Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Archiv der Kategorie »Expeditionen«

Berlin – Teil 2: Essen

21. 02. 2012  •  29 Kommentare

Mein kulinarischer Berlin-Rückblick:

+++ Freitag +++

Pasternak, Prenzlauer Berg. Russisches Frühstück mit Blini, Sirniki und einem Buchweizensalat: das beste Frühstück des Wochenendes. Stimmungsvolle Atmosphäre mit dunklen Möbeln, karierten Tischdecken, großer Theke und alten Fotos. Sehr zu empfehlen.

Frühstück im Pasternak

Im Uhrzeigersinn, beginnend auf 9 Uhr: Paprika-Schafskäse-Creme, Frischkäse, Buchweizensalat, Marmelade, Obst, Sirniki (Quarkpuffelchen), Vanille-Mandelquark, Blini-Röllchen mit Spinat, in der Mitte Rührei - dazu ein Brotkorb

Misses & Marbles habe ich gestern schon erwähnt. Aufgrund des vorangegangenen Frühstücks konnte ich den Kuchen nicht probieren. Aber er sieht so fantastisch aus, dass man das unbedingt tun sollte.

12 Apostel, S-Bahn-Bögen Friedrichstraße. Atmosphärisches Gewölbe mit großer Theke und offenem Steinofen. Ich hatte eine Pizza Tiroler Art mit Crème Fraiche, Speck und Kirschtomaten. War gut, aber nichts Besonderes. Immer, wenn ein Zug übers Restaurant fährt, klirren die Gläser. Muss man mögen.

+++ Samstag +++

Winterfeldtmarkt. Immer mittwochs und samstags. Großartige Auswahl an türkischen Pasten, mediterranen Gemüsen und frischem, deutschen Brot. Das nächste Mal, wenn ich dort bin, werde ich einkaufen und mein Frühstück im Appartement einnehmen.

Corroboree, Potsdamer Platz. Ein Not-Frühstück im australischen Restaurant, weil der BVG-Streik anderes unerreichbar machte, es schon ein bisschen später und ich unorganisiert war. Es gab Brötchen, Aufschnitt, Marmelade – aber ach, alles so lieblos. Lange Wartezeit, obwohl wenig los war. Wahrscheinlich fand im Raum nebenan gerade der unsichtbare Illuminatenstammtisch statt, und es mussten 30 imaginäre Schnitzelpfannen zubereitet werden.

Beaker’s, Prenzlauer Berg. Ein Rock’n’Roll-Schuppen mit gemütlichem Sofa. Das Publikum war eher alternativ. Ich habe nur einen Minztee getrunken, denn danach ging’s direkt zum Abendessen ins Thien Duc. Wer im Beaker’s frühstückt, kann sich seine Zutaten einzeln zusammenstellen. Konnte ich leider nicht ausprobieren. Kritikpunkt: abgestandene, nach alten Möbeln riechende Luft. Gehört wahrscheinlich zur Gesamtkomposition.

Thien Duc, Prenzlauer Berg. Das beste asiatische Essen, das ich außerhalb Chinas gegessen habe. Hamma. Wahnsinn. Unbedingt hingehen. Ich hatte lauwarme Reisnudeln mit Gemüsen und Frühlingsrollen, als Nachtisch eine gebackene Banane. Das nächste Mal werde ich eine Woche vorher fasten und dann im Thien Duc die Raupe Nimmersatt mimen.

Abendessen im Thien Duc

Reisnudeln mit verschiedenen Gemüsen, darunter warmen Gurken. Außerdem im Bild: Frühlingsrollen und pikante Fischsauce.

+++ Sonntag +++

Tomasa, Friedenau. Italienischer Laden. Außen unscheinbar, innen hell, schön aufgeteilt und mit gemütlichen Frühstückssesseln. Das Frühstück selbst war gut; bei den angebotenen Zusammenstellungen hätte ich mir andere Kombinationen gewünscht, aber das ist wohl meinem individuellen Geschmack geschuldet. Eine solide Sache.

Frühstück im Tomasa

Rührei, Brötchen mit Gazpacho, Frischkäse, Obst, gebackener Camembert mit Preisselbeeren, mediterranes Gemüse - dazu ein Brotkorb

Die Preise waren überall moderat. Liegt wohl an Berlin.

Berlin, Teil 1: Sightseeing

20. 02. 2012  •  42 Kommentare

Drei Tage Berlin.

