Es gibt Gelegenheiten im Leben, die man gerne verstreichen lässt. Und solche, die man ohne nachzudenken ergreift. So begibt es sich, dass ich am Wochenende in Wien Walzer tanzen durfte.
Die Wiener Hofburg, hübsch beleuchtet.
Es ist neun Uhr am Abend, als ich an der Hofburg ankomme.
Die Gäste im Foyer sind schon zahlreich und zudem prächtig anzuschauen: schmale Kleider, breite Kleider, raffinierte Kleider, tumpe Kleider, Kleider mit Reifrock und vereinzelte Trachten, Smokings, Uniformen und erst die Frisuren! Das alles unter Kronleuchtern und zwischen Marmorsäulen, neben Blumenbouquets und Damasttapeten. Ich weiß gar nicht, wo ich zuerst hingucken soll.
Das Publikum (illuster) defiliert in den Festsaal.
Ich tue es den anderen nach, hebe mein Kleid an und gehe die große Feststiege hinauf, dorthin, wo sich die Tanzsäle befinden. Es gibt an diesem Abend viele davon, 40 Stück.
Ich suche mir ein Plätzchen am Rand den großen Zeremoniensaals.
Die Jungdamen und Jungherren betreten das Parkett. Das Orchester spielt. Links neben mir fällt eine Dame in Ohnmacht.
Das Fest beginnt. Erst marschieren die Jungdamen- und Jungherrenkomitees herein – die Männer in Uniform, die Damen in Weiß. Sie nehmen Aufstellung; es ist ihr großer Tag, man sieht ihnen an, wie zittrig sie sind, wie nervös sie lächeln. Es folgen Amts- und Würdenträger, das Musikkorps spielt. Es geht Schlag auf Schlag, neben mir fällt eine kleine Dame in Ohnmacht, Opernmenschen singen und Profitänzer tanzen. Auch auf dem Parkett sinkt eine der Weißen hernieder. Ein Minister spricht zur Menge, Fotografen machen Bilder, die Jungdamen und -herren eröffnen – in leichter Unterzahl – schließlich den Tanz. Als ich wieder auf die Uhr sehe, sind eineinhalb Stunden vergangen.
Ich bestelle ein Wasser. Es muss ein ganz besonderes Wasser sein, denn die Flasche kostet zwölf Euro. Ich trinke sie sehr langsam. Erst jetzt fallen mir die Jutetaschen auf, die hier und da an der Wand lehnen, Kleidung zuoberst. Wenn der Kellner nicht schaut, langen die Besitzer flink hinein: Eine behende Bewegung, und ihr Glas ist wieder voll. Hier zahlen nur die Laien – und die, die es sich leisten können oder wollen.
Schon kurz darauf wird der Walzer unterbrochen: Es ist zwölf, Andy Lee Lang startet seine Rock’n’Roll Piano Show, eine Big Band spielt auf, der Festsaal swingt. Ich flaniere durch die übrigen Räumlichkeiten. „Marmorsaal“, „Redoutensaal“, „Radetzky-“ und „Maria-Theresia-Appartments“, „Antekammer“, „Trabantenstube“ – so heißen die Säle, in denen gespeist, getrunken und getanzt wird. Einer folgt dem nächsten, zwischendrin Stiegen und Galerien, irgendwo tanzt eine Profi-Formation; der Spaziergang dauert eine ganze Weile. Es ist alles sehr beeindruckend.
Das Damen-Schrammelorchester bittet in einem Nebensaal zum Tanz.
Es ist gegen halb zwei, als ich mich an die große Feststiege stelle und schaue, wer hinauf kommt und hinunter geht: alte Männer mit alten Damen, junge Männer mit jungen Damen und alte Männer ebenfalls mit jungen Damen.
Kretschi gesellt sich zu mir und fragt mich, warum hier wohl so viele Väter mit ihren Töchtern sind.
„Kretschi“, sage ich, „das sind nicht deren Töchter.“
„Meinste?“
„Was glaubst du denn, warum die ihren Töchtern sonst so auf die Brüste starren?“
„Vielleicht haben sie sie lange nicht gesehen und wundern sich, wie groß sie geworden sind.“
Am nächsten Tag werden wir bei einem Wiener Schnitzel feststellen, dass uns allen dieselben Leute aufgefallen sind: die dünne Dunkelhäutige zum Beispiel mit Armen wie Streichhölzern, aber Dingern wie Melonen; die blasse Braunhaarige in dem weißen, berüschten Reifrock und der Sissi-Frisur; der Brite mit der slawischen Schönheit, auf deren Kleid von Nippel zu Nippel eine goldene Kette gespannt ist; das russische Pärchen, das hackedicht im Polkaschritt durch die walzernde Menge galoppiert.
Die Big Band ist fertig, im Zeremoniensaal bittet der Tanzmeister nun zum Contredanse: höfischer Tanz, paarweise. Es wird die Schrittfolge geübt, geknickst und huldvoll genickt. Die Russen tanzen weiter Polka.
Contredanse im Zeremoniensaal.
Gegen drei Uhr ist die Luft ein wenig raus. Noch eine Stunde, bis der Trompeter zum Zapfenstreich bläst. Ich schaue an der Tombola, ob ich etwas gewonnen habe: Es werden ein Schreibtischstuhl verlost, außerdem Rucksäcke und ein Flachbildfernseher. Die Gäste beginnen, die Blumen zu zerlegen; das hat hier Tradition und ist keine schlechte Erziehung, auch wenn es vor den Orchideen vereinzelt zu Gerangel kommt.
Halb vier in der Nacht. Eine Dame rechts zerrupft das Bouquet.
Um vier Uhr ist Schluss. Die Festgesellschaft zerstreut sich. Die Blumen verlassen in den Händen müder Damen das Haus. Männer rufen Taxen. Wem die Füße besonders weh tun, der verlässt das Haus auf Socken.
Im Bett angekommen, schlafe ich, glücklich und berauscht von der Ballnacht, im Dreivierteltakt ein.