Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Archiv der Kategorie »Expeditionen«

Wie ein Weihnachtsbaum

6. 11. 2011  •  24 Kommentare

Vielleicht sollte ich hier eine neue Kategorie eröffnen:
„Das Leben im Vierersitz.“

Denn: Wieder in der U-Bahn. Ein Mädel telefoniert:
„… hatte ich so die Schnauze voll, wat denkt der sich eigentlich? Da bin ich zu ihm hingegangen und hab gesagt: ‚Chef‘, hab ich gesagt, ’so’ne Firma ist wie’n Weihnachtsbaum. Schön und glitzernd und sogar dat Lametta freut sich, dasset dabei sein darf. Aber wenn die Spitze krumm ist, kannste noch so dicke Kugeln dranhängen: Dann is‘ alles für’n Arsch.“ Jetzt kann ich mir’n neuen Job suchen.“

Reisen

20. 09. 2011  •  66 Kommentare

Schön, das:

[vimeo http://www.vimeo.com/27244727 w=400&h=225]
Wenn ich so an meine eigenen Reisen denke, habe ich auch immer etwas gelernt:
in den USA: dass Europa sehr klein ist
in Finnland: saunieren für Profis
in Norwegen: Karg ist manchmal besonders schön
in Schweden: Kanu fahren
in Island: Entfernungen abschätzen

auf den Kanaren: an meine Grenzen gehen
in Italien: Kopfsprung ins Wasser
in Ungarn: knutschen
in Großbritannien: what happens at Chislehurst
in Russland: Gastfreundschaft und Wimpern tuschen
in Griechenland: jeder Tag verdient eine Melonenpause
in Dänemark: mit schreckhaften Leuten nicht in dunkle Höhlen gehen
in Kroatien: es geht immer weiter, auch mit leckender Ölwanne
in China: dass westliche Kultur nur eine Möglichkeit von vielen ist
in Frankreich: ein Whiskey hilft immer

Drumzu

18. 09. 2011  •  62 Kommentare

Am Wochenende habe ich ein neues Wort gelernt: drumzu.

Nimm das Paket und wickel das Band drumzu.
Ist das irgendwo in Lemförde und drumzu?

Wir gehen um den Dümmer drumzu.

Als Sauerländerin kenne ich ja viele komische Wörter, aber „drumzu“ ist mir noch nicht untergekommen. Wird offensichtlich auch nur in einem Radius von zehn Kilometern um Stemwede gebraucht. Dort aber reichlich und zu jeder Gelegenheit.

El Teide

8. 07. 2011  •  46 Kommentare

Höchster Berg Spaniens: Pico del Teide, Teneriffa, 3718 Meter:

[vimeo 22439234 w=400 h=225]
Als ich dieses zauberhafte Video fand, war ich sofort wieder dort.

Ich bin im Januar 2010 von El Portillo zur Montaña Blanca unterhalb des Teide-Gipfels gewandert – ein Aufstieg von 2000 auf knapp 3000 Meter, zehn Kilometer hinauf, zehn wieder hinunter. Es war die anstrengendste Wanderung, die ich je unternommen habe. Nicht der Strecke oder der Höhe wegen, auch wenn es bisweilen steil war – sondern wegen des Windes. Unablässig fiel er den Berg herunter und mir entgegen. Mein Gesicht brannte. Meine Ohren dröhnten. Er war kurz davor, mich fertig zu machen.

Für die ersten 7,5 Kilometer brauchten wir drei Stunden.

Die ersten 7,5 Kilometer

Mit flatternder Hose am 7,5-Kilometer-Schild nach El Portillo

Auf der Montaña angekommen, blies der Wind so stark, dass ich kaum gerade stehen konnte. Mit Mühe und bebendem Arm machte ich ein Foto – ein einziges. Obwohl es für sich genommen sinnlos ist, einen Berg hinaufzulaufen, nur um hinunter zu blicken, ist das Gefühl, die Anstrengung überwunden zu haben und angekommen zu sein, befreiend und belebend. Ich bin dann sehr nah bei mir.

