und drittes im Genitiv Singular (гола), hätte Deutschland fünf Tore geschossen, dann im Genitiv Plural (голов). Aber das muss nun wirklich nicht sein. Tschitiri – nol, vier zu null. Das reicht. Was will man mehr.
Gestern Abend sitze ich auf meinem Balkon und beobachte das anrollende Gewitter.
Ich denke: „Jo, da kommt wohl ein Gewitter.“ Wie das so ist, an heißen Tagen. Von Warnmeldungen wusste ich nichts: Ich hatte den ganzen Tag über Besuch gehabt, kein Radio gehört, war nicht im Internet gewesen.
Bis auf die Dunkelheit und entfernte Blitze passiert erstmal nichts. Es kommt eine leichte Brise auf – ein Hauch, ein „Das dauert noch“-Lüftchen. Ich bleibe auf dem Balkon sitzen, die kalte Rhabarbersaftschorle schwitzt im Glas, Eiswürfel klimpern; ich schaue auf die Wolken und auf diese komische blaue Linie, die den Himmel teilt.
Plötzlich!
WUSCH!
BÄMM!
– reißt eine Böe mein Tomaten-Gewächshaus von der Balkonbrüstung. Im selben Moment beginnt es hammermäßig zu regnen. Und zu hageln. Ohne Tröpfeln vorher, ohne alles. Sowas habe ich noch nie, wirklich!, noch nie erlebt. Dann geht es los. Um zu veranschaulichen, was hier abging:
Schauen Sie gerne mit Ton, das macht es eindrücklicher.
Ich stürze mich sofort auf das Gewächshaus, hänge mit dem halben Körper darauf. Wenn mir das Ding jetzt abhaut, fliegt es irgendwem ins Fenster, denke ich. Oder aufs Auto. Oder in die Fresse. Es weht ein irrsinniger Wind, völlig verrückt. Wie gesagt: innerhalb von Sekunden; man kann sich das schwer vorstellen. Mit einer Hand halte ich mich an der Balkonbrüstung fest, ich klemme mir die Streben des Häuschens irgendwie zwischen die Knie, steige halb drauf. Mit der anderen Hand versuche ich, die Metallstreben auseinanderzufummeln und die Plane des Gewächshauses herunterzureißen. Das Ding muss irgendwie auf die Erde, es ist wie ein Segel; und es ist breit: Fliegt es weg, reißt es alles mit sich – Stühle, Blumen, Kübel. Es regnet und hagelt, es prasselt auf mich – wie ein Wasserfall, so viel und so hart. Unglaublich. Ich ringe das Häuschen nieder, kriege irgendwie die Plane runter, es dauert ewig, und stopfe sie unter eine Sonnenliege.
Erst jetzt sehe ich: Der Sturm hat die Balkontür aufgeweht. Es hagelt mir ins Wohnzimmer.
Ich schnappe mir den ersten Tomatentopf, eiere mit ihm ins Haus. Der Hagel auf dem Balkon – er ist glatt, es ist, als laufe ich auf Eiern. Mein Rock, mein Shirt – das Wasser tropft, nein, es läuft aus den Klamotten aufs Parkett. Ich ziehe beides aus, werfe es ins Bad, schleppe weitere, freistehende Töpfe rein. Im Wohnzimmer: fünf-Cent-große Hagelkörner. Ich schiebe sie übers Parkett raus auf den Balkon. Der Regen drückt weiter Wasser rein. Ich schiebe die Balkontür zu, laufe ins Bad, hole Handtücher, lege sie aus.
Dann laufe ich zur anderen Seite, durch die Küche zum Garten, ziehe den Grill, die Stühle, den Tisch und alle Blumen ans Haus.
Es ist irre, völlig irre. Ich weiß, ich wiederhole mich, aber: irre. Vor allem der Wind, so aus dem Nichts.
Heute morgen – bei der Inspektion des Balkons: alles gut. Nur: Das Gewächshaus ist tot. Die vier Leinen, mit denen ich es festgebunden hatte (wie in der Anleitung), baumeln am Balkon: Die Knoten waren super, der Wind hat einfach das Dach abgerissen, mit einer einzigen, seiner ersten Böe. Irre.