+++ Tag eins – Freitag +++

Der Freitagmorgen begann bei der zauberhaften Frau Sara von Misses & Marbles, einem kleinen Caféladen im Prenzlauer Berg mit Kuchen, von dem Sie auch eine Nacht später noch träumen.
„Uhmm, eine Frage“, sagte ich, als ich meine Orangina bezahlte. „Kommentieren Sie schonmal bei der lieben Nessy im Blog?“
„Ja“, sagte Frau Sara und guckte verdutzt.
„Dann bin ich die liebe Nessy“, sagte ich und stellte mich vor. Frau Sara lud mich prompt zur Orangina ein.

Am Nachmittag war ich mit Frau Annemarie verabredet. Sie schaut öfters hier im Kännchencafé vorbei, arbeitet in der Verwaltung des Bundestages und darüber hinaus in einem der 22. Ausschüsse. Sie hatte mich nach meinem Beitrag zu einer persönlichen Führung durch die Bundesliegenschaften eingeladen.

Bundeskanzleramt

Blick aus dem Paul-Loebe-Haus auf das Kanzleramt

Wir trafen uns an ihrem Arbeitsplatz im Paul-Loebe-Haus, gingen durch Sitzungssäle, in den Bundestag, ins Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, in die Bibliothek, fuhren in gläsernen Aufstühlen hinauf und hinab, liefen über Brücken und durch Katakomben, in die Kantine, auf Balkone – bis hinein in die Sporthalle der Angestellten und Abgeordneten, die es gibt, damit die Damen und Herren sich ertüchtigen und nicht dem Gesundheitssystem auf der Tasche liegen.

Bundeshandballhalle

Bundeshandballhalle im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus

An dem Tag, als sich der zehnte Präsident der Bundesrepublik Deutschland aus dem Amt verabschiedete, befand ich mich also im Band des Bundes. Ich fühlte mich sehr geschichtlich.

Wie das immer im Leben so ist, ist das, was am Rande stattfindet, viel interessanter als das eigentliche Geschehen. So war das Gespräch mit Frau Annemarie noch um einiges erhellender als die Immobilien, die sie mir zeigte. Menschen, die mit Überzeugung tun, was sie tun, beeindrucken mich stets. Die große, unpersönliche Politik wirkt gleich viel anders, wenn sie plötzlich ein Gesicht hat – und eine Stimme, die erzählt. Herzlichen Dank dafür!

Reichstag

Blick aus dem Sitzungssaal der FDP-Fraktion auf den Reichstag

Den schönsten Sitzungssaal hat übrigens die FDP, noch.

+++ Tag zwei – Samstag +++

Am Samstag begab ich mich in die Berliner Unterwelt und stieg in die Zivilschutzanlage am Blochplatz hinab, ein Schutzkeller, in dem 1.300 Menschen für 48 Stunden überleben können – vorausgesetzt, sie drehen schnell genug die Kurbel der Lüftungsanlage. Die Anlage wurde im Zweiten Weltkrieg genutzt und in den 70er Jahren als Atomschutzkeller reaktiviert. Der Atomschutz bestand aus einer neuen Schicht weißer Deckenfarbe – das Übrige war Psychologie und zu nichts nütze.

Schild: "Übrigens sind es immer die anderen, die sterben."

Schild am Ausgang des Luftschutzraums Blochplatz, Berlin-Gesundbrunnen

Unter diesen Umständen halte ich es im Falle eines Atomschlag mit dem Herrn, der uns durch die Unterwelten führte: Wenn es soweit käme, sagte er, nähme er sich eine Flasche Wein, suche sich ein schönes Plätzchen und werde schmerzlos innerhalb von zwei Sekunden verdampfen.

Am Samstagabend Kino in der Kulturbrauerei: „Ziemlich beste Freunde“. Wer den Film noch nicht gesehen hat: Er sei wärmstens empfohlen.

[youtube http://www.youtube.com/watch?v=COiqxqkm-Ow&w=480&h=274]

+++ Tag drei – Sonntag +++

Sonntag ist seit jeher der Tag der Klassik und der Besinnung – kurzum: der Alten Nationalgalerie. Seit ich mit 15 Jahren erstmals Museen mit Malerei besuchte, mag ich die Bilder und die Geschichten dahinter.