Am Fuße des Teide

Aussicht von der Montaña Blanca in die Ucanca-Ebene

Wir setzten uns hinter einen Felsen, tranken Wasser, aßen Baguette und Kekse. Viel Zeit war nicht. Denn für den Aufstieg hatten wir länger gebraucht als geplant. Als wir uns auf den Rückweg machten, waren die Schatten schon lang und die Wolken flossen wie Wasser ins Tal. Wir liefen fast, den Wind im Rücken. Am Ende war die Sonne hinter den Teide gesunken und unser Weg lag im Dunkel.

Kurz vor El Portillo

Kurz vor der Ankunft zurück in El Portillo

Als wir durch Lavafelder, Tannenwälder und Nebelwolken zurück an die Küste fuhren, war ich hundemüde. Im Hotel angekommen, duschte ich, aß Runzelkartoffeln, Dörrobst und würzigen Käse – es hätte kein besseres Mahl geben könnten.

Eins war noch am gleichen Abend klar: Sollte ich noch einmal nach Teneriffa reisen und fit genug sein, werde ich komplett aufsteigen – mit Übernachtung in der Schutzhütte und frühmorgendlichem Anstieg zum Teide-Gipfel.
(Der letzte Satz ist ein Beitrag aus dem Büchlein: Ziele, die ich noch habe.)

Sowas wie eine Liebeserklärung

27. 06. 2011  •  64 Kommentare

Eine Stadt, vier tage, acht Weiber.

Frauenkirche

Frauenkirche

Um 8 Uhr morgens zwängen wir uns an Fronleichnam in die Autos, zwei Weiber vorne, zwei hinten. Kassel, Leipzig, Dresden bei 140 Kilometern pro Stunde. Um 16 Uhr sind wir am Ziel, sitzen im Café, essen Eierschecke und blicken auf die Stadt.

Reiseführerin Sabine hat unsere vier Tage minutiös verplant. Neustadt, Pillnitz, Stadtführung, Führung durch die Semperoper, Schloss, Flohmarkt, Frauenkirche, Hofkirche, Kreuzkirche, Sophienkeller. Am Sonntag Heimfahrt, zeitig, wegen der Staugefahr. Ein Reisebootcamp.

Zitronenpresse

Frauenkirche mit Zitronenpresse

Als ich 1999 zuletzt in Dresden war, wurden an der Frauenkirche noch die Steine gezählt. Ich erinnere mich nicht an viel, nur an Baukräne, Gerüste und Halbfertiges. Die Stadt war im Aufbruch, sie atmete das Flair eines befreienden Neuanfangs, aber gleichzeitig war da diese sozialistische Piefigkeit, tief wie ein alter Polstersessel.

Jetzt ist es die schönste Stadt Deutschlands. Ich denke, ich darf das sagen. Denn ich war schon in vielen Städten; in Köln, Berlin, Hamburg, München, Frankfurt, Stuttgart, Hannover und unzähligen mehr. Keine Stadt, nicht einmal das hübsche Erfurt, ist so einnehmend wie Dresden.

Wieso ich das sage? Es ist eher ein Gefühl als ein Urteil des Verstands. Einerseits ist die Stadt groß, üppig, bedeutungsschwanger. Frauenkirche, Semperoper, Zwinger. Überall Geschichte. Die Kurfürsten Sachsens, der Pomp August des Starken. Dann, im Februar 1945, die Bomben. Es scheint mir, als sei Dresden auch heute, 66 Jahre später, noch eine Brandverletzte: Der Körper ist verheilt, aber die Seele hat den Angriff nie verwunden. Über allem liegt der Mantel des Krieges, nur noch ein leichter Sommermantel – aber doch.

