Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Ein Ausflug nach Den Haag: Kunst in Öl, Stahl und Silikon – dazu Appeltaart

21. 10. 2024 4 Kommentare Aus der Kategorie »Expeditionen«

Menschen und Meister | Womit beginnen? Vielleicht mit den Menschen aus Fieberglas und Silikon. Oder mit den furchtbar hässlichen Bauten am Strand. Oder mit der Kreuzung vor dem Haus im Statenkwartier, an der sich alles von selbst regelte.

Ach, lassen Sie mich mit den Alten Meistern beginnen. Die hingen im Mauritshuis, dem Adelspalais mit der Königlichen Gemäldegalerie.

Vor den Alten Meistern standen Jungs in der Zentralpubertät: Buzzcut, Sneaker, Goldkettchen, übergroße Sweatshirts. Vor ihnen hingen nicht nur Rembrandt und Vermeer, vor ihnen stand auch der Museumführer, ein Mann in den Dreißigern mit Vokuhila, Schnurrbart, knallbuntem Pulli, volltätowierten Armen und Tunneln in den Ohrläppchen – ein Mann mit Street Credibility bei der Jugend. Er gestikulierte und dirigierte die Gruppe: Die Jungs sollten sich umdrehen und an Teile des Bildes erinnern, sie mussten raten und wurden hineingezogen in die Geschichte einer Leichenschau. Es war nicht weniger als ein kleines Wunder: Die Jungs hörten zu und stellten Fragen. Und der Museumführer erzählte mit dem Tonfall eines Gangsta Rappers und der Leidenschaft eines Kunsthistorikers. The kids are alright, wenn wir uns ein bisschen bemühen.

Tags zuvor waren wir in einem anderen Museum, dem Museum Voorlinden in Wassenaar. Wir fuhren mit dem Fahrrad dorthin: Waassenaar liegt etwa zehn Kilometer von Den Haag entfernt. Der Reiseleiter fuhr mit dem eigenen Rad. Er war mit ihm bis nach Den Haag geradelt – in zwei Tagen, 250 Kilometer. Ob ich auch radlen wolle, hatte er mich Wochen zuvor gefragt. 120 Kilometer radfahren, schön und gut, sagte ich, aber doch nicht zwei Tage hintereinander und nicht im Oktober bei neun Grad. Nein, antwortete ich, das könne er gerne alleine tun. Ich fuhr mit dem Zug.

Weil ich kein eigenes Fahrrad vor Ort hatte, musste ich mir eins mieten. Das mache ich immer ungern, weil ich diesen Körper habe, der lang und unproportional ist, mit viel Bein und einem kurzen Oberkörper. Ich ging zu einem Fahrradverleih, der mir sein größtes, aber dennoch winzig kleines Fahrrad lieh. „Ich komme mir vor wie auf einem dieser Pucky-Kinderräder“, sagte ich, während ich mit Knien an den Ohren hinter dem Reiseleiter durch die Dünen eierte. „So siehst du auch aus“, meinte er aufmunternd und schaltete auf seinem neuen fancy Gravel-Bike einen Gang runter, damit ich hinterherkam.

Das Museum Voorlinden stellt aktuell Ron Mueck aus, dessen Plastiken ich aus Aarhus kannte. Deshalb wollte ich unbedingt nach Voorlinden; die Figuren sind ein einmaliges Erlebnis. Man denkt, sie wollten jederzeit aufstehen und zu leben beginnen; erst würden sie einem zuzwinkern, dann sanft die Finger bewegen, dann sich stöhnend strecken, verspannt vom langen Stillhalten. Alles ist fesselnd an diesen Figuren: die Hände, die Füße, Hautfalten, Muttermale, Alterswarzen und Narben, winzige Haare auf dem Körper, dazu der Blick, die Banalität der Körper, die profanen Erscheinungen jenseits von Schönheitsnormen. Dazu erzählt jede Plastik eine Geschichte. Das Paar unter dem Sonnenschirm zum Beispiel: Warum trägt sie einen Ehering, der sich schon in die Haut eingegraben hat – und er keinen? Geht sie fremd mit ihm? Oder trägt sie den Ring als Andenken an ihren verstorbenen Mann und hat ein schlechtes Gewissen gegenüber dem Toten – jetzt, wo sie sich sachte auf etwas Neues einlässt? Vielleicht sind es auch nur zwei Freunde, die unter dem Schirm sitzen, innig, aber platonisch. Oder gar Bruder und Schwester. Aber warum greift er dann so fest ihren Arm?

Beeindruckend auch Richard Serras Skulptur Open Ended: vier Meter hoch, 18 Meter lang, 216 Tonnen schwer. Man geht hinein und denkt, nach einer Kurve gehe es wieder hinaus. Aber die Skultur windet sich, man wendet sich, ein diffuses Gefühl von Angst kommt auf – und gleichzeitig eine kribbelige Faszination. Wunderbar.

