Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Archiv der Kategorie »Expeditionen«

Heldenplatz und Apfelstrudel

22. 01. 2014  •  36 Kommentare

Wien – an was denkt man, wenn man „Wien“ hört?

An Sachertorte, ganz sicher. An Kaffeehäuser. Ans Walzertanzen. Vielleicht an Sissi. An die Türken, die vor den Toren standen. An den Wiener Schmäh. All das hatte ich im Kopf, als ich hinflog – aber nur wenig mehr, denn ich war bis anhin noch nie in Wien.

Der kleine Reiseführer, ein backenbärtiger, älterer Herr, der sich von Kaiser Franz Joseph nur dadurch unterschied, dass er eine Brille trug, über die er verschmitzt hinwegschaute, stand irgendwann weinend auf dem Heldenplatz. Wir hatten uns dort versammelt, damit er uns die Geschichte der Stadt erzählt. Von den Habsurgern erzählte er – und vom Dritten Reich: „Dort oben hat er gestanden, der Führer, und hat den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich erklärt.“ Er sagte tatsächlich „Führer“, nannte niemals seinen Namen. Schwarz vor Menschen sei er gewesen, der Heldenplatz. Dabei seien die Wiener keine Nazis gewesen. „Die waren bloß neugierig“, sagt er. „So ist der Wiener halt: neugierig.“ Ich frage mich, ob das die jüdische Bevölkerung seinerzeit auch so empfand.

Später, im Jahr 1955, sei er Zeitzeuge gewesen; als die alliierten Besatzungsmächte abzogen, habe er dort vorne – er deutet auf eine Laterne – gestanden und habe Scherze gemacht, denn er habe nicht verstanden, was vor sich gehe. „‚Weißt du eigentlich'“, erzählte er von einem Mann, der hinter ihm gestanden und ihn angesprochen hatte, „weißt du, was gerade hier passiert? Wir werden heute frei.‘ Und wissen Sie was?“, fährt er fort. „Ich konnte nichts mit dem Begriff ‚Freiheit‘ anfangen.“ Er sei doch frei gewesen, habe sich frei bewegen können, sei freundlich zu den Soldaten gewesen und habe im Gegenzug von ihnen Kaugummis bekommen. Auf dem Dach der Hofburg, erzählt er weiter,  hätten seinerzeit die Flaggen der Besatzungsmächte geweht; die österreichische habe neben ihnen gehangen – als eine von vielen. Aber als die alliierten Soldaten an jenem Tag im Jahr 1955 nach rechts den Heldenplatz verließen und von links das österreichische Bundesheer gekommen sei, als man die alliierten Flaggen eingeholt habe und danach nur eine einzige, die österreichische, aufgezogen habe, die dann stolz auf dem Gebäude wehte – seine Augen wurden rot und füllen sich mit Tränen -, da, ja, da habe er begriffen, was Freiheit sei.

Ich habe mir noch andere Orte in Wien als die Hofburg mit dem Heldenplatz angeschaut. Sämtliche touristisch wertvollen Gebäude habe ich abgeklappert, meine Zu-Fuß-Geh-App hat rund 35 Kilometer aufgezeichnet. Ich möchte Sie aber nicht mit den üblichen Attraktionen belästigen. Stellvertretend hier ein Bild vom Schloss Belvedere. Da taten mir schon die Füße weh und ich brauchte dringend eine Melange.

Blick auf das untere Belvedere

Blick auf das untere Belvedere

Neben den vielen Sehenswürdigkeiten, die sich manchmal ankündigen, manchmal unverhofft hinter der nächsten Ecke überraschen, immer aber sehr beeindruckend sind – ein Glück, dass Wien kaum bombardiert wurde -, sind es viele kleine Dinge, die mich erfreuten. Stellvertretend:

Wäscheflott neben dem Theaterkartenbüro

„Wäscheflott“ in der Nähe der Nationalbibliothek

Praktisch erschienen die Weihnachtsbaumsammelstellen („Kein Lametta wäre netter.“), die auch vor hohem Kulturgut keine Scheu zeigen. Hier in Dortmund muss man den Baum an einem bestimmten Datum rausstellen – nicht früher, nicht später – und wer den Baum noch behalten oder ihn früher abgeben möchte, hat Pech gehabt.