Dresden Neustadt

Neustadt, Görlitzer Straße

Auf der einen Seite also der Prunk, die Geschichte, die Verwundung. Auf der anderen Seite eine kleinstädtische Herzlichkeit, eine freimütige Freundlichkeit, die selbst dem Fremden Geborgenheit gibt. Vielleicht liegt es daran, dass die Urbanität sich nicht wie in Berlin aggressiv aufdrängt, sondern alles besonnener, gelassener ist. Es kommt mir vor, der Dresdner wisse, wer er ist und was er an sich hat. Er muss sich nicht suchen. Das tut auch dem Besucher gut: Überall fühle ich mich, als sei ich angekommen.

Pulp Fiction

Pulp Fiction in der Neustadt

Am dritten Tag treffe ich, als ich auf einer Kante vor dem Schloss sitze und Apfelschorle trinke, auf August; ein groß gewachsener, älterer Herr. Ich sage „Herr“, denn obwohl er eine altbackene Nylonjacke und eine bemüht aufgebügelte Bundfaltenhose trägt, funkelt ihm großbürgerlicher Schalk in den Augen – der Glanz eines Mannes von Welt. Opernsänger sei er gewesen, sagt er, und gibt eine Kostprobe im Bariton: die „Fledermaus“ von Johann Strauss. „Auf der Bühne der Semberober habe isch geschdanden und gesungen und gedanzd.“ Den Krieg habe er auch miterlebt, denn er sei jetzt 81, aber immer noch fröhlich und deshalb auf der Suche nach einer Frau.

„Groß muss sie seen“, sagt er und zwinkert mir zu. Er hat wässrig-blaue Augen und Wimpern wie Bambi. Er selbst, sagt er, sei ein Meter achtundachtzig, „und isch will sie beim Danzn nischd hochhebn“. Wäre er es, der dies bloggt, er hätte das „Sie“ wohl groß geschrieben; wäre ich 63 und nicht 33, ich hätte noch am selben Abend mit ihm getanzt. Aber ich wiegele ab, und er rät mir, bereits im Gehen: „Lachen Sie. Isch habe das nie verlernd,  selbsd als die Bomben fieln. Das Leben isd zu gurz, um draurig zu seen.“

Gerne wäre ich länger geblieben, hätte öfter inne gehalten. Die Elb-Auen sind wunderbar. Saftig-grüne Wiesen, Wälder, Häuser und Villen, die sich in Vororten in das Flußtal und seine Hügel schmiegen – sie passen irgendwie zu diesem heiteren, galanten und unprätentiösen Dresden, das selbst im Gewitter einladend aussieht. Das nächste Mal werde ich ein Fahrrad nehmen und an ihnen entlang radeln.

Elbe mit Fernsehturm

Elbe mit Fernsehturm

Überhaupt – das nächste Mal. Ich werde nicht nur radeln, sondern mindestens ein Dutzend Kneipen und Cafés besuchen, dasitzen und mich gut fühlen. Und sonst: mal sehen.

Einfach losgehen. Angekommen ist man ja schon vorher.

Nachtfahrt

27. 05. 2011  •  29 Kommentare

Es ist kurz vor 23 Uhr, und es läuft grad schlecht.

Der Zug hat 45 Minuten Verspätung. Eine erkleckliche Zeit, wenn man bedenkt, dass er im Stundentakt fährt. Ich stehe am Gleis, blicke auf die Anzeigetafel, blicke über den Bahnsteig und atme laut aus. Der Wind zerwuschelt mein Haar und weht eine leere Papiertüte über den fahlen Beton. In Sichtweite grölt eine Gruppe jugendlicher Checker, Basecap, Baggy Pants, Bierbüchse.

45 Minuten später abfahren bedeutet 45 Minuten später ankommen, bedeutet die letzte U-Bahn verpassen, bedeutet den Nachtbus nehmen müssen, der wiederum erst 45 Minuten nach Ankunft abfährt. Das ist nicht schön.