Eine Frau vor eine sehr grißen Skultur von ineinander geschachtelten Eisenwänden

Immer dort: der Swimmig Pool von Leandro Erlich, exklusiv desgint für Voorlinden. Der meist ge-instragrammte Ort des Museums.

Vanessa in einem künstlichen Pool. Es  sieht aus wie unter Wasser

Museum Voorlinden – meine uneingeschränkte Empfehlung (und die Appeltaart im Café ist auch gut).

Von bemerkenswerter Hässlichkeit ist Scheveningen, direkt westlich von Wassenaar. Fragt man ChatGPT, warum das so ist, bekommt man die Antwort:

Es gibt auch viele, die die Strandpromenade und die Aktivitäten dort schätzen. Schönheit liegt oft im Auge des Betrachters! 

Eine KI mit tadelndem Blick, soso. Verhungern tut man dort jedenfalls nicht: Imbisse reihen sich an Restaurants, an Büdchen und an Bars. Wenn man ein Appartment in einem dieser Hochhäuser hat, im zehnten oder zwölften Stock, ist das bestimmt schön: Man hat eine tolle Aussicht aufs Meer – und sieht außerdem man den Betonklotz nicht.

Wir wohnten im Statenkwartier, in komfortabler Radelentfernung zwischen Zentrum und Scheveningen in einem Appartment, in dem ich mich fühlte wie bei Downton Abbey. Genau genommen war es auch kein Appartment, sondern es waren zwei Zimmer in einem Stadthaus. Wir fragten uns, wie hier wohl einst gewohnt wurde: Oben das Personal, darunter die Kinder, im Erdgeschoss die Küche? Wo waren Salon und Bibliothek? Ich muss das gar nicht unbedingt wissen; es war ausreichend, gedanklich die Möglichkeiten durchzuspielen und wie in einem Puppenhaus Möbel und Figuren zu schieben.

Wohnung im Statenkwartier: Wohnraum mit Fensterfron, einem Ledersofa, einem Esstisch und einer Kommode. Es sieht alles sehr nach Anfang des 20. Jahrhunderts aus.

Vor dem Haus befand sich eine Kreuzung: eine Spur Richtung Norden, eine Spur Richtung Süden, dazwischen ein breiter Gründstreifen mit Bäumen, die Straße gepflastert. Von West nach Ost verläuft die Frederik Hendrikslaan, eine Einkaufsstraße mit viel Fahrrad- und etwas Autoverkehr. Auf der Kreuzung war ein munteres Miteinander verschiedener Verkehrsmittel: Autos, Busse und Fahrräder, Lastenräder und Transporter, Fußgänger und Rollerfahrer. Die Grundregel war Rechts vor Links – auf dieser Basis einigte man sich, nickte sich zu, winkte sich durch und achtete einander. In Deutschland hätte man sofort und reflexhaft eine Ampel installiert, eine ordnende Lichtsignalanlage, die das Durcheinander organisiert, zur Sicherheit aller, vorsichtshalber, in jedem Fall regelkonform.

Was auf der Kreuzung vor dem Haus funktionierte, war das Gefühl überall auf den Straßen: Alle sind gleichberechtigt, man achtet sich, ist nachsichtig.

Zum Abschluss noch etwas Herbst.

Allee aus Bäumen, es stehen Bänke am Rand. Der Boden ist voller Laub.

Kaufrausch | In den Niederlanden bin ich zuverlässig Opfer von Buchläden und ihrem hervorragend kuratierten englischsprachigen Sortiment.

Fünf Bücher: Tell Me Everything (Elizabeth Strout), Less is Lost (Andrea Sean Greer), Same as is ever was (Claire Lombardo), The Trouble with Goats and Sheep (Joanna Cannon) und Eligible (Curtis Sittenfeld)

Außerdem mitgebracht: Vanilleskyr. Nicht der von Arla, sondern der isländische.


Gelesen | Adriana Altaras: Besser allein als in schlechter Gesellschaft. Die Geschichte von Tante Jele, die das Konzentrationslager überlebte und später ihren Mann, die ihre norditalienische Schwiegermutter überdauerte, die kein Gehör mehr hat, aber immer einen guten Ratschlag, die in Zagreb aufwuchs und in Mantua lebte. Eine historisches Leben, allerdings etwas verworren erzählt, mit einigen Redundanzen.

Gelesen | Gina Mayer: Die Schwimmerin. Es ist 1962, Betty zieht mit ihrem Mann Martin in eine eigene, kleine Wohnung. Sie gibt die Arbeit auf, Familiengründung steht an. Parallel wird die Bettys Jugend erzählt: der Zweite Weltkrieg, die Flucht aufs Land, das Dasein als Außenseiterin, die erste Liebe. Gerne gelesen.