Anne war heute morgen in Essen unterwegs und hat Fotos gemacht. So sieht es hier in Dortmund auch aus.
Oft frage ich mich: Wann machen die Leute das alles?
Zum Beispiel fernsehen. Dokus und Filme, Let’s dance und Shopping Queen. Vor der Arbeit muss ich mich kämmen und frühstücken, nach der Arbeit ist es plötzlich 23 Uhr, dabei kam doch dieser Film, ach, verpasst, schade. Im Ergebnis sehe ich an Werktagen nie fern, es ist unmöglich, ich schaffe es einfach nicht.
Vielleicht mache ich etwas falsch. Zehn Stunden am Tag Arbeit, mit Pause, Hin- und Rückweg, danach Sport (der Rücken!) oder einkaufen (kein Brot und kein Klopapier mehr da!), Wäsche waschen, aufhängen, abhängen oder Blumen gießen, Spülmaschine, bügeln, zu Abend essen möchte ich auch, auch mal einen Freund treffen oder eine Freundin, mich um die Tante kümmern und den Vater sehen, und die Zeit, tic tac tic tac – kaum bin ich zu Hause, kaum komme ich zur Ruhe, ist es auch schon soweit, ins Bett zu gehen, denn man nächsten Tag ruft die Arbeit wieder, und weil ich es satt habe, spätestens ab Mittwoch bleiernd müde zu sein, gehe ich um elf ins Bett, sonst bin ich völlig im Eimer, und am nächsten Tag, tic tac tic tac, geht alles von vorne los.
Es ist eine sehr grundsätzliche Müdigkeit, die ich fühle, wenn ich müde bin.
Zum Beispiel Kino. Ein Film läuft an und ich denke: „Den will ich sehen!“, doch finde ich einen Tag, an dem a) mich jemand begleitet (alleine, nein, da versuche ich’s lieber erstmal weiter mit fernsehen), b) nicht die unmittelbare Gefahr besteht, dass ich bei „Licht aus“ sofort einschlafe und ich c) nicht für das Wohlbefinden turne (turnen möchte!), ist er auch schon wieder raus aus dem Programm.
Samstag ist der beste Tag, wirklich, ganz ohne Ironie. Samstag ist mein Lieblingstag. Dann haben die Geschäfte geöffnet, dann kann ich in den Baumarkt fahren oder zu dm, meine Hose vom Schneider abholen, zur Post gehen und etwas in die Reinigung bringen – ohne zu hetzen, ohne gleich irgendwo sein zu müssen, etwas tun zu müssen, Verpflichtungen zu haben. Am Samstag darf ich Krach machen, Rasen mähen zum Beispiel – denn am nächsten Tag ist schon wieder Sonntag, da geht das nicht, da darf man nur leise durchwischen.
Zum Beispiel Ausflüge. Gerne würde ich mal wieder nach Hamburg und Stuttgart, an die See, nach München, wandern. Aber es bleiben nur zwei Tage in der Woche, und von den zwei Tagen ist mindestens einer schon auf die nächsten acht Wochen verplant – gerne verplant, mit Freunden und bei Verwandten, außerdem: Am Samstagmorgen nach München, am Sonntagabend wieder zurück, das ist Humbug, danach bin ich nur völlig durch – und Urlaub? Urlaub ist so knapp, zu knapp, ich brauche (möchte!) die Tage für längeren Abstand, für zwei Wochen am Stück, um komplett rauszukommen, weg, fort, in die Natur, um mich wirklich zu erholen.
Ganz zu schweigen vom Schreiben, von den Worten und den Geschichten, die in meinem Kopf sind, die raus wollen, es aber nicht schaffen, nicht zwischen Arbeit und Brot kaufen, Rückenturnen und Wäsche waschen, nicht an den kleinen, an den winzigen Sonntagen. All die Sätze, die Langeweile und Muße verlangen, sie liegen da, sie springen in mir herum, doch sie sind wie Wein, wie Käse, sie möchten reifen, sie sind wie Kinder, sie wollen ausprobieren, lernen, groß werden, brauchen Raum, brauchen Stunden, Tage für sich.