Auf dem gegenüberliegenden Gleis fährt eine S-Bahn ein. Keine, die ich wirklich gebrauchen könnte, aber eine, die in der nächstgrößeren Stadt endet. Eine Stadt mit ICE-Anschluss und einem schöneren Bahnhof; einem, in dem auch mein Zug halten wird – wenn er in 45 Minuten kommt; einem, auf dem um 23 Uhr mehr Menschen unterwegs sind als hier. Vielleicht, wenn ich abgezogen und vertrimmt werde, gucken wenigstens ein paar Leute zu. Ich steige ein.

Hauptbahnhof. Ich steige aus. Nicht schöner hier, aber heller. Noch 35 Minuten, und mein verspäteter Zug kommt vorbei. Auf dem gegenüberliegenden Gleis hält ein ICE. Auch er hat 15 Minuten Verspätung. Heute ist alles zu spät. Der ICE fährt in meine Richtung. Wenn ich einsteige, könnte ich die U-Bahn noch kriegen, mit Glück.

„Was kostet es, wenn ich drei Stationen mitfahre?“ frage ich die Schaffnerin, die müden Auges aus der Tür steigt.
„Hat der Regionalzug Verspätung?“ fragt sie.
„Ja“, sage ich.
„Dann nichts“, sagt sie, „steigen Sie ein.“
„Danke“, sage ich.
„Muss auch mal sein“, sagt sie.

Ich steige ein und lümmel mich in einen der blauen Sitze. Ich mag ICE-Sitze. Sie sind so weich, haben Kopfkissen und Ohrenstützen. Es braucht nicht viel, um mich glücklich zu machen.

Als ich aussteige, steigt auch die Schaffnerin aus, ein Köfferchen am Arm. Fast nebeneinander gehen wir die Treppe in die Bahnhofshalle hinunter.

„Gute Nacht“, sage ich, „und schönen Feierabend.“
„Gute Nacht“, sagt sie, „kommen Sie gut nach Hause.“
„Sie auch“, sage ich, „und: dankeschön.“

Sie lächelt, und ich biege zur letzten U-Bahn ab, die mich treulich nach Hause bringt. Während ich im Bett liege, denke ich: Manchmal ist es besser, einfach loszufahren und nicht so lange auf den richtigen Zug zu warten.

Dann schlafe ich ein.

Dresden

22. 05. 2011  •  65 Kommentare

Mitte Juni fahre ich mit acht Weibern nach Dresden.

Solch ein Trip will natürlich sorgfältig geplant werden. Deshalb gab es am Wochenende ein Vortreffen, das dazu diente, Sekt zu trinken Schokofondue zu essen Oben-Ohne-Fotos von Wladimir Klitschko zu googeln die festen Programmpunkte abzustecken.

Ich bin eher der Typ „intuitiver Tourist“, der durch die Stadt wandert und erlebt, was ihm auf seinem gottgeführten Weg an Menschen, Gebäuden und Gastronomie so unterkommt. Derartig unüberlegt möchte jedoch keine der Damen die Reise antreten, weshalb binnen kurzer Zeit reihenweise Sehenswürdigkeiten in die Runde gerufen wurden:

„Frauenkirche.“ – „Elbkreuzfahrt.“ – „Pillnitz.“ – „Grünes Gewölbe.“ – „Semperoper.“ – „Kunsthof.“ – „Zoo.“ – …  Die Organisationsministerin notierte eifrig. Erstaunlicherweise fand sich schnell ein Konsens. Doch dann ging es an die Details.