Weihnachtsbaumablagestelle vor der Spanischen Hofreitschule

Tannensammelstelle

Kommen wir zu kulinarischen Aspekten der Reise. Ich möchte die Wiener Sehenswürdigkeiten nicht schmälern, aber wenn Sie, sagen wir, nur drei Stunden Zeit haben, um Wien zu entdecken: Schenken Sie sich die Hofreitschule – essen Sie! Die Kalorien, die ich beim Sightseeing verlaufen habe, habe ich nicht in Wien zurückgelassen – ich habe sie allesamt wieder mitgebracht (und wahrscheinlich noch mehr).

Café Drechsler am Naschmarkt

Café Drechsler am Naschmarkt

Sollte es bei mir beruflich einmal nicht mehr gut laufen, habe ich am vergangenen Wochenende eine neue Perspektive für mich entdeckt: als Apfelstrudel-Testerin. Test-Kriterien: „Vanillesoße“, „Teig“, „Apfelwürze“ und „begleitender Kaffee“. Ich habe in vier Tagen vier Apfelstrudel gegessen – und wäre auch zu mehr bereit gewesen, wenn ich nicht auch noch Wiener Schnitzel hätte essen wollen (und müssen, denn hey! Wien!). Vorläufiger Strudelfavorit ist:

Café Landtmann

Café Landtmann

Im Café Landtmann habe ich den besten Apfelstrudel meines Lebens gegessen, ein orgiastisches Fest, ein fast erotisches Erlebnis, eine musische Komposition – Sie werden alle Apfelstrudel vergessen, die Sie vorher jemals verzehrt haben, es wird eine Strudelamnesie einsetzen, sie werden nur noch an diesen einen Strudel denken können, und selbst, wenn Sie wieder zu Hause sind und wenn sie nur über diesen Strudel schreiben, wird es Sie wieder packen und Ihre Gedanken werden besessen sein.

Um wieder runterzukommen, folgt ein Bild von einem zusammengerollten Farnblatt:

Farnzeugs im Palmenhaus, Schloss Schönbrunn

Farnzeugs im Palmenhaus, Schloss Schönbrunn

So. Und morgen gibt’s erstmal ’ne Waffel. Übersprungshandlung.

Im Schlosspark Schönbrunn

Im Schlosspark Schönbrunn. Mit Wiener Mütze. Weil’s so kalt war.

Einmal in der Wiener Hofburg tanzen

21. 01. 2014  •  28 Kommentare

Es gibt Gelegenheiten im Leben, die man gerne verstreichen lässt. Und solche, die man ohne nachzudenken ergreift. So begibt es sich, dass ich am Wochenende in Wien Walzer tanzen durfte.

Wiener Hofburg bei Nacht

Die Wiener Hofburg, hübsch beleuchtet.

Es ist neun Uhr am Abend, als ich an der Hofburg ankomme.

Die Gäste im Foyer sind schon zahlreich und zudem prächtig anzuschauen: schmale Kleider, breite Kleider, raffinierte Kleider, tumpe Kleider, Kleider mit Reifrock und vereinzelte Trachten, Smokings, Uniformen und erst die Frisuren! Das alles unter Kronleuchtern und zwischen Marmorsäulen, neben Blumenbouquets und Damasttapeten. Ich weiß gar nicht, wo ich zuerst hingucken soll.

Der Einlass

Das Publikum (illuster) defiliert in den Festsaal.

Ich tue es den anderen nach, hebe mein Kleid an und gehe die große Feststiege hinauf, dorthin, wo sich die Tanzsäle befinden. Es gibt an diesem Abend viele davon, 40 Stück.

Ich suche mir ein Plätzchen am Rand den großen Zeremoniensaals.

Die Eröffnung im Festsaal

Die Jungdamen und Jungherren betreten das Parkett. Das Orchester spielt. Links neben mir fällt eine Dame in Ohnmacht.

Das Fest beginnt. Erst marschieren die Jungdamen- und Jungherrenkomitees herein – die Männer in Uniform, die Damen in Weiß. Sie nehmen Aufstellung; es ist ihr großer Tag, man sieht ihnen an, wie zittrig sie sind, wie nervös sie lächeln. Es folgen Amts- und Würdenträger, das Musikkorps spielt. Es geht Schlag auf Schlag, neben mir fällt eine kleine Dame in Ohnmacht, Opernmenschen singen und Profitänzer tanzen. Auch auf dem Parkett sinkt eine der Weißen hernieder. Ein Minister spricht zur Menge, Fotografen machen Bilder, die Jungdamen und -herren eröffnen – in leichter Unterzahl – schließlich den Tanz. Als ich wieder auf die Uhr sehe, sind eineinhalb Stunden vergangen.