Gelesen | Jane Campbell: Bei aller Liebe, aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Eine kleine Geschichte über Agnes, ihren Onkel Malcolm und ihren Therapeuten Joseph. Malcolm nimmt sich vor, ein Geheimnis zu lüften. Agnes erholt sich gerade von einer Affäre. Und Joseph freut sich, seine Klientin Agnes wiederzusehen, die ihm einst viel bedeutet hat. Sehr gern gelesen.

Buch "Bei aller Liebe" mit einem eingerollte Igel auf dem Cover neben einem Glas Wein, einer Kerze, Knabberzeug und einem Lesezeichen.

Gesehen | Lee, im Kino in Den Haag. Der Film erzählt das Leben der Fotografin Lee Miller (Kate Winslet), die bei der Befreiung Frankreichs von den Nazis dabei war und die Befreiung der Konzentrationslager Dachau und Buchenwald dokumentierte. Ich kannte Lee Miller vorher nicht. Erhellend und beeindruckend.

Gelesen | Frau Herzbruch wollte ihre Heizung klimafreundlich sanieren und außerdem Wohnraum schaffen – und scheiterte. Jetzt gibt es erstmal eine neue Gastherme.

Gehört | Geschichten aus der Geschichte: Die Erfindung der Lochkarte, die Anfänge der automatisierten Datenverarbeitung und die Gründung von IBM.

Gelesen | Ulrich Stock schreibt darüber, wie seine Tochter erwachsen und selbstständig wird [€] – auf eine Art und Weise, die ihm einiges abverlangt. Habe mich gut amüsiert.

Gelesen | Herr Giardino urlaubt auf der Isle of Mull.


Leser:innenfrage | Eine Frage aus der unverbindlichen Themen-Vorschlagsliste: „Wie wichtig sind Nachbarinnen und Nachbarn?“

Ich kenne keine Studien dazu, deshalb kann ich die Frage nicht grundsätzlich, sondern nur für mich persönlich beantworten. Ich habe gerne Nachbar’innen. Ich hatte schon viele sehr sympathische Menschen neben, unter und über mir wohnen, alte und junge Menschen, Menschen vieler Nationen, darunter auch freundliche Deutsche – Leute, mit denen ich Fußball geschaut habe, die mir geholfen haben, denen ich helfen konnte.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Man muss nicht dick Freunde werden, aber es ist doch wunderbar, wenn man mal eben anklingeln kann, weil Sonntag ist und man ein Päckchen Backpulver braucht oder weil man jemanden sucht, der im Urlaub den Briefkasten leert; jemand, der eventuell weiß, warum auf dem Feld nebenan letztens Vermessungsgeräte standen; jemand, zu dem man rüberlaufen kann, wenn ein Notfall eintritt – und der’die vielleicht sogar so sympathisch ist, dass man zweimal im Jahr eine Limo miteinander trinken mag.

Nachbar’innen zu haben, gibt mir das Gefühl von Zugehörigkeit und Sicherheit.


Schweine | Während der Reiseleiter und ich in den Niederlanden weilten, waren die Schweine in der Obhut meines Vaters und meiner 82-jährigen Tante. Sie – also der Vater und die Tante – hüteten Haus und Stall und nutzten die Zeit, um dem lokalen Handel und der örtlichen Gastronomie Gutes zu tun.

Die Schweine, sie hängen nicht an Personen. Ihre Liebe gilt einzig der Nahrung, nicht der Quelle.

Schwein reckt sich nach oben und hangelt mit geöffnetem Maul nach Kräutern im Topf.

Kommentare

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  1. Klaus sagt:

    Ergänzend: die Vokuhila (ndl.: mat oder matje) ist in Den Haag sehr populär; es gab nicht nur eine Ausstellung im Fotomuseum Den Haag (selbst gewesen), sondern es gibt auch eine gedruckte Dokumentation, den matlas (!), https://www.matlas.nl/

    1. Vanessa sagt:

      Was es nicht alles gibt! Wunderbar. Gelernt: Vokuhila heißt „The Mullet“ und ist Den Haager Tradition. Und: „It symbolizes a healthy dose of resistance to imposed norms in a world of endless, dull conformity.“

  2. Anke sagt:

    Zu Lee Miller gibt es eine wunderbare Doku in der Artemediathek, auch aus der Sicht und vor allem Nachsicht des Sohnes. Sehr versöhnlich sozusagen…

    1. Vanessa sagt:

      Danke für den Hinweis. Das ist ein guter Tipp für die Nachbearbeitung des Gesehenen.

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