„Wenn wir Freitagabend in die Oper gehen, können wir nachmittags die Elbfahrt machen.“ – „Wasser macht mich aber immer so müde.“ – „Und wann wollen wir etwas essen?“ – „Möchte jemand mit mir ins Grüne Gewölbe?“ – „Wir können die Elbfahrt auch am Samstag machen und am Freitag die Stadtführung.“ – „Wann gehen wir dann zum Kunsthof? Sonntags haben die Geschäfte zu.“ – „Wir können am Freitag zum Kunsthof und die Stadtführung am Sonntag machen.“ – „Dann macht sie aber doch keinen Sinn mehr.“ – „Möchte denn jemand mit mir ins Grüne Gewölbe?“ – „Also Elbfahrt am Samstag? Mit aussteigen in Pillnitz oder ohne?“ – „Was ist mit dem Luisenhof?“ – „Ich muss da nicht hin.“ – „Aber die Aussicht ist so schön.“ – „Du kannst doch auch von unten hochgucken.“ – „Ich will aber von oben runtergucken.“ – „Möchte denn wirklich keiner ins Grüne Gewölbe?“ – „Also Luisenhof nicht?“ – „Ich würde ja gerne in Pillnitz aussteigen.“ – „Ich auch.“ – „Also Elbfahrt mit aussteigen, am Samstag dann.“ – „Und Kunsthof?“ – „Am Freitag.“ – „Dann gehe ich halt alleine ins Grüne Gewölbe.“

Feste Programmpunkte sind nun:

  • Schlösserfahrt mit aussteigen
  • Semperoper mit Führung
  • Kunsthof und Alaunviertel Neustadt
  • Stadtführung mit Frl. Kerstin
  • Kreuzkirche mit Kreuzchor zuhören
  • Sophienkeller

Ich werde zwischendurch einfach ausbüchsen, um aller minutiösen Planung zum Trotz ein bisschen umherzuwandern.

Auf Klassenreise

19. 05. 2011  •  43 Kommentare

ICE 544 Hannover – Köln.
Der Abend dämmert durch die Seitenscheiben.

Mein reservierter Platz ist besetzt. Ein ergrautes Pärchen enttuppert dort grad Frikadellen. Ich trete an die Zwei heran, und sie stöhnen leise auf. Sie seien eine Reisegruppe, erklärt er seufzend und wie es sich anhört zum zehnten Mal. Der gesamte Waggon gehöre ihnen – nur habe die Deutsche Bahn das verpeilt.

Ich blicke mich um. Tatsächlich: Zwischen blauen Polstersesseln wogt ein Meer von Silberkugeln. Kleine Rentner auf großer Fahrt. Ich überlege, wo ich nun hingehen soll, als ein gebeugter Alter auf mich zukommt und meine Hand nimmt. „Kommense, junge Frau“, sagt er, „hier hinten is‘ noch’n Plätzchen für Sie frei.“ Er zieht mich zu einer Siebzigerin mit zwei Hörgeräten. „Reni!“ brüllt er sie an. „Rück! Mal! Durch!“ Reni schiebt sich auf den Sitz am Fenster.

Der Zug fährt an, und meine Nachbarin packt eine Tüte Knisterndes aus. Reni ist leicht füllig. Ein Gürtel unter ihrem Busen hält ein geblümtes Kleid an seinem Platz. „Willst du auch ein Kuhbonbon?“, fragt sie, schaut mich an und hält mir die Tüte hin. Ich bedanke mich und greife zu. Aus Richtung des Frikadellenpaares wandert eine Packung Gummitiere durch die Reihen. Von rechts hält eine zittrige Hand Celebrations in den Gang. Es fühlt sich an wie Klassenfahrt, nur ohne Pickel und aufgepustete Kondome.

Plötzlich fiept ein Wecker. Es ist 18.45 Uhr, und Stakkatotöne hallen durch den Waggon. Die Silberkugeln recken die Köpfe.

„Aufstehen! Viertel vor sieben!“, ruft einer. Ein anderer: „Fritz! Zeit, deine künstliche Blase zu leeren!“ Die Männer lachen, die Frauen kichern juchzend.