Ich bestelle ein Wasser. Es muss ein ganz besonderes Wasser sein, denn die Flasche kostet zwölf Euro. Ich trinke sie sehr langsam. Erst jetzt fallen mir die Jutetaschen auf, die hier und da an der Wand lehnen, Kleidung zuoberst. Wenn der Kellner nicht schaut, langen die Besitzer flink hinein: Eine behende Bewegung, und ihr Glas ist wieder voll. Hier zahlen nur die Laien – und die, die es sich leisten können oder wollen.

Schon kurz darauf wird der Walzer unterbrochen: Es ist zwölf, Andy Lee Lang startet seine Rock’n’Roll Piano Show, eine Big Band spielt auf, der Festsaal swingt. Ich flaniere durch die übrigen Räumlichkeiten. „Marmorsaal“,  „Redoutensaal“, „Radetzky-“ und „Maria-Theresia-Appartments“, „Antekammer“, „Trabantenstube“ – so heißen die Säle, in denen gespeist, getrunken und getanzt wird. Einer folgt dem nächsten, zwischendrin Stiegen und Galerien, irgendwo tanzt eine Profi-Formation; der Spaziergang dauert eine ganze Weile. Es ist alles sehr beeindruckend.

Das Damen-Schrammelorchester bittet zum Tanz.

Das Damen-Schrammelorchester bittet in einem Nebensaal zum Tanz.

Es ist gegen halb zwei, als ich mich an die große Feststiege stelle und schaue, wer hinauf kommt und hinunter geht: alte Männer mit alten Damen, junge Männer mit jungen Damen und alte Männer ebenfalls mit jungen Damen.

Kretschi gesellt sich zu mir und fragt mich, warum hier wohl so viele Väter mit ihren Töchtern sind.
„Kretschi“, sage ich, „das sind nicht deren Töchter.“
„Meinste?“
„Was glaubst du denn, warum die ihren Töchtern sonst so auf die Brüste starren?“
„Vielleicht haben sie sie lange nicht gesehen und wundern sich, wie groß sie geworden sind.“

Am nächsten Tag werden wir bei einem Wiener Schnitzel feststellen, dass uns allen dieselben Leute aufgefallen sind: die dünne Dunkelhäutige zum Beispiel mit Armen wie Streichhölzern, aber Dingern wie Melonen; die blasse Braunhaarige in dem weißen, berüschten Reifrock und der Sissi-Frisur; der Brite mit der slawischen Schönheit, auf deren Kleid von Nippel zu Nippel eine goldene Kette gespannt ist; das russische Pärchen, das hackedicht im Polkaschritt durch die walzernde Menge galoppiert.

Die Big Band ist fertig, im Zeremoniensaal bittet der Tanzmeister nun zum Contredanse: höfischer Tanz, paarweise. Es wird die Schrittfolge geübt, geknickst und huldvoll genickt. Die Russen tanzen weiter Polka.

Contredanse im Festsaal

Contredanse im Zeremoniensaal.

Gegen drei Uhr ist die Luft ein wenig raus. Noch eine Stunde, bis der Trompeter zum Zapfenstreich bläst. Ich schaue an der Tombola, ob ich etwas gewonnen habe: Es werden ein Schreibtischstuhl verlost, außerdem Rucksäcke und ein Flachbildfernseher. Die  Gäste beginnen, die Blumen zu zerlegen; das hat hier Tradition und ist keine schlechte Erziehung, auch wenn es vor den Orchideen vereinzelt zu Gerangel kommt.

Die Dame rechts zerrupft das Bouquet.

Halb vier in der Nacht. Eine Dame rechts zerrupft das Bouquet.

Um vier Uhr ist Schluss. Die Festgesellschaft zerstreut sich. Die Blumen verlassen in den Händen müder Damen das Haus. Männer rufen Taxen. Wem die Füße besonders weh tun, der verlässt das Haus auf Socken.

Im Bett angekommen, schlafe ich, glücklich und berauscht von der Ballnacht, im Dreivierteltakt ein.

Kreuzfahrt

21. 11. 2013  •  15 Kommentare

Er sitzt schon in der Bahn, als ich einsteige.

Er ist ein bisschen untersetzt, mit grauem Haar, einem Lächeln auf den Lippen und verschmitzten Augen. Ich setze mich neben ihn. Meinen Koffer schiebe ich vor meine Füße.