Wann machen die Leute das alles? Fernsehen, Kino und Ausflüge, Fotosafaris, im Café sitzen, basteln und handwerkern, Kinder großziehen, Fahrradtouren, für Marathons trainieren und Yoga, Rezepte nachkochen, all diese Serien gucken, dem Regen zusehen und in der Sonne liegen. Musizieren. Schreiben. Wer sind diese Menschen, die am Ende des Jahres noch zehn Tage Urlaub übrig haben?
Vielleicht gibt es zwei Systeme, irgendwas mit Zeitdilatation und Erdrotation, Längenkontraktion oder unterschiedlichem Sonnenlauf.
„Alta, isch hab voll Kopfschmerzen heute.“
„Wegen Sonne, oder was?“
„Nee. Wegen denken. Immer, wenn isch viel denken muss, habe isch voll Kopfschmerzen.“
„Krass. Dann hast du ja in der Schule ständisch Schmerzen.“
„Nee, in Schule nie. Nur immer, wenn isch Computer zocke.“
Er hat geschafft, was vor ihm weder den Backstreet Boys noch New Kids on the Block noch Thomas Godoj gelungen ist: Ich bin zum Groupie geworden.
Jetzt: #ScienceSlam in Dortmund pic.twitter.com/9KfLWPapgZ
— Vanessa Giese (@dieliebenessy) May 22, 2014
Denn wer rechnet denn mit sowas? Der Web-Comic-Gott! Bei mir in Dortmund! Vater des Nomster (R.I.P.), Frauenkenner, Alltagsheld und Profibartträger! Leibhaftig! Am Donnerstag beim Science Slam im Ruhrgebiet.
„Johannes Kretzschmar!“, rief der Moderator. Und plötzlich stand er da auf der Bühne.
Der @beetlebum in Dortmund! OH MEIN GOTT!!!11 EINSELF!! Mir wird ganz blümerant!
— Vanessa Giese (@dieliebenessy) May 22, 2014
„Beetlebum!“, rief ich, spontan euphorisch und zart aufgeregt.
Die Freundin neben mir schaute mich an.
„BEETLEBUM!“, rief ich nochmal, diesmal in Versalien. Ich wedelte mit dem Arm erklärend in Richtung Bühne.
„Hä?“
„Der Typ!“, rief ich. „Da vorne!“, und wedelte wilder. „Johannes Kretzschmar! Beetlebum!“
„Wat is‘ mit dir? Du hattest doch nur ein Mädchenbier.“
„Das ist Beetlebum! Sag bloß, du kennst Beetlebum nicht?“
„Nö.“
Nun gut. So muss es Raspberry-Pie-Besitzern gehen, wenn sie anderen Menschen von ihrem Hobby erzählen.
Ekstatische Verzückung.
— Vanessa Giese (@dieliebenessy) May 22, 2014
Erwartungsgemäß performte Herr Beetlebum hervorragend, kickte alle Herren mit Heimvorteil aus dem Rennen und gewann das Ding.
@happybuddha @beetlebum Auf meine nackten … äh, Dings. Arme.
— Vanessa Giese (@dieliebenessy) May 22, 2014
Normalerweise bin ich ja nicht so der Autogramm-Typ. Ich habe mir noch nie von irgendwem eins geben lassen. Nun gut, ich war in meiner Jugend auch lediglich auf einem – tief durchatmen jetzt – Pur-Konzert. Und einmal bei Joe Cocker. Bei beiden bot sich das nicht so richtig an, die Sache mit der glühenden Anbetung, den Autogrammen und dem Groupietum, auch wenn Joe Cocker ebenfalls Profibartträger ist.
Ein Original-@beetlebum -Autogramm auf meinem nackten Arm!! pic.twitter.com/uaiKrQ2qk9
— Vanessa Giese (@dieliebenessy) May 22, 2014
Im Nachhinein habe ich das Gefühl, dass Herr Beetlebum ein wenig, sagen wir, überrumpelt war. Kann natürlich sein, dass ich etwas aufgekratzt wirkte. Wenn ich verzückt bin, bin ich immer etwas neben der Spur. Kenner wissen, was ich meine.