Alte Nationalgalerie

Alte Nationalgalerie

Ermitage, Louvre, Museum of Modern Art, Guggenheim Museum, Tretjakov-Galerie – bislang war ich vor allem im Ausland in Museen. Nun also mal deutsche Kunst. Erstaunlich dabei ist, wen man alles nicht kennt: Anton von Werner zum Beispiel. Dabei malt er Bilder, in denen jeder, der mag, viel entdecken kann.

Im Etappenquartier von Paris

Anton von Werner: Im Etappenquartier von Paris, 24. Oktober 1870, gemalt 1894

Ein bisschen erinnern mich diese alten, großen Gemälde an Wimmelbilder: An jeder Ecke gibt es etwas zu sehen.

Anderes weckt eher heimatliche Assoziationen:

Alte Nationalgalerie - Bild

Das kennt der Ruhri: Abstich bei Hoesch. Oder naja, vielleicht auch nicht. Aber Kunst ist halt das, was der Betrachter in ihr sieht.

Im ersten Stockwerk dann die Überraschung: Auch mir wurde eine Skulptur gewidmet.

Alte Nationalgalerie - Skulptur

Frau Nessy an einem Sonntagmorgen

Wenn Sie sich nun fragen: Das kann doch nicht alles gewesen sein? Was hat sie denn in der Zwischenzeit gemacht? Da bin ich Ihren zahlreichen Restaurantempfehlungen nachgegangen und habe gegessen. Dazu später mehr.

Genächtigt habe ich übrigens hier: Winterfeldt10.

Berlin

16. 01. 2012  •  154 Kommentare

Das Kännchencafé ist bekanntermaßen ein Service-Blog:
nicht fürs Wissen, mehr fürs Leben, aber dennoch.

Nun benötige auch ich einmal Hilfe – und zwar Ihre. Ich suche ein Hotel in Berlin. Etwas Nettes, gerne etwas außergewöhnlich, aber dennoch preiswert und nicht zu weit ab vom Schuss.

Vielleicht können Sie mir außerdem sagen, was ich mir ansehen sollte. Ich war bereits vier- oder fünfmal in Berlin. Die üblichen Sehenswürdigkeiten kenne ich also.

Restauranttipps nehme ich auch gerne entgegen.

Silvester

1. 01. 2012  •  44 Kommentare

Eine Straße im westlichen Ruhrgebiet:
Altbauten, denkmalgeschützt. Stuck. Hohe Decken. Ehrwürdige Fassaden.

Ich bin bei der Torfrau eingeladen. Wir haben Raclette gemacht – die Torfrau, ihr Björn, die Sozialmaja, das Parterrepärchen und ich. Nun geht es gen Mitternacht. Wir schenken Crémant aus und beobachten den Tischwecker. Dann wird es Zwölf. Großes Hallo, frohes neues Jahr, Stößchen, Schuhe an, hinunter auf die Straße.

Zur Portugiesen-Battle.
Der Portugiesen-Battle.
Dem Grund, warum wir hier feiern und nicht woanders.
Wegen der traditionellen Feuerwerksschlacht der Familien de Silva und de Zosa.

Beide wohnen auf der gegenüberliegenden Straßenseite, weitläufig verwandt und mittelbar verschwägert. de Silva lebt in Nummer 7, de Zosa bewohnt hangaufwärts die Nummer 11. Zu Silvester bestehen sie aus einer unübersichtlichen Zahl von Kindern, hinzu kommen Eltern, Großeltern, Brüder, Schwestern, Vettern und Basen in jeglichem Alter.

Familie de Silva ist bereits vor der Tür, uns direkt gegenüber. Sie wird wie jedes Jahr angeführt von einem pummeligen Mittdreißiger mit gegeltem Haupthaar und gestreiftem Hemd. Er ist Besitzer eines ertragreichen Zehn-Quadratmeter-Büdchens 400 Meter stadteinwärts, zu dem er allmorgendlich mit einer tiefergelegten Ludenflunder pendelt. Heute steht er, die Kippe im Pinzettengriff vor die wulstigen Lippen haltend, auf dem Bürgersteig und gibt den Anzünder für die Böllerbatterien.

Familie de Zosa haben wir nicht so gut im Blick. Mit geschätzt zwei Fußballmannschaften hat sie sich vor dem Haus versammelt, so viel können wir von Nummer 4 aus sehen. Schmächtige Jungspunde positionieren sich dort in der Straßenmitte und geben mit Chinakrachern erste Statements ab.