„Wo kommt das her?“, fragt jemand. Alle sehen ihren Nachbarn an. Dann schauen sie hoch zu ihren Koffern. Das Geräusch verstummt.

Die Gruppe sammelt sich wieder.

Sechs Minuten später erneutes Fiepen. „Los, Fritz! Wasserlassen!“ Gelächter brandet auf. Man beschließt, an einzelnen Koffern zu horchen und den Wecker zu suchen. „Das muss Friedhelm machen“, sagt einer, „er hat als einziger von uns noch kein Hörgerät.“ Wieder lachen alle. Friedhelm steht auf  und legt sein Ohr an den ersten Koffer. Wieder verstummt das Fiepen. Alle warten auf den nächsten Einsatz.

Um 19.35 Uhr reißt Friedhelm einen schwarzen Samsonite aus dem Gepäckfach, kramt durch die Leibwäsche und hält mit der rechten Hand ein kleines, schwarzes Viereck hoch. Die linke ballt er zur Faust, als hätte er gerade einen Hirsch erlegt. Spontaner Applaus brandet auf. Die Damen kreischen vor Entzücken und heben ihre Kameras. Es blitzt mehrfach. Friedhelm wirft sich in seine dünne Brust.

Jemand stupst mich am Arm. „Willst du noch ein Bonbon?“, fragt Reni, „oder hier: TucTuc“, und schiebt eine gelbe Packung rüber. Dann fügt sie hinzu, als sei es die Erklärung für alles: „Wir waren im Bundestag.“

Wir kuscheln uns in unsere Sessel und knabbern Tuc; und Reni beginnt, von Berlin zu erzählen.

Polarprozession

9. 12. 2010  •  34 Kommentare

Zwischen mir und der Arbeit liegen gerade einmal sechshundert Meter, als die dicke Busfahrerin unter ihren Sitz kriecht und die Bremskeile sucht. „Tut mir leid, woll. Dat isn Wetter, woste nix machen kannz. Da muss ich stehenbleiben tun. Anweisung vonne Leitwarte.“

Die Türkin hinter mir stupst mich an. „Wieso aussteigen?“ fragt sie.
„Zu glatt“, sage ich. „Der Bus rutscht.“
„Bus rutscht?“
„Ja“, sage ich. „Den Berg runter.“

Es schneit in kleinen Grieseln. Warnblinklichter färben den Abend orange. In der Gegenrichtung schlängeln sich Autos um zwei weitere Busse den Hügel hinauf. Niemand hupt. Niemand flucht. „Viel Glück“, wünscht jemand der Fahrerin. „Tschüss dann“, sagt ein anderer. Der Schnee deckt die Stadt mit Gleichmut zu. Ich steige aus. Es knirscht unter meinen Füßen. Die Füße der anderen knirschen auch. Alle schauen sich noch einmal um. Dann werden wir eine Prozession. Mein Zuhause und mich trennen von hier an zwölf Haltestellen oder sieben Kilometer oder Eineinviertelstunde Marsch.

Am ersten Bushäuschen nehmen wir fünf Jäuster in Fußballschuhen mit. Sie bewerfen sich den Weg über mit Schneebällen. Noch ein Häuschen weiter gabeln wir eine Frau mit Kinderwagen auf. Ein kräftiger Mann in blauer Latzhose greift sich die Vorderreifen und wird zum Sänftenträger. Hinter der vierten Haltestelle steht ein Ersatzbus an einer roten Ampel. Wir laufen hin, winken und klopfen an die Tür. Der Fahrer glotzt mit großen Augen durchs Glas. Die Ampel springt auf Grün. Der Bus fährt los. Wir stehen auf der Straße und schreien wie die Gallier.