Am Samstag besuche ich übrigens eine Hochzeit. Da ist so ein „Fuck Yeah!“-Tattoo auf dem Arm auf jeden Fall passend.
[Bericht der Lokalzeit Dortmund]
Das Gute an Schulferien ist, dass keine Schüler da sind. An der Haltestelle nicht, im Bus nicht, in der Bahn nicht. Kein Geschrei, kein Gerempel, freie Sitze.
Das Schlechte an Schulferien sind, dass überall Schüler sind. In der Innenstadt, im Einkaufszentrum, in der Fressmeile. Überall Zahnspangen mit Primark-Tüten und Bubble-Tea. Und mit ihren Eltern.
„Was möchtest du essen, mein Junge?“
„Pommes.“
„Du suchst dir selbst etwas aus, ja?“
„Pommes. Hab ich doch gesagt.“
„Aber du hattest doch am Samstag schon Pommes.“
„Ist doch egal.“
„Wie wär’s mit Nudeln?“
„Du hast doch gesagt, ich darf mir etwas aussuchen.“
„Natürlich. Aber vielleicht …“
„Pommes.“
„Nur Pommes?“
„Ja.“
„Kein Ketchup?“
„Doch. Mit Ketchup.“
„Also keine Nudeln?“
Sie sind aus dem Sauerland hier eingefallen und aus dem Münsterland. Die Kinder müssen für den Sommer eingekleidet werden, die Eltern haben Urlaub. Sie parken ihr Auto in einem Parkhäuser und fallen über die Läden her wie Heuschrecken. Sie plündern die Snackbars, die Asia-Restaurants und Fast-Food-Ketten.
„Zweimal Pizza Hawaii.“
„Ich mag aber keine Ananas!“
„Früher hast du die immer gerne gegessen.“
„Ananas ist ekelig.“
„Was denn dann? Prosciutto?“
„Margherita.“
„Aber da ist doch gar nichts drauf.“
„Tomaten und Käse.“
„Nicht doch lieber Thunfisch?“
Würgegeräusch.
„Also wirklich! Benimm dich!“
Ich hätte vorbereitet sein sollen. Ich hätte mir für meine Mittagspause Schnittchen mitnehmen und woanders hingehen sollen. Nicht dorthin, wo sie alle sind. Stattdessen in die U-Bahn oder in den Bus. Dort ist es schön ruhig jetzt am Mittag. So ohne Schulschluss.
„Wir können mal wieder durch die Kneipen ziehen!“, sagt sie.
Oh Gott, denke ich. Durch die Kneipen ziehen.
„Wir glühen bei mir vor. Dann ziehen wir los.“
Ausgeschlossen.
„Um neun Uhr treffen wir uns bei mir, und um zehn geht’s los. Ja?“
Um zehn bin ich schon das erste Mal eingenickt.
Natürlich, früher™, da haben wir uns um neun Uhr abends getroffen, haben uns Wodka in Colaflaschen gekippt (Wir hatten ja nix! Nicht mal Alkopops!) und danach sind wir in irgend’ne Disko gezogen. Aber damals™ war ich achtzehn. Heute bin ich doppelt so alt, doppelt so müde und brauche doppelt so viel Ruhe.
„Wir könnten auch was Schönes kochen“, sage ich. Danach ein Gläschen Prosecco auf dem Sofa, ein bisschen klönen, und um zwölf gehen alle ins Bett.
„Eine gute Grundlage für die Nacht!“, sagt sie. „Sehr gut!“
Freunde mit Kindern erwähnen gerne, dass sie nicht mehr so wie früher™ um die Häuser ziehen können. Dass sie nun zu Hause bleiben müssen. Dass sie nicht mehr einfach so ausgehen können. Ich kann auch ohne Kinder nicht ausgehen.
„Komm schon!“, sagt sie. „So richtig einen drauf machen! Cocktails und’n bisschen dancen!“
„Vielleicht nächstes Wochenende“, sage ich.
Wahrscheinlich aber nicht.
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