Dann geht es los. De Zosa legt vor, de Silva zieht nach. Oben wie unten gehen Goldregen und Diamatraketen in die Luft. Bodenfontänen und Leuchtwirbel sprühen. Die 100-Schuss-Feuerwerk-Batterie donnert. Black Rain, Blue Diamonds, Coroner  und Fire Combat, Avalon und Babylon. Büdchen-de-Silva  raucht eine Fluppe nach der anderen, hält die glimmende Asche an die Zündschnur, wirft die Rakete in eine bauchige Sangria-Flasche – und sie zischt in den nebligen Neujahrshimmel. Weiter oben lassen die Jünglinge die Raketen direkt aus der Hand steigen, die Hand in den Pulloverärmel gerollt. Die Silva- und Zosa-Frauen drücken sich gegen die Hauswände, ihre Kinder vor den Beinen, die flachen Hände vor den kleinen Oberkörpern verschränkt. Wir stehen da, nippen Sekt und schwenken Wunderkerzen.

Bestimmt 30 Minuten geht es so, dann beginnt Teil Zwei der Battle, das Synchronfegen. Die Männer, die eben noch im Akkord Raketen in die Luft gejagt haben, greifen zum Besen und bieten Ballett. Fegen, ausholen, fegen, ausholen, die Borsten schieben Berge durchweichter Pappe und gesprengter Kartons zusammen. Die Teenies flankieren den Auftritt mit weiteren Krachern.

Es ist 0:55 Uhr, als sich ein de Zosa aus der Gruppe hügelanwärts löst und durch den Rauch der letzten Böller den Hang hinab schreitet, die Hände in den Hosentaschen, als sei er grad vom Pferd gestiegen. Büdchen stellt sich in der Straßenmitte auf und stützt sich breitbeinig auf seinen Besen. Als sie beinahe Nasenspitze an Nasenspitze stehen, bleibt de Zosa stehen. Er und Büdchen blicken sich einige Sekunden reglos in die Augen. Wir befinden uns genau auf Höhe des Duells, verglommene Wunderkerzen in den klammen Händen. Dann wendet de Zosa seinen Blick und fragt uns: „Und? Wer war dieses Jahr besser?“

„Ihr“, sagt die Torfrau. „Ihr“, sagt Björn. „Finde ich auch“, sagt die Sozialmaja. „Yep“, sage ich, „ganz klar.“ Das Parterrepärchen nickt.

De Zosa grinst und blickt Büdchen an. Die beiden sagen nichts und umarmen sich brüderlich. Zeitgleich lösen sich die Frauen von den Hauswänden und lassen ihre Kinder los. Sie laufen auf die Straße, rennen und schreien. Jetzt wird angestoßen, alle miteinander, alle durcheinander.

Wir gehen rein. Denn für uns ist das Schauspiel nun vorbei. Seit heute steht es 1:2 für de Zosa – soweit wir das beurteilen können. Wir sind ja erst seit zwei Jahren dabei.

365 Tage noch bis zur nächsten Schlacht.

Wie ein Weihnachtsbaum

6. 11. 2011  •  24 Kommentare

Vielleicht sollte ich hier eine neue Kategorie eröffnen:
„Das Leben im Vierersitz.“

Denn: Wieder in der U-Bahn. Ein Mädel telefoniert:
„… hatte ich so die Schnauze voll, wat denkt der sich eigentlich? Da bin ich zu ihm hingegangen und hab gesagt: ‚Chef‘, hab ich gesagt, ’so’ne Firma ist wie’n Weihnachtsbaum. Schön und glitzernd und sogar dat Lametta freut sich, dasset dabei sein darf. Aber wenn die Spitze krumm ist, kannste noch so dicke Kugeln dranhängen: Dann is‘ alles für’n Arsch.“ Jetzt kann ich mir’n neuen Job suchen.“

Reisen

20. 09. 2011  •  66 Kommentare

Schön, das:

[vimeo http://www.vimeo.com/27244727 w=400&h=225]
Wenn ich so an meine eigenen Reisen denke, habe ich auch immer etwas gelernt:
in den USA: dass Europa sehr klein ist
in Finnland: saunieren für Profis
in Norwegen: Karg ist manchmal besonders schön
in Schweden: Kanu fahren
in Island: Entfernungen abschätzen

auf den Kanaren: an meine Grenzen gehen
in Italien: Kopfsprung ins Wasser
in Ungarn: knutschen
in Großbritannien: what happens at Chislehurst
in Russland: Gastfreundschaft und Wimpern tuschen
in Griechenland: jeder Tag verdient eine Melonenpause
in Dänemark: mit schreckhaften Leuten nicht in dunkle Höhlen gehen
in Kroatien: es geht immer weiter, auch mit leckender Ölwanne
in China: dass westliche Kultur nur eine Möglichkeit von vielen ist
in Frankreich: ein Whiskey hilft immer

Drumzu

18. 09. 2011  •  62 Kommentare

Am Wochenende habe ich ein neues Wort gelernt: drumzu.

Nimm das Paket und wickel das Band drumzu.
Ist das irgendwo in Lemförde und drumzu?

Wir gehen um den Dümmer drumzu.

Als Sauerländerin kenne ich ja viele komische Wörter, aber „drumzu“ ist mir noch nicht untergekommen. Wird offensichtlich auch nur in einem Radius von zehn Kilometern um Stemwede gebraucht. Dort aber reichlich und zu jeder Gelegenheit.

El Teide

8. 07. 2011  •  46 Kommentare

Höchster Berg Spaniens: Pico del Teide, Teneriffa, 3718 Meter:

[vimeo 22439234 w=400 h=225]
Als ich dieses zauberhafte Video fand, war ich sofort wieder dort.

Ich bin im Januar 2010 von El Portillo zur Montaña Blanca unterhalb des Teide-Gipfels gewandert – ein Aufstieg von 2000 auf knapp 3000 Meter, zehn Kilometer hinauf, zehn wieder hinunter. Es war die anstrengendste Wanderung, die ich je unternommen habe. Nicht der Strecke oder der Höhe wegen, auch wenn es bisweilen steil war – sondern wegen des Windes. Unablässig fiel er den Berg herunter und mir entgegen. Mein Gesicht brannte. Meine Ohren dröhnten. Er war kurz davor, mich fertig zu machen.

Für die ersten 7,5 Kilometer brauchten wir drei Stunden.

Die ersten 7,5 Kilometer

Mit flatternder Hose am 7,5-Kilometer-Schild nach El Portillo

Auf der Montaña angekommen, blies der Wind so stark, dass ich kaum gerade stehen konnte. Mit Mühe und bebendem Arm machte ich ein Foto – ein einziges. Obwohl es für sich genommen sinnlos ist, einen Berg hinaufzulaufen, nur um hinunter zu blicken, ist das Gefühl, die Anstrengung überwunden zu haben und angekommen zu sein, befreiend und belebend. Ich bin dann sehr nah bei mir.

Am Fuße des Teide

Aussicht von der Montaña Blanca in die Ucanca-Ebene

Wir setzten uns hinter einen Felsen, tranken Wasser, aßen Baguette und Kekse. Viel Zeit war nicht. Denn für den Aufstieg hatten wir länger gebraucht als geplant. Als wir uns auf den Rückweg machten, waren die Schatten schon lang und die Wolken flossen wie Wasser ins Tal. Wir liefen fast, den Wind im Rücken. Am Ende war die Sonne hinter den Teide gesunken und unser Weg lag im Dunkel.

Kurz vor El Portillo

Kurz vor der Ankunft zurück in El Portillo

Als wir durch Lavafelder, Tannenwälder und Nebelwolken zurück an die Küste fuhren, war ich hundemüde. Im Hotel angekommen, duschte ich, aß Runzelkartoffeln, Dörrobst und würzigen Käse – es hätte kein besseres Mahl geben könnten.

Eins war noch am gleichen Abend klar: Sollte ich noch einmal nach Teneriffa reisen und fit genug sein, werde ich komplett aufsteigen – mit Übernachtung in der Schutzhütte und frühmorgendlichem Anstieg zum Teide-Gipfel.
(Der letzte Satz ist ein Beitrag aus dem Büchlein: Ziele, die ich noch habe.)

Sowas wie eine Liebeserklärung

27. 06. 2011  •  64 Kommentare

Eine Stadt, vier tage, acht Weiber.