„Wo geht’s hin?“, fragt er und deutet auf den Koffer.
„Nur nach Hause“, antworte ich, denn ich bin nicht auf Reise. Ich habe den Koffer nur grad gekauft.
Er sei gerade erst wiedergekommen, sagt er. In der Karibik sei er gewesen, auf Kreuzfahrt.
„Das war bestimmt toll“, antworte ich.
Ja, meint er. Die Reise an sich sei prima gewesen. Aber ach. Er habe keinen gehaben, der hätte mitfahren können, und wenn man seine Erlebnisse nicht teilen könne, das sei doch nichts, nein, das ist nicht schön.
„Gab es denn niemanden, der sie begleiten wollte?“
„Weißt du“, antwortet er. „Meine Frau ist schon seit Jahren tot. Kinder haben wir nicht.“ Und eine neue Partnerin habe er auch nicht, dabei wünsche er sich sehnlichst eine, aber nun ja, das sei halt schwierig, er sei ja auch kein ganz einfacher Mensch.
„Ach was“, sage ich. „Sie sind doch kontaktfreudig.“

Er erzählt, dass er vor seiner Kreuzfahrt eine Anzeige aufgegeben habe: „Älterer Herr sucht Reisebegleitung.“ Er sagt, er hätte seiner Begleitung die Reise sogar bezahlt, nur damit er nicht alleine unterwegs sein müsse. „Aber es haben sich nur zwei Frauen gemeldet.“
„Immerhin“, sage ich.
Die eine, erzählt er, habe direkt ihr Zeugnis als diplomierte Pflegekraft mitgeschickt. Und die andere – ja, die habe geschrieben, sie begleite ihn gerne gegen ein Honorar von 5.000 Euro. Für 5.000 Euro stünde sie dann auch „für alle Dienstleistungen“ zur Verfügung.
„Das war doch ’ne Nutte!“, empört er sich.
Ich muss lachen. „Sie haben also keine der beiden Damen mitgenommen“, stelle ich fest.
„‚Ne Altenpflegerin und ’ne Nutte? Nä!“

Aber er habe beide Bewerbungen aufbewahrt. Für später mal. Man könne schließlich nie wissen, welche Notwendigkeiten sich im Leben noch ergäben.

Badetag

24. 10. 2013  •  31 Kommentare

Inmitten meiner Renoviererei habe ich etwas Verrücktes gemacht: Pause.

Dazu bin ich nach Bad Sassendorf gefahren. Bad Sassendorf liegt zwischen Werl und Erwitte-Anröchte. In Bad Sassendorf gibt es, das lässt die Verortung bereits vermuten, viel Gegend. Außerdem gibt es viele Rentner. Bad Sassendorf ist nämlich die älteste Gemeinde NRWs: Jeder dritte Einwohner ist über 65, jeder zehnte sogar über 80 (kuksdu).

Bad Sassendorf ist ein Kurort und somit prädestiniert für Erholungssuchende. Also für mich. Der Ort besitzt außerdem eine Therme mit Sauna und Solebad: genau das Richtige nach all dem Schleifen, Streichen und Bohren. Ich packe mich ins Auto, brumme über die A44 und fahre ins Rentnerparadies.

Es ist wirklich sehr ruhig im Thermalsolebad. Unfassbar ruhig. Nirgendwo Kinder. Wirklich: gar keine. Auch keine Jugendlichen. Überhaupt niemand, der jünger als 60 ist. Auch nicht im Schwimmbad, das neben der Saunalandschaft liegt, das zwar keine Rutsche und keine künstlichen Wellen hat, das aber immerhin ein Schwimmbad ist. Stattdessen Rentner, die luftballonesk durchs Wasser treiben. Fast ohne Schwimmbewegungen gleiten ihre silbernen Köpfe im Salzwasser dahin. Im Hintergrund plätschert ein Wasserpilz.

Ich liege eine Weile im Wasser herum. Dann wird es mir zu langweilig, und ich gehe in die Saunalandschaft. Sie bietet ein Dampfbad, eine Kristallsauna, eine finnische Sauna und einen Plan mit stündlichen Aufgüssen. Also alles, was man braucht und noch mehr. Auch hier bin ich die Einzige, die die Wechseljahre noch vor sich hat, vielleicht sogar die Einzige mit eigenen Zähnen.

Trotz der Auswahl an Saunen halten sich die Alten an diesem Tag fast nur im Caldarium auf. Das Caldarium hat um die 60 Grad; das ist nicht sehr heiß, das ist angenehm, ein bisschen wie im Sommer in einer Studenten-Dachwohnung. Auf den Fliesen vor der Glastür stapeln sich die Badelatschen, im Brillenständer neben der Tür lagert Sehhilfe neben Sehhilfe. Wie hingegossen liegen die Leute auf dem Holz. Sie liegen auf dem Rücken und auf der Seite; manche, Männer wie Frauen, schnarchen dort halbe Stunden, die einen rasselnd, die anderen röchelnd, wieder andere nur leise schnaufend. Über ihnen wechselt warmes Licht klackend zwischen den Farben: mal Rot, mal Grün, mal Gelb.  Ein Snoozelraum für Senioren.