„Arschloch, Alta!“ rufen die Jungs. „So ein Penner!“ rufe ich. „Wenn deine Heizung kalt ist, komm! ich! nicht!“ brüllt der Latzhosenmann. Die Türkin ruft etwas auf Türkisch, das sich anhört wie „Pickeliger Sohn einer Gurke.“ Das Kind schaut durch den Regenschutz seiner Sänfte den Rücklichtern hinterher. Wir marschieren weiter durch den knöchelhohen Schnee.

Die Jäuster biegen irgendwann rechts ab. Der Handwerker bringt Mutter und Kind bis an die Tür. Die Türkin verschwindet im Weiß. Ich hab’s am weitesten. Autos rollen an mir vorbei, langsam, knirschend. Alles ist leise. Wenn Schnee drauf liegt, ist das Ruhrgebiet fast nicht hässlich.

Um halb acht bin ich zu Hause. Meine Beine fühlen sich nach Stieleis an, und mein Leben schmeckt nach Polarexpedition. Ich bin seltsam glücklich.

Nachtbaustelle

21. 11. 2010  •  36 Kommentare

Nightlife in Böblingen.
Was ein contradictio in adiecto ist, war mein Plan für Freitagabend.

Immer, wenn ich den Einmannblogger besuche, enden unsere Abende gesellig. Auch diesmal hatten wir vor, uns beherzt, mindestens bis zu einem soliden Schwindel, zu betrinken. Allerdings verfügt Böblingen, und das hätte ich von einem schwäbischen Städtle, in dem man Gässle und Wirtschäftla erwartet, nicht gedacht, über den strukturalistischen Charme von Wuppertal – jedoch ohne Schwebebahn (und die Schwebebahn macht ungefähr 90 Prozent des Wuppertaler Charmes aus). Es wurde trotzdem spät. Gegen 3 Uhr, vielleicht war es auch 4, rutschte ich auf mein Schlafsofa im Kinderzimmer des Einmannbuben.

Der Einmannbub ist ein Wicht von drei Jahren, der entgegen seiner ausgeprägten Schmächtigkeit eine Karriere als Bauarbeiter mit Zweitqualifikation Feuerwehrhauptmann anstrebt. Er bereitet sich durch eine grundständige Ausbildung an Duplo-Bausteinen und Plastikkränen auf seinen Berufswunsch vor – und arbeitet, daran gibt es seit diesem Wochenende keine Zweifel mehr, auch mental seine Lektionen durch.

Denn wie ich unter meinem Federbett in den Schlaf glitt, der Kopf schwer, die Augen müde, erschallte aus dem Bettchen am anderen Ende des Zimmers ein zartes, wenngleich unerschrockenes: „Vorwärts Männer, wir müssen graben!“ Ich richtete mich auf und blinzelte ins Dunkel. Dort: nichts. Kein Rascheln, keine Bewegung. Nur die leblosen Schemen einer Schlafstätte. Aber dann: Brummgeräusche! Und die Ermahnung: „Achtung, die Blumen!“

Doch es war zu spät. Auf der Traumbaustelle wurden bereits die Rabatte durchpflügt. Der Vorarbeiter erwies sich jedoch als Mann der Tat: “ So kann das nicht bleiben. Ich telefoniere sofort mit der Gärtnerei. Aber psssst … die Nessy schläft.“

Ganz großes Kino! Ich setzte mich auf. Im Kinderbett weiterhin kein Anzeichen von Aktivität: nur ein Häuflein Mensch in einem weißen Schlafsack. „Eingraben!“ befahl der Schlafsack sogleich, ohne äußerliche Regung. „Aber psssst, die Nessy schläft!“

Damit war das Hörspiel nicht zu Ende: Der Bauarbeiter sang noch „Ringel Ringel Reihe“ und zählte nach getaner Arbeit seine Finger durch – leise, denn „psssst, die Nessy schläft!“ Die Nessy schlief irgendwann wirklich – und war am nächsten Morgen, als die Tagesbaustelle eröffnete, ziemlich übermüdet. Der Mann aus dem Nachbarbett erinnerte sich hingegen an nichts.



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