Frauenkirche

Frauenkirche

Um 8 Uhr morgens zwängen wir uns an Fronleichnam in die Autos, zwei Weiber vorne, zwei hinten. Kassel, Leipzig, Dresden bei 140 Kilometern pro Stunde. Um 16 Uhr sind wir am Ziel, sitzen im Café, essen Eierschecke und blicken auf die Stadt.

Reiseführerin Sabine hat unsere vier Tage minutiös verplant. Neustadt, Pillnitz, Stadtführung, Führung durch die Semperoper, Schloss, Flohmarkt, Frauenkirche, Hofkirche, Kreuzkirche, Sophienkeller. Am Sonntag Heimfahrt, zeitig, wegen der Staugefahr. Ein Reisebootcamp.

Zitronenpresse

Frauenkirche mit Zitronenpresse

Als ich 1999 zuletzt in Dresden war, wurden an der Frauenkirche noch die Steine gezählt. Ich erinnere mich nicht an viel, nur an Baukräne, Gerüste und Halbfertiges. Die Stadt war im Aufbruch, sie atmete das Flair eines befreienden Neuanfangs, aber gleichzeitig war da diese sozialistische Piefigkeit, tief wie ein alter Polstersessel.

Jetzt ist es die schönste Stadt Deutschlands. Ich denke, ich darf das sagen. Denn ich war schon in vielen Städten; in Köln, Berlin, Hamburg, München, Frankfurt, Stuttgart, Hannover und unzähligen mehr. Keine Stadt, nicht einmal das hübsche Erfurt, ist so einnehmend wie Dresden.

Wieso ich das sage? Es ist eher ein Gefühl als ein Urteil des Verstands. Einerseits ist die Stadt groß, üppig, bedeutungsschwanger. Frauenkirche, Semperoper, Zwinger. Überall Geschichte. Die Kurfürsten Sachsens, der Pomp August des Starken. Dann, im Februar 1945, die Bomben. Es scheint mir, als sei Dresden auch heute, 66 Jahre später, noch eine Brandverletzte: Der Körper ist verheilt, aber die Seele hat den Angriff nie verwunden. Über allem liegt der Mantel des Krieges, nur noch ein leichter Sommermantel – aber doch.

Dresden Neustadt

Neustadt, Görlitzer Straße

Auf der einen Seite also der Prunk, die Geschichte, die Verwundung. Auf der anderen Seite eine kleinstädtische Herzlichkeit, eine freimütige Freundlichkeit, die selbst dem Fremden Geborgenheit gibt. Vielleicht liegt es daran, dass die Urbanität sich nicht wie in Berlin aggressiv aufdrängt, sondern alles besonnener, gelassener ist. Es kommt mir vor, der Dresdner wisse, wer er ist und was er an sich hat. Er muss sich nicht suchen. Das tut auch dem Besucher gut: Überall fühle ich mich, als sei ich angekommen.

Pulp Fiction

Pulp Fiction in der Neustadt

Am dritten Tag treffe ich, als ich auf einer Kante vor dem Schloss sitze und Apfelschorle trinke, auf August; ein groß gewachsener, älterer Herr. Ich sage „Herr“, denn obwohl er eine altbackene Nylonjacke und eine bemüht aufgebügelte Bundfaltenhose trägt, funkelt ihm großbürgerlicher Schalk in den Augen – der Glanz eines Mannes von Welt. Opernsänger sei er gewesen, sagt er, und gibt eine Kostprobe im Bariton: die „Fledermaus“ von Johann Strauss. „Auf der Bühne der Semberober habe isch geschdanden und gesungen und gedanzd.“ Den Krieg habe er auch miterlebt, denn er sei jetzt 81, aber immer noch fröhlich und deshalb auf der Suche nach einer Frau.

„Groß muss sie seen“, sagt er und zwinkert mir zu. Er hat wässrig-blaue Augen und Wimpern wie Bambi. Er selbst, sagt er, sei ein Meter achtundachtzig, „und isch will sie beim Danzn nischd hochhebn“. Wäre er es, der dies bloggt, er hätte das „Sie“ wohl groß geschrieben; wäre ich 63 und nicht 33, ich hätte noch am selben Abend mit ihm getanzt. Aber ich wiegele ab, und er rät mir, bereits im Gehen: „Lachen Sie. Isch habe das nie verlernd,  selbsd als die Bomben fieln. Das Leben isd zu gurz, um draurig zu seen.“

Gerne wäre ich länger geblieben, hätte öfter inne gehalten. Die Elb-Auen sind wunderbar. Saftig-grüne Wiesen, Wälder, Häuser und Villen, die sich in Vororten in das Flußtal und seine Hügel schmiegen – sie passen irgendwie zu diesem heiteren, galanten und unprätentiösen Dresden, das selbst im Gewitter einladend aussieht. Das nächste Mal werde ich ein Fahrrad nehmen und an ihnen entlang radeln.