Sind die Alten nicht im Caldarium, liegen sie nackig und in Gruppen auf einer der Liegen am Thermalbecken, ziehen die Beine an, lassen sie zur Seite kippen, richten sie wieder auf, lassen sie zur anderen Seite kippen. Hüftgymnastik, Rückenschule – so muss das, so rostet man nicht ein, gemeinsam turnt es sich am schönsten. Wer derweil im Wasser treibt, sich abkühlt und vom Fußende aus auf die Liegendturner sieht, blickt auf lange, faltige Hodensäcke, die durch die angewinkelten Beinen hindurchfallen und auf den Pobacken zu liegen kommen. Ja, das ist das Leben, so wird es uns eines Tages allen gehen: Dem einen hängt der Sack, bei der anderen sind’s die Brüste. Ewig jung bleibt nur, wer früh stirbt.

Ich wickel mich in meinen Bademantel und gehe in den Ruheraum. Im Ruheraum, einem gedämmten, gedimmten und abgeschlossenen Bereich mit Schlummerliegen und Kuscheldecken, falle ich in einen komatösen, traumlosen, alle Zeit vergessenden Zustand. Zwei Stunden lang bin ich fort. Dann weckt mich das Ticken der Wanduhr.

Ich gehe noch einmal in die Sauna. Während ich daliege, kommt ein junges Pärchen hinein, immerhin eins. Es legt seine Handtücher aus, unterhält sich kurz flüsternd, setzt sich dann und schwitzt zurückhaltend.

Ich dusche ein letztes Mal. Dann fahre ich heim, zurück in die Großstadt, zurück in Welt. Ich fühle mich sehr erholt.

Mit dem Zug fahren

24. 06. 2013  •  13 Kommentare

Zwölf Stunden Zugfahren ist so ziemlich das Unaufregendste, was man sich vorstellen kann. Das Ganze ist ein elendes Herumsitzen, eine Aneinanderreihung von Lektüre, Arztserien und spontanen, mit unschön geöffnetem Mund durchgeführten Nickerchen, die stets mit einem beschämenden, schnappatmenden Schnarcher enden.

Nur das Umsteigen bringt Spannung in die Fahrt – besonders wenn der Zug, den man erreichen möchte, aus Hochwassergebieten anreist. Oder auch nicht. Denn niemand weiß: Kommt er nun, oder kommt er nicht? Auch das Bahnpersonal zuckt mit den Schultern. Da steht man dann am Bahnsteig von Mannheim, verschwitzt und klebrig, mit einem Rucksack auf den Schultern und fragt sich, ob man zuvor jemals in Mannheim gewesen ist und warum man dort hinwollen sollte.

Das Umsteigen macht die Zugfahrt nicht besser, der Vorteil ist nur: Man kann den seltsamen Menschen entfliehen, die sich neben einem niedergelassen haben.

Da ist zum Beispiel diese alterslose Dame mit dem Baby-Houseman-Gedächtnis-Haarschnitt und dem pinken Spängchen, die die Strecke von Duisburg bis Mannheim damit zubringt, jeden Buchstaben der Freizeit Revue zu inhalieren. Vielleicht reist sie zu einem Freizeit-Revue-Rezitationswettbwerb, auf dem sie die aktuelle Ausgabe auswendig hersagen muss. Beim Lesen knibbelt sie sich fortwährend Nagelhaut ab, ein kleiner Berg hat sich schon am Fuß der Revue auf dem kleinen Klapptischchen angehäuft. Als ich aussteige, wischt sie ihn mit beiläufiger Nonchalance in meinen Fußraum.

Im Vierersitz schräg daneben Teenager: vier Mädchen in Sweatshirts, die sich Ohrhörer teilen und Kirschkaugummis herumreichen, auf denen sie  malmend kauen, die sie aufpusten und knallen lassen. Aus ihren Shorts schauen makellose, sonnengebräunte Beine. Man fragt sich, woher diese Beine nach nur vier sonnigen Tagen schon so braun sein können und staunt, wie dellenlos sie sind. Ob man selbst auch mal solche Beine gehabt hat? Es muss so gewesen sein, aber man kann sich nicht erinnern. Wirklich fantastisch. Nur, wie die Mädchen sich lachend nach vorne beugen und sich dann mit Schwung zurück in den Sitz fallen lassen, so voller Übermut, dass dem Hintermann das Laptop auf dem Tischchen bebt und die Cola aus der Dose schwappt – das ist gar nicht fantastisch. Sie reisen weiter nach sonstwo.

Dann der Mann mit den Socken. Ein bodenständiger Herr in sportiver 7/8-Outdoor-Hose, die man zum Wandern anziehen kann, aber nicht muss – es geht auch einfach nur so, zum Beispiel für eine lange Zugfahrt, wegen der Gemütlichkeit; dann drückt und ziept nichts, nicht am Bauch und nicht in den Kniekehlen. Die ebenfalls schlammfarbene, halb geschlossene Herrensandale rundet das Ensemble ab und gibt dem Träger eine nüchterne Tatkraft, wie sie Menschen zueigen ist, die Samstagsmorgens ihren Jägerzaun streichen. Wegen der Gemütlichkeit stellt der Herr zwischen Siegburg und Frankfurt seinen Sitz zurück, streift die Sandale ab und legt einen grauen, grob gerippten Kurzstrumpf frei, der einen abartigen Gestank von sich gibt. Er bleibt mit Baby Houseman im Zug.

In Mannheim fährt wider Erwarten der ICE 599 doch noch ein. Mit 40 Minuten Verspätung, aber immerhin: Wenn man mit nichts gerechnet hat, ist auch das ein Geschenk. Im Nebensitz nun ein Jüngling, der wie Beetlebum ausschaut, es aber nicht ist. Trotzdem: irgendwie schön.

Serviceblog: Russisch für Kinderfreunde

20. 06. 2013  •  33 Kommentare

Zypernurlaub, Teil II: Sprachkenntnisse.

Um vor meinem Besuch bei meiner Freundin und ihren Kindern ein wenig Russisch zu lernen, habe ich mir ein Lehrbuch „Russisch für Anfänger“ gekauft.

Bereits in Lektion 1 erfuhr ich wichtige Dinge, zum Beispiel die russischen Wörter für „Huhn“ (ку́рица) und „Kralle“ (ко́готь). Wie praktisch, dachte ich, wäre ich zum Beispiel Geflügelzüchterin. Im zypriotisch-russischen Alltag stellte sich jedoch rasch heraus, dass Hühnerkrallen von keinerlei Belang sind. Um genau zu sein, habe ich während meines Urlaubs kein einziges Huhn gesehen, bei dessen Anblick ich mich mit dem Ausruf: „Oh, schau! Ein Huhn! Mit Kralle!“ hätte profilieren können.

Desgleichen lernte ich Sätze wie: „Ich bin ins Schleudern geraten“ und „Der Rauch steigt steil zum Himmel empor“. Beide Sätze habe ich trotz bemühter Suche nach passenden Gelegenheiten nicht zur Anwendung bringen können. (Das Wort „Feuer“ wurde in den Lektionen nicht durchgenommen. Im Falle eines Brandes hätte ich also gesagt: „Bitte verzeihen Sie, bei der Kralle meines Huhns, Rauch steigt steil zum Himmel empor! Dawei! Dawei!“).

Mein Russisch-Studium erwies sich bei Ankunft in Zypern also als wenig hilfreich. Zum Glück ist einer der Buben erst drei Jahre alt und kommentierte auf jeder Autofahrt alles, was er vor dem Fenster sah – oder fragte, was dieses und jenes sei. Dank dieses Umstandes konnte ich gemeinsam mit ihm den Spracherwerb vollziehen – wie praktisch. Und noch dazu so verbindend. Allerdings interessierte sich der Kleine vor allem für motorisierte Fahrzeuge, so dass ich nun verhandlungssicher automobiles Vokabular beherrsche, konkret die Wörter für Mofa, Motorrad, Auto, Laster, Anhänger, Quad, Trike und Buggie. Überdies kenne ich mich bestens im Segment „Baumaschinen“ aus (Bagger = экскава́тор, „Exkawator“). 

Ich komme nun zum Punkt meiner Rede: Es braucht dringend ein Wörterbuch für den Umgang mit Kindern, das in den ersten Kapiteln keine Höflichkeitsfloskeln, Verwandtschaftsbeziehungen oder Unfallhergänge durchnimmt, sondern sich den wichtigen Themen widmet. Titelvorschlag fürs Russische: „Paschli! Paschli! Basis-Russisch für Kinderfreunde“.

Den Grundwortschatz möchte ich Ihnen hier im Serviceblog schon einmal anbieten:

Grundbedürfnisse

  • Eiscreme (maróschnaja)
  • Schokolade (schokolad)
  • Durst (schaschda)
  • Hunger (gálad)
  • müde (ustál)

Bonussatz: Snatschála sup, satjem maroschnaja. – Erst die Suppe, dann gibt’s Eis.

Die Frage „Schto djelaesch?“ (Was machst du da?) sollte man verstehen und passend mit der Beschreibung gähnend langweiliger Tätigkeiten antworten können:

  • Ich lese. (Ja tschitáju.)
  • Ich ruhe mich aus. (Ja átwuichaju.)
  • Ich schlafe. (Ja spischtschu.)
  • Paltschasá, patjóm igrájem. – Eine halbe Stunde noch, danach spielen wir.

Wichtige Vokabeln sind überdies:

  • Hund (cabáka)
  • Katze (kaschka)
  • Käfer (dschuk)
  • groß (balschój)
  • klein (málinko)

Ausrufe und Befehle

  • Guck mal! (Smatrí!)
  • Schnell, hopp, hopp. (Dawei! Dawei!)
  • Du bleibst sitzen! (Sidjusch!)
  • Achtung! Aufpassen! (Astaroschnja!)

Im Herumkommandieren von Kindern ist das Russische sehr vielfältig. Das erkennt man schnell, wenn man mit russischen Eltern zusammen ist. Ein detaillierte Auflistung würde an dieser Stelle allerdings den Rahmen sprengen, außerdem ist man ja Gast, da hält man sich zurück. Mitlesenden Eltern seien nur zwei Vokabeln ans Herz gelegt, die ihnen, ins Deutsche übernommen, bei ihren eigenen Kindern zu mehr Durchsetzungsvermögen verhelfen können.

Vokabel 1: Paschlí! – Dieses kleine Wort gibt die Aussage „Los jetzt, vorwärts, beeil dich, nicht herumtrödeln!“ in nur zwei Silben wider. Im Feldwebelton vorgetragen, zeigt es erfreuliche Wirkung. Hilfreich ist auch Vokabel 2: Díssuda! – Es bedeutet: Du kommst jetzt sofort und ohne Umwege hierher, aber zack, zack! Die Betonung liegt auf der ersten Silbe, auf dem scharfen S in der Mitte können Sie, wenn Ihnen danach ist, einen kurzen Moment verweilen. Es spricht sich am besten aus, wenn man die Augenbrauen zur Nasenwurzel zieht und die Augen leicht zukneift.

Der Bekanntschaft zu russischen Kindern steht nun also nichts mehr im Wege. Ich wünsche Ihnen schöne Begegnungen!

Zypern

18. 06. 2013  •  28 Kommentare

Weißer Strand, hellblaues Wasser, ein paar müde dümpelnde Boote und dazwischen: ich, liegend. Mit Sand zwischen den Zehen und einer leichten Brise auf dem Körper.

Damit sind die Vormittage der vergangenen Woche ausreichend beschrieben.*

Makronissos Beach

Kein Farbfilter. Es sah dort tatsächlich so aus.

Oder nein: Manchmal habe ich Frisbee gespielt – Wasserfrisbee, das darin bestand, den Frisbeering fortzuwerfen und um die Wette hinterherzuschwimmen. Manchmal habe ich auch eine Sandburg gebaut, mit Wassergraben und einem Turm für Pavel, Chief of Intelligence Service, der die Botschaften feindlicher Piraten entschlüsselt, um Alarm zu geben, wenn ein Angriff auf die Burg des Zaren droht. Manchmal bin ich auch geschwommen, so richtig meine ich, jeden Tag bis raus zur Boje und wieder zurück. Dort hinten gab es wilde, gefährliche Wellen; die Perspektive des Fotos verbirgt das in geradezu lächerlicher Art und Weise.

Einmal sind wir nach Nordzypern gereist. Die Grenze zwischen Zypern Süd und Nord ist netter, als die zwischen Deutschland Ost und West es war, allein schon wegen der Geranien vor den Grenzhäuschen. Neben den Geranien sitzen eine Handvoll dicker Griechen, die Beine hoch, und winken einem wohlwollend beim Vorbeifahren zu. Die Türken ein Häuschen weiter möchten den Pass sehen und stellen ein Visum aus, das nicht mehr ist als ein Zettelchen mit Stempel, das man allerdings nicht verlieren darf, sonst kommt man nicht wieder raus.

Hinter dem Grenzhäuschen erstreckt sich zunächst viel Prärie, man könnte meinen, man sei im Mittleren Westen. Ich habe jeden Moment damit gerechnet, ein Cowboy presche in wildem Galopp heran, hebe mich auf sein Pferd und reite mit mir zum Strand. Stattdessen aber überholte uns nur ein rasendes Müllauto.

Nordzypern: goldgelbes Feld vor Bergen

In der Prärie von Nordzypern.

In den Bergen: ein Schloss, halb Kloster, halb Burg, mit drei in den Stein gebauten Etagen. St. Hilarion soll sogar Walt Disney inspiriert haben. Man mag es ihm nicht verdenken.

St. Hilarion

St. Hilarion, erste Etage

Wenn man dann oben ist – was einige Zeit in Anspruch nimmt – hat man einen ausgezeichneten Blick auf die Nordküste. Auf halber Strecke befindet sich ein Café, das wir, weil: erst die Arbeit, dann das Vergnügen, zunächst links liegen gelassen haben – was dazu führte, dass wir auf dem Gipfel kalte Limonadengläser vor unseren Augen schweben sahen. Anwesende sechsjährige Jungen halluzinierten überdies Eiscreme und verfielen in ein dissonantes Quengeln.

St. Hilarion

Um von dort hinunterzuschauen, muss man bedauerlicherweise heraufsteigen.

Den Visumzettel habe ich nicht verbummelt, was ich mir selbst hoch anrechne. Eine türkische Grenzbeamtin meinte auf dem Rückweg und bei Einsicht in meinen Reisepass: Oh mei, wie blond ich sei und wie groß und wie deutsch, quasi wie Heidi Klum. Daraufhin erfanden wir den Ausdruck „preparing Heidi“, den wir fürderhin benutzten, wenn ich zum Frischmachen ins Bad musste: „Wait a minute, I gotta prepare Heidi!“

Heidi (background) and groupie (front).

Heidi (background) und Groupie (front).

Heidi hatte, sonst wäre sie nicht Heidi, auch im Urlaub Fototermine – in Klöstern. Der kleine Junge mit dem großen Eiswunsch hat es mithilfe geheimer Superkräften geschafft, auf jedem Foto aufzutauchen.

Frau Nessy im Kloster von Agia Napa

Suchbild: Wer den kleinen Jungen findet, bekommt eine Waffel.

Anwesend war außerdem: ein Baum. Vor diesem Baum, wie auch auf Felsen, an Küsten und vor malerischen Kirchen, ließen sich Unmengen von Hochzeitspaaren ablichten. Ja, wirklich: Unmengen. Ich habe in einer Woche mindestens und nicht übertrieben zwanzig gesehen. Zypern scheint ein Ort der Liebe zu sein.

Baum im Kloster von Agia Napa

Dicker, alter Baum. In diesem Fall ohne Hochzeitspaar.

Zu essen gab es auch etwas: Meeze, die Tapas-Variante der Griechen. Wenn Sie die Gelegenheit haben, derlei zu bestellen, nutzen Sie sie: Die Sachen sind ausgesprochen köstlich und schmecken dank Fleischbällchen auch Kindern. Wobei ich ergänzen muss, dass Dreijährige nicht nur die Fleischbällchen, sondern auch den Halloumi geradezu mähdrescherartig wegfraßen.

Meeze

Meeze: wie Tapas, nur auf griechisch.

Fazit: Zypern ist super. Fahren Sie hin. Im nächsten Kapitel lesen Sie: Russisch lernen von und für Drei- bis Sechsjährige.

[*Service-Info: Ich war in Zypern zu Gast bei einer russischen Freundin und ihren zwei Söhnen.]

Gastgeschenke

3. 06. 2013  •  13 Kommentare

Vielen Dank für die Gastgeschenk-Tipps!

Ich habe mich nun entschieden für: Dinosaurier-Figuren von Schleich, einen Frisbee-Ring, den großen Traktor von Lego Duplo, ein Kinderfernglas, eine Kindertaschenlampe mit normalem Licht und mit Projektionen aus der Sendung mit der Maus und ein Tattoo-Set mit Piraten und Totenköpfen. Das lässt sich alles gut transportieren und macht bestimmt viel Spaß.

Einiges andere habe ich mir auf den Wunschzettel gesetzt, zum Beispiel Cross-Boule – für spätere Geschenke. Es kommen ja immer Geburtstage und andere Gelegenheiten.

Der älteste Sohn, so habe ich erfahren, wird nicht da sein. Der Arme ist schulpflichtig und muss in Moskau büffeln. Ich werde ihm ein BVB-Trikot einpacken, das er dann später erhält.



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