Nachtfahrt
Es ist kurz vor 23 Uhr, und es läuft grad schlecht.
Der Zug hat 45 Minuten Verspätung. Eine erkleckliche Zeit, wenn man bedenkt, dass er im Stundentakt fährt. Ich stehe am Gleis, blicke auf die Anzeigetafel, blicke über den Bahnsteig und atme laut aus. Der Wind zerwuschelt mein Haar und weht eine leere Papiertüte über den fahlen Beton. In Sichtweite grölt eine Gruppe jugendlicher Checker, Basecap, Baggy Pants, Bierbüchse.
45 Minuten später abfahren bedeutet 45 Minuten später ankommen, bedeutet die letzte U-Bahn verpassen, bedeutet den Nachtbus nehmen müssen, der wiederum erst 45 Minuten nach Ankunft abfährt. Das ist nicht schön.
Auf dem gegenüberliegenden Gleis fährt eine S-Bahn ein. Keine, die ich wirklich gebrauchen könnte, aber eine, die in der nächstgrößeren Stadt endet. Eine Stadt mit ICE-Anschluss und einem schöneren Bahnhof; einem, in dem auch mein Zug halten wird – wenn er in 45 Minuten kommt; einem, auf dem um 23 Uhr mehr Menschen unterwegs sind als hier. Vielleicht, wenn ich abgezogen und vertrimmt werde, gucken wenigstens ein paar Leute zu. Ich steige ein.
Hauptbahnhof. Ich steige aus. Nicht schöner hier, aber heller. Noch 35 Minuten, und mein verspäteter Zug kommt vorbei. Auf dem gegenüberliegenden Gleis hält ein ICE. Auch er hat 15 Minuten Verspätung. Heute ist alles zu spät. Der ICE fährt in meine Richtung. Wenn ich einsteige, könnte ich die U-Bahn noch kriegen, mit Glück.
„Was kostet es, wenn ich drei Stationen mitfahre?“ frage ich die Schaffnerin, die müden Auges aus der Tür steigt.
„Hat der Regionalzug Verspätung?“ fragt sie.
„Ja“, sage ich.
„Dann nichts“, sagt sie, „steigen Sie ein.“
„Danke“, sage ich.
„Muss auch mal sein“, sagt sie.
Ich steige ein und lümmel mich in einen der blauen Sitze. Ich mag ICE-Sitze. Sie sind so weich, haben Kopfkissen und Ohrenstützen. Es braucht nicht viel, um mich glücklich zu machen.
Als ich aussteige, steigt auch die Schaffnerin aus, ein Köfferchen am Arm. Fast nebeneinander gehen wir die Treppe in die Bahnhofshalle hinunter.
„Gute Nacht“, sage ich, „und schönen Feierabend.“
„Gute Nacht“, sagt sie, „kommen Sie gut nach Hause.“
„Sie auch“, sage ich, „und: dankeschön.“
Sie lächelt, und ich biege zur letzten U-Bahn ab, die mich treulich nach Hause bringt. Während ich im Bett liege, denke ich: Manchmal ist es besser, einfach loszufahren und nicht so lange auf den richtigen Zug zu warten.
Dann schlafe ich ein.