Elbe mit Fernsehturm

Elbe mit Fernsehturm

Überhaupt – das nächste Mal. Ich werde nicht nur radeln, sondern mindestens ein Dutzend Kneipen und Cafés besuchen, dasitzen und mich gut fühlen. Und sonst: mal sehen.

Einfach losgehen. Angekommen ist man ja schon vorher.

Nachtfahrt

27. 05. 2011  •  29 Kommentare

Es ist kurz vor 23 Uhr, und es läuft grad schlecht.

Der Zug hat 45 Minuten Verspätung. Eine erkleckliche Zeit, wenn man bedenkt, dass er im Stundentakt fährt. Ich stehe am Gleis, blicke auf die Anzeigetafel, blicke über den Bahnsteig und atme laut aus. Der Wind zerwuschelt mein Haar und weht eine leere Papiertüte über den fahlen Beton. In Sichtweite grölt eine Gruppe jugendlicher Checker, Basecap, Baggy Pants, Bierbüchse.

45 Minuten später abfahren bedeutet 45 Minuten später ankommen, bedeutet die letzte U-Bahn verpassen, bedeutet den Nachtbus nehmen müssen, der wiederum erst 45 Minuten nach Ankunft abfährt. Das ist nicht schön.

Auf dem gegenüberliegenden Gleis fährt eine S-Bahn ein. Keine, die ich wirklich gebrauchen könnte, aber eine, die in der nächstgrößeren Stadt endet. Eine Stadt mit ICE-Anschluss und einem schöneren Bahnhof; einem, in dem auch mein Zug halten wird – wenn er in 45 Minuten kommt; einem, auf dem um 23 Uhr mehr Menschen unterwegs sind als hier. Vielleicht, wenn ich abgezogen und vertrimmt werde, gucken wenigstens ein paar Leute zu. Ich steige ein.

Hauptbahnhof. Ich steige aus. Nicht schöner hier, aber heller. Noch 35 Minuten, und mein verspäteter Zug kommt vorbei. Auf dem gegenüberliegenden Gleis hält ein ICE. Auch er hat 15 Minuten Verspätung. Heute ist alles zu spät. Der ICE fährt in meine Richtung. Wenn ich einsteige, könnte ich die U-Bahn noch kriegen, mit Glück.

„Was kostet es, wenn ich drei Stationen mitfahre?“ frage ich die Schaffnerin, die müden Auges aus der Tür steigt.
„Hat der Regionalzug Verspätung?“ fragt sie.
„Ja“, sage ich.
„Dann nichts“, sagt sie, „steigen Sie ein.“
„Danke“, sage ich.
„Muss auch mal sein“, sagt sie.

Ich steige ein und lümmel mich in einen der blauen Sitze. Ich mag ICE-Sitze. Sie sind so weich, haben Kopfkissen und Ohrenstützen. Es braucht nicht viel, um mich glücklich zu machen.

Als ich aussteige, steigt auch die Schaffnerin aus, ein Köfferchen am Arm. Fast nebeneinander gehen wir die Treppe in die Bahnhofshalle hinunter.

„Gute Nacht“, sage ich, „und schönen Feierabend.“
„Gute Nacht“, sagt sie, „kommen Sie gut nach Hause.“
„Sie auch“, sage ich, „und: dankeschön.“

Sie lächelt, und ich biege zur letzten U-Bahn ab, die mich treulich nach Hause bringt. Während ich im Bett liege, denke ich: Manchmal ist es besser, einfach loszufahren und nicht so lange auf den richtigen Zug zu warten.

Dann schlafe ich ein.



In diesem Kaffeehaus werden anonym Daten verarbeitet. Indem Sie auf „Ja, ich bin einverstanden“ klicken, bestätigen Sie, dass Sie mit dem Datenschutz dieser Website glücklich sind. Dieser Hinweis kommt dann nicht mehr wieder. Datenschutzerklärung

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen